Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des Verfügungsberechtigten (§ 35 AO 1977); Darstellung der Ermessensausübung
Leitsatz (NV)
Die Inanspruchnahme des Handlungsbevollmächtigten einer Gesellschaft für deren Umsatzsteuerrückstände ist ermessensfehlerhaft, wenn das FA nicht - spätestens in der Einspruchsentscheidung - kenntlich gemacht hat, aus welchen Gründen nicht der Geschäftsführer der Gesellschaft oder ein mit Prokura ausgestatteter Generalbevollmächtigter als Haftungsschuldner herangezogen wurde.
Normenkette
AO §§ 108-109; AO 1977 §§ 69, 35; FGO § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob das FA den Kläger zu Recht für rückständige Umsatzsteuer 1973 und 1974 der Firma V (V), einer Kapitalgesellschaft ausländischen Rechts, als Haftungsschuldner in Anspruch genommen hat. Alleiniger Geschäftsführer der V war der ausländische Staatsangehörige F. Mit der Leitung einer Niederlassung in K war der im Inland ansässige jugoslawische Staatsangehörige M beauftragt, dem Generalvollmacht und Prokura ,,für den Raum Deutschland" erteilt war. M hatte namens der V den Kläger mit Wirkung vom 1. März 1973 ,,als Zweigniederlassungsleiter der Niederlassung K" angestellt und ihm ,,Handlungsvollmacht zur uneingeschränkten Durchführung aller Geschäfte" erteilt.
Aufgrund einer Steuerfahndungsprüfung ergaben sich bei der V - nach Abzug geleisteter Vorauszahlungen - für die Jahre 1973 und 1974 Umsatzsteuerrückstände von 129 058,34 DM bzw. 133 102,20 DM, für die das FA den Kläger gemäß §§ 103, 108, 109 AO als Haftungsschuldner in Anspruch nahm. In der zu dem Haftungsbescheid ergangenen Einspruchsentscheidung ist ausgeführt, die Inanspruchnahme des Klägers sei auch nicht ermessensfehlerhaft, da es sich bei ihm ,,nicht um einen unmaßgeblichen Geschäftsführer" gehandelt habe. Dem Kläger sei aus diesen Gründen auch nicht darzutun, warum das FA nicht oder ob es überhaupt an einen anderen möglichen Haftungsschuldner herangetreten sei.
Die mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids erhobene Klage hat das FG abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger sei in den Jahren 1973 und 1974 für die V als Bevollmächtigter i.S. des § 108 AO tätig geworden und hätte in diesem Zeitraum die steuerlichen Pflichten eines gesetzlichen Vertreters der V zu erfüllen gehabt (§ 103 AO).
Soweit die V im Inland am allgemeinen Wirtschaftsleben teilgenommen habe, sei der Kläger für sie aufgetreten. Er habe Handelsgeschäfte für die V getätigt, insbesondere Aufträge hereingeholt und diese bis zur Rechnungserteilung abgewickelt, Arbeiter eingestellt und Unkosten beglichen. Neben den im allgemeinen Geschäftsverkehr anfallenden Aufgaben sei vom Kläger auch die für die V erforderliche Vertretung bei Behörden wahrgenommen worden. Er habe für die V sog. steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen beim FA beantragt, Steuerzahlungen über Bankkonto angewiesen und die Lohnsteuervoranmeldungen für die Monate Februar 1973 bis Juli 1975 sowie die Umsatzsteuervoranmeldungen für die Monate Februar, März und Dezember 1973 für die V unterzeichnet. Der Kläger habe somit für die V im allgemeinen Wirtschaftsleben bedeutende Aufgaben und gegenüber dem FA wesentliche steuerliche Pflichten übernommen. Durch sein Auftreten im Wirtschaftsleben und durch seine Erledigung der steuerlichen Pflichten für die V sei vom Kläger gegenüber dem FA der Anschein erweckt worden, daß er insgesamt die der V im Inland obliegenden steuerlichen Pflichten übernommen habe. Aufgrund seines tatsächlichen Auftretens sei er gemäß § 108 AO einem gesetzlichen Vertreter der V i.S. des § 103 AO gleichzustellen.
Das FA habe den Kläger auch zu Recht gemäß § 118 AO in Anspruch genommen. Zwar lasse sich weder dem Haftungsbescheid noch der Einspruchsentscheidung entnehmen, welche Gründe bei der nach § 118 AO zu treffenden Ermessensentscheidung maßgeblich gewesen seien. Bei dem Ausmaß des Verschuldens des Klägers - dem eine grob fahrlässige Pflichtverletzung anzulasten sei - und bei seiner Stellung als Bevollmächtigter der V habe einer Ermessenseinengung vorgelegen. Es könne daher davon ausgegangen werden, daß das FA entsprechend der Ermessenseinengung von seinem Ermessen stillschweigend sachgerecht Gebrauch gemacht habe.
Mit der Revision verfolgt der Kläger das Klagebegehren weiter. Er rügt unrichtige Anwendung von §§ 118, 108, 103 AO. Entgegen der Auffassung des FG sei der Kläger nicht als Bevollmächtigter oder Verfügungsberechtigter der V im Inland aufgetreten. Insbesondere gegenüber dem FA könne von einem solchen Auftreten keine Rede sein, nachdem auf den Kontokarten des FA für die V nicht der Kläger, sondern der Generalbevollmächtigte M als Bevollmächtigter und Zustellungsvertreter angegeben gewesen sei. Es fehle somit bereits an den gesetzlichen Voraussetzungen des § 108 AO. Unabhängig hiervon sei die Ermessensausübung des FA nicht in Ordnung. Angesichts der untergeordneten Stellung des Klägers in der V - lediglich als Handlungsbevollmächtigter - hätten in erster Linie die Herren F und M in Anspruch genommen werden müssen. Der Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung ließen jeden Hinweis vermissen, warum dies nicht geschehen sei.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Bei der rechtlichen Beurteilung ist das FG an sich zutreffend davon ausgegangen, daß es sich bei der Inanspruchnahme eines nach §§ 103, 108, 109 AO Haftenden um eine nach § 118 AO zu treffende Ermessensentscheidung handelt, die nach § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. Urteil des BFH vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und Urteil des erkennenden Senats vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung, begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - hier die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493).
Auf der Grundlage dieser Erwägungen ist die Ausübung des Verwaltungsermessens im Streitfall mindestens nicht hinreichend kenntlich gemacht. Da der Kläger - anders als vom FA im Haftungsbescheid und der Einspruchsentscheidung offenbar teilweise unterstellt - nicht Geschäftsführer der V gewesen war, hat das FG die Inanspruchnahme ausschließlich auf die Haftung des Bevollmächtigten oder Verfügungsberechtigten (§ 108 AO) gestützt. Diese Vorschrift ist nur als Ergänzungstatbestand zu dem Grundtatbestand der Geschäftsführerhaftung (§§ 103, 105, 109 AO) zu verstehen, kommt also nur dann zur Anwendung, wenn nicht bereits die letztere eingreift (vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Rdnr. 4 zu § 35 AO 1977; Koch, Abgabenordnung - AO 1977, Anm. 2 zu § 35; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Tz. 1 zu § 35 AO 1977). Da der Kläger nur Handlungsbevollmächtigter der V gewesen ist, hätte bei Anwendung von § 108 AO auf jeden Fall dazu Stellung genommen werden müssen, aus welchem Grund nicht der Geschäftsführer der Gesellschaft, F, und - des weiteren - nicht der mit Prokura ausgestattete Generalbevollmächtigte M als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wurden. Das ist nicht geschehen. Statt dessen heißt es in der Einspruchsentscheidung lediglich, es habe sich bei dem Kläger nicht um einen unmaßgeblichen Geschäftsführer gehandelt. Dies reicht schon deshalb nicht aus, weil die Haftung im Haftungsbescheid nicht nur auf den hier nicht anwendbaren § 103 AO, sondern auch auf § 108 AO gestützt ist.
Die sonach unzureichende Ermessensausübung der Verwaltung konnte das FG nicht nachträglich mit der Erwägung korrigieren, daß der Kläger grob fahrlässig gehandelt habe und deshalb eine Ermessenseinengung vorliege. Denn für eine grob fahrlässige Handlungsweise ergibt sich aus der Einspruchsentscheidung kein hinreichender Anhaltspunkt.
Unter Aufhebung der Vorentscheidung ist somit der Haftungsbescheid vom 5. Februar 1976 in Form der Einspruchsentscheidung vom 21. April 1977 aufzuheben.
Fundstellen