Leitsatz (amtlich)
1. Zur Frage der Adressierung eines Umsatzsteuerbescheids.
2. Ein Rechtsbehelf gegen einen nichtigen Verwaltungsakt braucht nicht innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts eingelegt zu werden.
Orientierungssatz
1. Gibt ein Umsatzsteuerbescheid im Zusammenhang mit der Abrechnung und dem in Bezug genommenen Steuerfahndungsbericht (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 22.8.1983 IV B 35/83) nicht unzweideutig und widerspruchslos Aufschluß darüber, ob das FA den Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft selbst als Steuerschuldner oder als Bekanntgabeempfänger der als Steuerschuldnerin anzusehenden Gesellschaft bezeichnet hat, so ist der Steuerbescheid mangels hinreichender Bestimmtheit nichtig.
2. Wird die Nichtigkeit eines Steuerbescheids im Rahmen einer --aus anderen Gründen erhobenen-- Anfechtungsklage erst durch das FG oder im Revisionsverfahren durch den BFH angenommen, so ist der nichtige Bescheid zur Beseitigung des Scheins der Rechtswirksamkeit nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben (vgl. BFH-Urteil vom 7.8.1985 I R 309/82).
3. Der BFH muß über das Revisionsverfahren durch Urteil entscheiden, wenn das FA der Erledigungserklärung durch den Kläger widersprochen hat. Liegt eine Erledigung vor, so ist das Urteil des FG wirkungslos. Im Streitfall war die Hauptsache erledigt, weil das gesamte im Klageantrag zum Ausdruck kommende, in dem Verfahren streitige Klagebegehren in der Sache selbst durch Feststellung der Nichtigkeit des Steuerbescheids durch das FA gegenstandslos geworden war (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 1, § 157 Abs. 1, §§ 355, 119 Abs. 1, § 34 Abs. 2 S. 2, § 125 Abs. 1; FGO § 100 Abs. 1 S. 1, §§ 138, 42 Abs. 1
Tatbestand
I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) sah den Kläger und Revisionskläger (Kläger) als Mitglied einer Bande an, die gewerbsmäßig Kaffee, Tabak und Spirituosen von Luxemburg in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) schmuggelte und hier verkaufte. Das FA beurteilte die Bande als Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GdbR) und hielt den Kläger für ihren "Zustellungsvertreter". Nach den Ermittlungen des Steuerfahndungsdienstes --dargestellt in dem Steuerfahndungsbericht vom 16.Februar 1984-- schuldete die Bande für 1982 87 318 DM und für 1983 52 391 DM Umsatzsteuer.
Durch Steuerbescheide vom 1.Juni 1984 an "Herrn J. zur Zeit Justizvollzugsanstalt Z." setzte das FA für 1982 87 318 DM und für 1983 52 391 DM Umsatzsteuer fest. Das FA verwies in den Steuerbescheiden auf den Bericht der Steuerfahndung. An die Steuerbescheide angeheftet war eine an die "BGB-Gesellschaft J. u.a." gerichtete Abrechnung über die für 1982 und für 1983 festgesetzte Umsatzsteuer.
Der Kläger --vertreten durch seinen Prozeßbevollmächtigten-- legte gegen die durch die Post übermittelten Steuerbescheide vom 1.Juni 1984 am 27.Juli 1984 Einspruch ein und beantragte wegen der Versäumung der Einspruchsfrist mit einem am 29.August 1984 bei dem FA eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er wies zur Begründung darauf hin, daß er die Steuerbescheide für 1982 und 1983 vom 1.Juni 1984 nach Erhalt in der Justizvollzugsanstalt umgehend mit der Post zur Kanzlei seines jetzigen Prozeßbevollmächtigten abgesandt habe. Dort seien sie aber ohne sein Verschulden erst am 19.Juli 1984 eingegangen. Der Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung des FA vom 11.Oktober 1984 als unzulässig verworfen.
Der Kläger beantragte mit der fristgerecht erhobenen Klage, die Umsatzsteuerbescheide 1982 und 1983 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung aufzuheben. Im finanzgerichtlichen Verfahren wies der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) in einer an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers gerichteten Verfügung vom 1.April 1985 auf die Möglichkeit hin, für den Fall, daß die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide unter einem Adressierungsmangel leiden sollten, statt der fristgebundenen Anfechtungsklage eine Nichtigkeitsfeststellungsklage i.S. von § 41 Abs.2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu erheben. Darauf ging der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in dem Antwortschreiben nicht ein.
Das FG wies die Klage gegen die seiner Ansicht nach nichtigen Umsatzsteuerbescheide 1982 und 1983 ab. Die Umsatzsteuerbescheide seien nichtig, weil nicht mit hinreichender Bestimmtheit zu erkennen sei, ob sie gegen den Kläger als Steuerschuldner gerichtet oder nur gegen ihn als Zustellungsvertreter der BGB-Gesellschaft (Schmugglerbande) adressiert worden seien. Gleichwohl sei die Klage nicht begründet, weil der Kläger trotz eines ausdrücklichen Hinweises keine Nichtigkeitsfeststellungsklage i.S. von § 41 Abs.2 Satz 2 FGO erhoben, sondern es bei der ursprünglichen Anfechtungsklage belassen habe. Bei einer Anfechtungsklage gegen einen nichtigen Verwaltungsakt müsse die Klagefrist des § 47 FGO gewahrt werden. Außerdem müsse die einmonatige Einspruchsfrist nach § 355 der Abgabenordnung (AO 1977) eingehalten werden. Diese Rechtsbehelfsfrist habe der Kläger schuldhaft versäumt. Er habe sich die Umsatzsteuerbescheide durchlesen und entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung Einspruch ohne Hilfe des Sozialdienstes der Justizvollzugsanstalt oder eines Rechtsanwalts einlegen können.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß er die Einspruchsfrist nicht schuldhaft versäumt habe. Ihm habe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen, weil er nach Erhalt der Einspruchsentscheidung alles ihm zumutbare unternommen habe, um rechtzeitig Einspruch einzulegen. Die Umsatzsteuerbescheide seien --wie in dem finanzgerichtlichen Urteil richtig ausgeführt werde-- nichtig.
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 13.Juni 1985 3 K 305/84 sowie die Umsatzsteuerbescheide 1982 und 1983 vom 1.Juni 1984 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung des FA vom 11.Oktober 1984 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Mit Bescheid vom 5.März 1986 hat das FA die Nichtigkeit des Umsatzsteuerbescheides 1982 vom 1.Juni 1984 gemäß § 125 Abs.5 AO 1977 festgestellt. Insoweit hat der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, dem FA die anteiligen Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Das FA hat die Erledigung bestritten. Die Hauptsache sei nicht erledigt, weil Gegenstand der Anfechtungsklage und der Revision allein die Einspruchsentscheidung vom 11.Oktober 1984 sei, mit der der Einspruch des Klägers als unzulässig verworfen worden sei.
Entscheidungsgründe
II. 1. Umsatzsteuer für 1982
Die Vorentscheidung ist, soweit sie die Umsatzsteuer 1982 betrifft, wirkungslos geworden, weil der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist.
a) Der Senat muß über das Verfahren wegen Umsatzsteuer 1982 durch Urteil entscheiden, weil das FA der Erledigungserklärung durch den Kläger widersprochen hat (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24.Oktober 1984 II R 30/81, BFHE 142, 357, BStBl II 1985, 218).
b) Die Hauptsache ist erledigt.
Eine Erledigung liegt vor, wenn das gesamte im Klageantrag zum Ausdruck kommende, in dem Verfahren streitige Klagebegehren in der Sache selbst gegenstandslos geworden ist (BFH-Beschluß vom 5.März 1979 GrS 4/78, BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375).
Das FA hat durch Feststellung der Nichtigkeit des Umsatzsteuerbescheids 1982 vom 1.Juni 1984 im Bescheid vom 5.März 1986 den von diesem Bescheid ausgehenden Rechtsschein einer wirksamen Steuerfestsetzung beseitigt. Das auf Aufhebung des Umsatzsteuerbescheids 1982 gerichtete Klagebegehren ist damit gegenstandslos geworden.
c) Das Urteil des FG ist insoweit wirkungslos (Urteil in BFHE 142, 357, BStBl II 1985, 218).
2. Umsatzsteuer für 1983
Die Vorentscheidung kann, soweit sie die Umsatzsteuer 1983 betrifft, keinen Bestand haben, weil das FG zwar zutreffend den Umsatzsteuerbescheid 1983 für nichtig gehalten, den davon ausgehenden Rechtsschein aber nicht formell aufgehoben hat.
a) Der angefochtene Umsatzsteuerbescheid 1983 vom 1.Juni 1984 war --wie das FG zu Recht angenommen hat-- nichtig (§ 125 Abs.1 AO 1977). Er war hinsichtlich des Adressaten (§ 122 Abs.1 AO 1977) nicht hinreichend bestimmt (§ 119 Abs.1 AO 1977). Aus dem Steuerbescheid im Zusammenhang mit der ihm beigefügten Abrechnung war nicht zweifelsfrei ersichtlich, ob das FA die Umsatzsteuerfestsetzung dem Kläger als Steuerschuldner (§ 157 Abs.1 Satz 2 AO 1977) oder als Bekanntgabeempfänger für einen anderen Steuerschuldner bekanntgeben wollte.
Zweifel über den Inhalt eines Steuerbescheids können durch Auslegung behoben werden. Zur Auslegung eines Steuerbescheids wegen eines nicht eindeutig bestimmten Steuerschuldners dürfen auch Erläuterungen aus einem dem Steuerbescheid beigefügten Bericht der Steuerfahndung herangezogen werden (BFH-Beschluß vom 22.August 1983 IV B 35/83, nicht veröffentlicht); Entsprechendes gilt, wenn in einem Steuerbescheid auf einen Steuerfahndungsbericht verwiesen wird.
Die Ausführungen in dem Bericht der Steuerfahndung vom 16.Februar 1984, auf den im Umsatzsteuerbescheid 1983 verwiesen wurde, beseitigen aber keine Zweifel, wer als Steuerschuldner für die festgesetzte Umsatzsteuer 1983 in Anspruch genommen werden sollte, sondern verstärken sie. Einerseits wird der Kläger im Anschriftenfeld des Bescheids aufgeführt und dadurch der Eindruck erweckt, das FA wolle ihn als Steuerschuldner beanspruchen. Andererseits wird in dem Steuerfahndungsbericht ausgeführt, das Handeln der einzelnen Beteiligten (des Klägers und weiterer neun Beteiligter) sei "steuerlich unter der Rechtsform einer BGB-Gesellschaft zu würdigen". Als "Zustellungsvertreter" sei der Kläger zu betrachten, der sich in der Justizvollzugsanstalt Z. befinde. Sowohl der Prüfungsbericht als auch die Steuerbescheide seien nach dort zu übersenden. Demgegenüber ist die Abrechnung über die Umsatzsteuer 1983 an eine BGB-Gesellschaft gerichtet und der Kläger wie ein Gesellschafter aufgeführt worden. Somit gibt der Umsatzsteuerbescheid für 1983 vom 1.Juni 1984 im Zusammenhang mit der Abrechnung und dem in Bezug genommenen Steuerfahndungsbericht nicht unzweideutig und widerspruchslos Aufschluß darüber, ob das FA den Kläger selbst als Steuerschuldner (§ 157 Abs.1 Satz 2 AO 1977) oder nur als Bekanntgabeempfänger (§ 122 Abs.1 Satz 2 i.V.m. § 34 Abs.2 Satz 2 AO 1977) der als Steuerschuldnerin angesehenen BGB-Gesellschaft bezeichnet hat. Ein Steuerbescheid, der nicht mit der hinreichenden Bestimmtheit angibt, wer die Steuer schuldet, ist nichtig i.S. von § 125 Abs.1 AO 1977.
b) Das FG durfte die Klage gegen den nichtigen Umsatzsteuerbescheid 1983 nicht wegen Versäumung der Einspruchsfrist abweisen.
Wird die Nichtigkeit eines Steuerbescheids im Rahmen einer --aus anderen Gründen erhobenen-- Anfechtungsklage erst durch das FG oder im Revisionsverfahren durch den BFH angenommen, so ist der nichtige Bescheid zur Beseitigung des Scheins der Rechtswirksamkeit nach § 100 Abs.1 Satz 1 FGO aufzuheben (vgl. BFH-Urteil vom 7.August 1985 I R 309/82, BFHE 145, 7, BStBl II 1986, 42). Dem steht nicht entgegen, daß die Anfechtung dieses Bescheids mit dem Einspruch nach Ablauf der Einspruchsfrist erfolgte. Der vom Gericht als nichtig aufzuhebende Bescheid konnte keine Rechtswirkungen nach §§ 355, 358 AO 1977 haben. Die Rechtsbehelfsfrist des § 355 Abs.1 Satz 1 AO 1977 braucht dafür nicht gewahrt zu werden.
c) Die Vorentscheidung, die auf anderen Rechtsüberlegungen beruht, war aufzuheben. Der Senat kann selbst entscheiden. Auf die Klage hin sind der Umsatzsteuerbescheid 1983 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 61439 |
BStBl II 1986, 834 |
BFHE 147, 211 |
BFHE 1987, 211 |
DB 1987, 142-143 (ST) |
HFR 1986, 619-620 (ST) |