Leitsatz (amtlich)
1. Ein Arzt mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, der daneben selbständig laufend ärztliche Gutachten über den Gesundheitszustand der von ihm untersuchten Personen für Versicherungen und Gerichte erstellt, übt damit eine nach § 34 Abs. 4 EStG nicht begünstigte typische praktische Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG auch dann aus, wenn er keine eigene eingerichtete Arztpraxis besitzt.
2. Ein Arzt mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, der daneben in selbständiger Arbeit aus besonderem Anlaß nach wissenschaftlicher Methode einzelne medizinische Gutachten auf seinem Fachgebiet verfaßt, kann für die dafür bezogenen Einkünfte - ebenso wie bei anderen wissenschaftlichen Arbeiten - die Tarifvergünstigung des § 34 Abs. 4 EStG beanspruchen.
Normenkette
EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1, § 34 Abs. 4
Tatbestand
Der Kläger war in den Streitjahren angestellter Arzt an einer Universitätsklinik. Seine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit betrugen 1972 50 994 DM und 1973 78 680 DM. Die daneben bezogenen Einkünfte aus der selbständigen Gutachtertätigkeit betrugen 1972 29 180 DM und 1973 52 573 DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) versagte bei den Einkommensteuerveranlagungen und im Einspruchsverfahren für die Einkünfte aus der Gutachtertätigkeit die Tarifbegünstigung des § 34 Abs. 4 EStG mit der Begründung, mit der Gutachtertätigkeit übe der Kläger eine praktische Berufsarbeit i. S. der in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführten "Katalogberufe" aus.
Auch die Klage hatte keinen Erfolg. Zur Begründung führte das FG im wesentlichen aus: Auf die Einkünfte des Klägers aus der Gutachtertätigkeit könne der ermäßigte Steuersatz nach § 34 Abs. 4 EStG nicht angewandt werden, weil diese das Erfordernis der Wissenschaftlichkeit nicht erfülle. Wissenschaftlich sei an sich eine Tätigkeit, die schwierige Aufgaben aufgrund wissenschaftlicher Kenntnisse und Erkenntnisse nach wissenschaftlichen Grundsätzen löse. Einkommensteuerrechtlich sei der Begriff der Wissenschaftlichkeit jedoch enger zu fassen. Dies zeige sich daran, daß in § 18 Abs. 1 EStG bei der Aufzählung der zu den freien Berufen zählenden Tätigkeiten u. a. der Arztberuf neben die wissenschaftliche Tätigkeit gestellt werde. Die typische ärztliche Tätigkeit sei daher nicht wissenschaftlich i. S. des § 34 Abs. 4 EStG. Wenn der Kläger den Gesundheitszustand bestimmter Personen zwecks Prüfung ihrer Versicherungsansprüche begutachte, so sei dies eine typische ärztliche Berufstätigkeit (vgl. Urteil BFH vom 12. Dezember 1974 IV R 198/71, BFHE 115, 33, BStBl II 1975, 476, mit eingehender Begründung). Diesen Charakter verliere die Tätigkeit des Klägers nicht deshalb, weil sie nicht in eigenen Praxisräumen ausgeübt werde. Um als wissenschaftlich i. S. des § 34 Abs. 4 EStG zu gelten, müsse sich die Tätigkeit des Klägers ihrem Inhalt nach von der typischen ärztlichen Tätigkeit unterscheiden. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Kläger aus einer Vielzahl von Untersuchungen bestimmter Patienten oder Gewebsproben oder Krankengeschichten allgemein gültige Erkenntnisse herleite oder als Obergutachter zu den Untersuchungsergebnissen mehrerer anderer Gutachter Stellung nähme. Dies sei jedoch hier nicht der Fall gewesen.
Mit der Revision beantragt der Kläger, die Einkommensteuer für 1972 und 1973 entsprechend dem Klageantrag festzusetzen, hilfsweise unter Aufhebung des angefochtenen FG-Urteils die Sache zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts an das FG zurückzuverweisen. Er rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts, wobei er die Verletzung materiellen Rechts in der Nichtanwendung des § 34 Abs. 4 EStG erblickt und das formelle Recht wegen mangelnder Sachaufklärung für verletzt hält.
Der Kläger trägt vor, die angefochtene Entscheidung beruhe auf einer Verkennung des Merkmals der Abgrenzbarkeit von Einkünften aus wissenschaftlicher Tätigkeit gegenüber der typischen Berufstätigkeit eines "Katalogberufes", insbesondere auf einer Fehlinterpretation des vom FG angezogenen Urteils des BFH IV R 198/71.
Die Auffassung des FG, Einzelgutachten, wie er, der Kläger, sie erstellt habe, gehörten in jedem Fall zu dem typischen Berufsbild des Arztes und etwas anderes könne nur für Obergutachten oder die Kompilation von Einzelergebnissen gelten, sei unzutreffend und beruhe auf mangelnder Sachaufklärung. Die von ihm erstellten Gutachten hätten häufig genug einen Umfang von 30 Schreibmaschinenseiten, enthielten eine eingehende Würdigung der letzten Erkenntnisse von Praxis und Wissenschaft und gingen damit über die typische Berufstätigkeit auch eines Facharztes weit hinaus. Das FG hätte, wenn es aufgrund seiner Rechtsauffassung die Gutachtertätigkeit nicht schlechthin, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen für tarifbegünstigt ansehe, sich die verfaßten Gutachten vorlegen lassen müssen, um sich selbst ein Bild zu machen, ob es sich um wissenschaftliche Gutachten in dem von ihm gemeinten Sinne handle.
Das FA beantragt kostenpflichtige Zurückweisung der Revision. Es trägt vor, der BFH habe in seinem Urteil IV R 198/71 dargelegt, daß zwar den an Universitätskliniken angestellten Ärzten für ihre Einkünfte aus der Erstellung medizinisch-wissenschaftlicher Gutachten die Tarifvergünstigung für Nebeneinkünfte aus wissenschaftlicher Tätigkeit zugebilligt werden könne; das gelte aber nur dann, wenn sie derartige Gutachten wegen ihrer besonderen Fachkenntnisse neben ihrer laufenden praktischen Berufsarbeit als nichtselbständige Ärzte, sozusagen in ihrer Freizeit, selbständig anfertigten, nicht dagegen, wenn sie die Erstellung ärztlicher Gutachten für Versicherungen als praktische Berufsarbeit eines freiberuflichen Arztes betrieben. Der Kläger habe 1972 34 859 DM und 1973 56 067 DM Einnahmen aus seiner Gutachtertätigkeit erzielt. Schon dem Umfang nach müsse daher davon ausgegangen werden, daß sie als eine praktische Berufsarbeit eines freiberuflichen Arztes betrieben worden sei und deshalb § 34 Abs. 4 EStG nicht angewandt werden könne.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
I. Zu den Voraussetzungen tarifbegünstigter Nebeneinkünfte i. S. des § 34 Abs. 4 EStG gehört u. a. , daß sie nicht zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören und von den Einkünften aus der freien Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG abgrenzbar sind. Unter welchen Voraussetzungen das Erfordernis der Abgrenzbarkeit als erfüllt anzusehen ist, läßt der Wortlaut des Gesetzes nicht direkt erkennen; sie müssen nach dem in § 34 Abs. 4 EStG zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers ermittelt werden, so wie er sich aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Vorschrift hineingestellt ist. Nach der Gesetzesbegründung bezweckt § 34 Abs. 4 EStG, einen steuerlichen Anreiz zur Erzielung eines höheren Einkommens durch zusätzliche nicht in den Beruf fallende Arbeiten auf wissenschaftlichem, künstlerischem oder schriftstellerischem Gebiet zu geben (s. Begründung zu Abschn. 1 § 1 Ziff. 7 des Entwurfs des Zweiten Gesetzes zur vorläufigen Neuordnung von Steuern, Drucksache Nr. 892/1949 des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes). Danach ist die Abgrenzbarkeit nicht nur hinsichtlich der Erzielung der Einkünfte erforderlich; aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes ergibt sich vielmehr, daß nur die wissenschaftliche Tätigkeit begünstigt werden soll, der sich der Steuerpflichtige außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit entweder auf einem anderen rein wissenschaftlichen Zweig desselben Fachgebietes oder überhaupt auf einem anderen wissenschaftlichen Fachgebiet widmet.
Wie der Senat im Urteil IV R 198/71 dargelegt hat, erfordert die Abgrenzung gegenüber der praktischen Berufsarbeit, daß die Nebeneinkünfte aus keiner typischen in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG genannten freien Berufstätigkeit bezogen werden. Das bedeutet, daß die begünstigten Nebeneinkünfte für sich keine Einkünfte aus einer typischen freien Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG darstellen dürfen, weil die wissenschaftliche, künstlerische oder schriftstellerische Tätigkeit i. S. des § 34 Abs. 4 EStG gerade keine praktische Berufsarbeit eines "Katalogberufes" sein soll. Dieses Merkmal der begünstigten Einkünfte muß folgerichtig auch bei nichtselbständig Tätigen erfüllt sein.
Für das Erfordernis der Abgrenzbarkeit von jeder der im Katalog des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG genannten Berufstätigkeiten oder eines ähnlichen Berufes sind für den Senat zwei Gründe maßgebend:
a) Die laufend anfallende, ständig ausgeübte praktische Berufsarbeit in einer freiberuflichen Praxis, um die es sich bei den in dem Katalog des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführten typischen freien Berufe handelt, kann in der Regel nicht der eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 i. V. m. § 34 Abs. 4 EStG gleichgestellt werden, auch wenn sie auf wissenschaftlicher Grundlage und Vorbildung beruht (vgl. dazu BFH-Urteil vom 20. Juni 1962 IV 359/61 U, BFHE 75, 325, BStBl III 1962, 385, und die dort angeführte Rechtsprechung).
b) Der Gesetzgeber wollte die laufende praktische Berufsarbeit durch § 34 Abs. 4 EstG bei selbständig Tätigen offensichtlich genausowenig begünstigen wie bei nichtselbständig Tätigen. Diese Auslegung des § 34 Abs. 4 EStG hat auch das BVerfG unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsgleichheit der typischen freien Berufe gebilligt (vgl. Beschluß vom 3. Januar 1973 1 BvR 508/72, StRK, Einkommensteuergesetz, § 34 Abs. 4 - ab 1955 -, Rechtsspruch 43).
II. Der unter den praktischen freien Berufen (Katalogberufen) in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführte Beruf des Arztes stellt eine Berufsgruppe dar, zu der nicht nur die praktizierenden Ärzte gerechnet werden müssen, die sich in ihrer praktischen Berufsarbeit vorwiegend der Heilbehandlung widmen, sondern auch die Ärzte, die, ohne eine Heilbehandlung durchzuführen, als praktische Berufsarbeit für Gerichte und Versicherungsanstalten laufend ärztliche Gutachten oder Atteste über den Gesundheitszustand der von ihnen untersuchten Personen im Rentenfeststellungsverfahren und ähnlichen Verfahren erstellen. Die begründete Attestierung des Gesundheitszustandes ist eine typische praktische Berufstätigkeit des Arztes.
Keine laufende praktische Berufsarbeit i. S. eines "Katalogberufes" nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG üben hingegen Ärzte dann aus, wenn sie aus besonderem Anlaß einzelne medizinische Gutachten nach wissenschaftlicher Methode ausarbeiten, mit deren Erstellung meist Universitätsinstitute, Professoren und andere auf ihrem Fachgebiet anerkannte Spezialisten beauftragt werden. Die Einkünfte aus solchen wissenschaftlichen medizinischen Gutachten erfüllen - ebenso wie z. B. bei rechtswissenschaftlichen Gutachten oder bei den bautechnischen Gutachten, die in besonderen Fällen von den Gerichten angefordert werden -, die Voraussetzung der Abgrenzbarkeit in dem unter I. dargelegten Sinne. Für die Einkünfte aus dem Verfassen solcher wissenschaftlichen medizinischen Gutachten kann der Arzt mit Haupteinkünften aus nichtselbständiger Arbeit die Tarifbegünstigung des § 34 Abs. 4 EStG ebenso beanspruchen wie für Einkünfte, die er für andere wissenschaftliche Arbeiten erzielt.
III. Die Entscheidung des vorliegenden Falles hängt also davon ab, ob es sich bei der Gutachtertätigkeit des Klägers, durch die er die strittigen Nebeneinkünfte erzielt hat, bei einer zusammenfassenden Betrachtung um eine laufende Begutachtung des Gesundheitszustandes vieler in seiner praktischen Berufstätigkeit untersuchter und behandelter Patienten handelte, durch die er eine freiberufliche Arztpraxis ausübte, die nicht der Heilbehandlung gewidmet war, oder ob es sich um einzelne wissenschaftliche medizinische Gutachten im eigentlichen Sinne handelte, mit deren Erstellung der Kläger in besonderen Fällen beauftragt worden ist.
Die Entscheidung dieser Frage liegt vorwiegend auf tatsächlichem Gebiet. Daß der Kläger keine eigene eingerichtete Arztpraxis besaß, ist dabei nicht wesentlich. Wenn im Urteil IV R 198/71 besonders hervorgehoben wurde, daß der betreffende Arzt seine laufende Gutachtertätigkeit in einer eigenen eingerichteten Arztpraxis ausgeübt hat, so nur deshalb, weil es dort als sicheres Indiz dafür gewertet werden konnte, daß der Arzt als Gutachter eine praktische Berufstätigkeit als freiberuflicher Arzt i. S. eines Katalogberufes nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG ausübte.
Im vorliegenden Fall spielen hingegen neben dem Inhalt und der Art der erstellten Gutachten vor allem die dafür verwendete Arbeitszeit und, damit zusammenhängend, die Zahl der Gutachten eine wichtige Rolle. Aus den Feststellungen des FG ergibt sich aber nicht, um welche der beiden dargelegten Arten von Gutachten es sich im Streitfalle handelte. Die Vorentscheidung beruht insoweit nur auf einer durch keine Tatsachenfeststellungen untermauerten Vermutung. Der Kläger rügt daher zu Recht mangelnde Sachaufklärung, die zur Aufhebung der Vorentscheidung führen muß.
Fundstellen
Haufe-Index 72116 |
BStBl II 1977, 31 |
BFHE 1977, 204 |
NJW 1977, 352 |