Entscheidungsstichwort (Thema)
Inventarverzeichnis. Vollständige Aufnahme der bilanzierten Bestände. Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
Leitsatz (amtlich)
Das nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung aufzustellende Inventar muß den Nachweis darüber ermöglichen, daß die bilanzierten Bestände vollständig aufgenommen worden sind. Läßt sich im Einzelfall auf Grund einander widersprechender Inventurunterlagen das Ausmaß der nicht oder nicht richtig in die Bilanz aufgenommenen Bestände nicht erkennen, so fehlt es an einem ordnungsmäßigen Inventar.
Normenkette
EStG §§ 10d, 5, 4 Abs. 1; HGB § 39 Abs. 1-2
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin ist eine - inzwischen in Liquidation getretene - GmbH, die sich im Streitjahr 1966 mit der Herstellung und dem Vertrieb von Tiefkühlkost befaßte. Bei ihrer Körperschaftsteuerveranlagung für das Streitjahr 1966 beantragte die Klägerin, einen Teil ihres im Vorjahr erlittenen Verlustes nach § 6 Abs. 1 KStG in Verbindung mit § 10d EStG zum Abzug zuzulassen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) versagte der Klägerin den Verlustabzug, weil nach seiner Auffassung der für das Jahr 1965 angesetzte Verlust nicht auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt worden sei. Das FA stützt seine Auffassung auf Feststellungen, die bei einer im Jahre 1967 bei der Klägerin durchgeführten Betriebsprüfung gemacht wurden.
Hiernach führte die Klägerin im Jahre 1965 den mengenmäßigen Bestandsnachweis für ihre Waren in der Weise, daß sie die Bestände in einer nach Warenarten gegliederten Kartei festhielt; aus der Kartei sollten sich der Anfangsbestand, die Zu- und Abgänge sowie der Endbestand ergeben. Die nach den Karteikarten zum 31. Dezember 1965 errechneten Bestände wurden von der Klägerin bewertet und in die Handelsbilanz zum 31. Dezember 1965 übernommen.
Bei einer ebenfalls zum 31. Dezember 1965 durchgeführten körperlichen Bestandsaufnahme ergab sich, daß die tatsächlich ermittelten Bestände zum Teil erheblich von den karteimäßig ermittelten Beständen abwichen.
Bei den Warenarten, bei denen die Klägerin größere Abweichungen festgestellt hatte (Spinat, Grünkohl, Rosenkohl, Kohlrabi und Erbsen) führte sie am 19. Februar 1966 eine weitere körperliche Bestandsaufnahme durch. Durch Zurückrechnung der hierbei ermittelten Bestände auf den Bestand am 31. Dezember 1965 ergaben sich gegenüber den karteimäßig ermittelten Mengen wiederum andere Abweichungen:
Die Klägerin glich ihre Kartei hinsichtlich der Warenposten Kohlrabi und Erbsen an diese zweite Bestandsaufnahme an. Für den Warenposten Spinat erfolgte dagegen keine Angleichung auf den Jahresabschlußzeitpunkt; für diesen Posten wurde vielmehr zum 28. Februar 1966 ein Minderbestand von 2 655 kg in die Kartei eingebucht. Von einer vollen Angleichung wurde nach Aussage des Prokuristen der Klägerin abgesehen, da für die Richtigkeit der zweiten Bestandsaufnahme keine Gewähr gegeben sei. Die Klägerin verwertete auch die Zahlen der Bestandsaufnahme vom 31. Dezember 1965 nicht.
Die Bestandsaufnahme zum 31. Dezember 1965 ist lediglich in Bleistift erstellt worden. Die einzelnen Seiten sind nicht numeriert, enthalten kein Datum und sind nicht unterschrieben.
Der gegen den Körperschaftsteuerbescheid vom 3. Oktober 1967 erhobene Einspruch hatte keinen Erfolg; auch die Klage wurde abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung führt das FG aus:
Die von der Klägerin auf den 31. Dezember 1965 durchgeführte Inventur könne nicht als ordnungsmäßig angesehen werden. Die Mangelhaftigkeit der Bestandsaufnahme zum 31. Dezember 1965 ergebe sich schon aus der Tatsache, daß für die Richtigkeit der ausgewiesenen Zahlenwerte keine stichhaltigen Beweise erbracht werden könnten. Auf Beweise könnte jedoch nicht verzichtet werden, da die Beweiskraft der Bestandsaufnahme vom 31. Dezember 1965 durch die Ermittlungen der zweiten Bestandsaufnahme vom 19. Februar 1966 erschüttert worden sei. Die Klägerin könne nicht damit gehört werden, daß für die Richtigkeit der Bestandsaufnahme vom 19. Februar 1966 keine Gewähr gegeben sei, nachdem sie ihre Kartei für die Warensorten Kohlrabi und Erbsen voll an diese Bestandsaufnahme angeglichen habe, während sie die Ergebnisse der Bestandsaufnahme vom 31. Dezember 1965 in ihrer Kartei völlig unberücksichtigt gelassen habe. Aus der Verhaltensweise der Klägerin sei zu schließen, daß sie hinsichtlich der Richtigkeit der bei der Bestandsaufnahme zum 31. Dezember 1965 ermittelten Werte Zweifel hatte. Da die Widersprüchlichkeit zwischen den Zahlenwerten der ersten und der zweiten Bestandsaufnahme nicht habe aufgeklärt werden können, sei auch das Ausmaß der nicht in die Bilanz aufgenommenen Bestände nicht erkennbar. Demgegenüber könne nicht eingewendet werden, daß die bei der Bestandsaufnahme zum 31. Dezember 1965 gegenüber der Kartei ermittelte Mengendifferenz nur geringfügig sei, weil sie wertmäßig nur 1,4 v. H. des zum 31. Dezember 1965 mit 226 965 DM ausgewiesenen Lagerbestands betrage. Das FA sei zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß die Bestandsaufnahme zum 31. Dezember 1965 keine Gewähr für die vollständige Erfassung der zu diesem Zeitpunkt tatsächlich vorhandenen Bestände biete. Daran werde auch nichts durch den Umstand geändert, daß das FA bei der Veranlagung der Klägerin zur Körperschaftsteuer den von ihr erklärten Verlust von 76 999 DM unverändert übernommen habe.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts und Verstöße gegen den Inhalt der Akten. Es sei unrichtig, daß der Warenbestand am 31. Dezember 1965 nicht ordnungsgemäß habe ermittelt werden können. Sie - die Klägerin - führe eine ordnungsgemäße Kartei, so daß es gar nicht notwendig gewesen sei, die Warenbestände am 31. Dezember 1965 aufzunehmen. Es genüge, daß der Warenbestand zu irgendeinem anderen Zeitpunkt im Laufe des Wirtschaftsjahrs aufgenommen werde. Es sei dann ohne weiteres möglich, durch eine entsprechende Rückrechnung die Bestände genau zu ermitteln.
Die im Streitfall aufgetretenen Bestandsdifferenzen seien nur geringfügig. Solche geringfügigen Unrichtigkeiten beeinflußten den Wert der Bestandsaufnahme nicht. Bei der Produktion von Tiefkühlkost seien immer Differenzen durch Verderb, Schwund usw. möglich; solche Differenzen kämen auch in anderen Gewerbebetrieben vor. Der Beurteilung des Streitfalls müßten die neuen EStR zugrunde gelegt werden; diese stellten keine so strengen Anforderungen mehr an das kaufmännische Rechnungswesen. Im übrigen müsse bei der Entscheidung berücksichtigt werden, daß auch der Betriebsprüfer bei der Gewinnermittlung von den Ergebnissen der Buchführung ausgegangen sei.
Die Klägerin rügt schließlich, daß bei der Ermittlung der Einkünfte keine Gewerbesteuerrückstellung gebildet worden sei.
Die Klägerin beantragt, das Urteil der Vorinstanz, die Einspruchsentscheidung und den Bescheid vom 3. Oktober 1967 aufzuheben und die Körperschaftsteuer auf 0 DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist unbegründet.
Für den Abzug der in vorangegangenen Veranlagungszeiträumen aufgetretenen Verluste bei der Veranlagung zur Körperschaftsteuer ist Voraussetzung, daß die Verluste auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt worden sind (vgl. § 6 Abs. 1 KStG in Verbindung mit § 10d EStG; Urteil des BFH I R 60/70 vom 15. März 1972, BFH 105, 138 BStBl II 1972, 488).
Eine Buchführung ist nur ordnungsmäßig, wenn sie den handelsrechtlichen Vorschriften entspricht. Danach hat ein Kaufmann nach § 39 Abs. 1 und 2 HGB für den Schluß eines jeden Geschäftsjahres ein Inventar aufzustellen, in welchem seine Vermögensgegenstände genau bezeichnet sind. Welche Anforderungen an ein Inventar und an die ihm zugrunde liegenden Belege zu stellen sind, ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Die Rechtsgrundsätze, die bei einer Inventur zu beachten sind, ergeben sich indessen aus dem Zweck des Inventars, einen Nachweis darüber zu erbringen oder mindestens zu ermöglichen, daß die bilanzierten Bestände vollständig aufgenommen worden sind. Die Inventurunterlagen müssen eine angemessene Kontrolle ermöglichen (BFH-Urteil I R 141/68 vom 24. November 1971, BFH 104, 414, BStBl II 1972, 400).
In der Regel ist der Bestand durch eine körperliche Aufnahme zu ermitteln. Es entspricht aber auch kaufmännischen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung, wenn eine sogenannte permanente Inventur durchgeführt wird (BFH-Urteil VI 206/65 vom 11. November 1966, BFH 87, 297, BStBl III 1967, 113). Für den Zeitraum ab 3. August 1965 ist diese Art der Bestandsaufnahme auch kraft Gesetzes ausdrücklich anerkannt; vgl. § 39 Abs. 3 HGB in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des HGB und der AO vom 2. August 1965 (BGBl I 1965, 655). Das Wesen der permanenten Inventur besteht darin, daß ein am Bilanzstichtag vorhandener buchmäßiger Bestand (Sollbestand) an Wirtschaftsgütern ohne gleichzeitige körperliche Bestandsaufnahme als tatsächlicher Bestand (Istbestand) angenommen wird, wobei jedoch vorausgesetzt wird, daß mindestens einmal in jedem Wirtschaftsjahr durch körperliche Bestandsaufnahme geprüft wird, ob das in den Lagerbüchern oder Karteien ausgewiesene Vermögen mit den tatsächlichen Beständen übereinstimmt (BFH-Urteil VI 206/65, a. a. O.). Über die Durchführung und das Ergebnis der körperlichen Bestandsaufnahme müssen Aufzeichnungen angefertigt werden, die unter Angabe des Zeitpunktes der Aufnahme von den aufnehmenden Personen zu unterzeichnen sind (BFH-Urteil I R 141/68, a. a. O.).
Im Streitfall ist diesen Grundsätzen nicht entsprochen worden. Die Klägerin hat weder die Voraussetzungen einer ordentlichen Stichtagsinventur (per 31. Dezember 1965) noch die einer permanenten Inventur erfüllt.
Das ergibt sich vor allem daraus, daß die von der Klägerin am 31. Dezember 1965 und am 19. Februar 1966 aufgenommenen Inventare nicht beweiskräftig sind. Die Klägerin hat es unterlassen, auf Grund der körperlichen Bestandsaufnahme am 31. Dezember 1965 ihre Lagerbuchhaltung fortzuschreiben, da sie hinsichtlich der bei der Inventur ermittelten Ergebnisse selbst Zweifel hatte. Auch die zweite Bestandsaufnahme am 19. Februar 1966 führte nur zu einer teilweisen Übernahme der bei der Bestandsaufnahme ermittelten Ergebnisse in die Kartei; auch insoweit bestand - wie nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des FG der Prokurist der Klägerin erklärt hat - für die Richtigkeit der Bestandsaufnahme keine Gewähr. Die Ergebnisse der beiden Bestandsaufnahmen stehen in nicht unerheblichem Widerspruch zueinander, ohne daß die Möglichkeit einer Aufklärung besteht.
Darüber hinaus fehlt es dem von der Klägerin am 31. Dezember 1965 angefertigten Inventar aber auch noch an den für eine ordnungsgemäße körperliche Bestandsaufnahme gebotenen förmlichen Voraussetzungen. Die - in Bleistift aufgenommenen - Aufzeichnungen enthalten weder die Angabe des Zeitpunktes der Aufnahme noch die Unterschrift der aufnehmenden Person.
Was die Schwere der vorliegenden Mängel anbelangt, so spielt die Frage, ob es sich insoweit um "Systemfehler" gehandelt hat, für die Entscheidung keine Rolle. Als Kriterium für die Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit einer Buchführung ist der Begriff des "Systemfehlers" von der Rechtsprechung des BFH aufgegeben worden (vgl. BFH-Urteil IV R 57/67 vom 31. Juli 1969, BFH 97, 246, BStBl II 1970, 125; I R 60/70, a. a. O.). Es kommt somit nicht mehr auf die formale Bedeutung, sondern auf das sachliche Gewicht eines Mangels an. Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Frage zu, ob trotz des Mangels die Nachprüfung der vom Steuerpflichtigen angesetzten Werte innerhalb einer angemessenen Frist möglich ist. Im Streitfall bestand auf Grund der Widersprüche in den einzelnen Inventaren keine Möglichkeit einer Nachprüfung. Das Ausmaß der nicht oder nicht richtig in die Bilanz aufgenommenen Bestände läßt sich nicht erkennen. Insoweit greift auch der Hinweis der Klägerin auf die vermeintliche Geringfügigkeit der Bestandsdifferenzen nicht durch.
Der Umstand, daß das FA die von der Klägerin bilanzierten Warenposten im Sinne einer eigenen Schätzung betragsmäßig unverändert der Besteuerung zugrunde gelegt hat, hat auf die Beurteilung der Buchführung als nicht ordnungsmäßig keinen Einfluß (vgl. BFH-Urteile VI 313/65 vom 25. März 1966, BFH 86, 301, BStBl III 1966, 487; IV R 57/67, a. a. O.; BFH-Beschluß I B 6/71 vom 23. Juni 1971, BFH 102, 517, BStBl II 1971, 709).
Die Behauptung der Klägerin, das FA habe für die - auf Grund der Versagung des Verlustabzugs erhöhte - Gewerbesteuer 1966 keine Rückstellung gebildet, ist unzutreffend; wie sich aus dem Bescheid vom 3. Oktober 1967 ergibt, wurde die Gewerbesteuerrückstellung um 4 400 DM erhöht.
Fundstellen
Haufe-Index 70260 |
BStBl II 1973, 114 |
BFHE 1973, 371 |