Leitsatz (amtlich)
Der im amtlichen Handel an der Börse notierte Kurs ist (nur dann) für die Festsetzung der Erbschaftsteuer unbeachtlich, wenn im Hinblick auf § 29 Abs. 3 BörsG die Voraussetzungen für eine Streichung des Kurses vorgelegen haben (Anschluß an BFHE 113, 59). Es bleibt jedoch offen, ob dies auch dann gilt, wenn der Börsenkurs zwar nicht gestrichen worden ist, die Voraussetzungen für eine Streichung aber vorgelegen haben.
Normenkette
ErbStG 1959 §§ 22, 23 Abs. 1; BewG 1934 § 13 Abs. 1
Tatbestand
Am 3. März 1963 starb X (Erblasser). Zu seinem Nachlaß gehörten u. a. Aktien der Y-AG im Nennwert von ... DM, für die an der Stuttgarter Börse am Todestag ein Geldkurs von 360 v. H. festgestellt worden war. Nach dem Vortrag der Klägerin sind sie im Juni 1963 zum Kurs von 220 v. H. verkauft worden.
Entscheidungsgründe
Die von der Klägerin gegen die vorläufige Festsetzung der auf ihren Vermögensanfall entfallenden Erbschaftsteuer in Höhe von 97 400 DM erhobenen Revisionsrügen sind unbegründet. Das FA hat die zum Nachlaß gehörigen Aktien der Y-AG nicht zu hoch bewertet. Der Ansatz der Aktien mit 360 v. H. ihres Nennwertes ist nicht zuungunsten der Klägerin fehlerhaft. Der Steueranspruch gegen die Klägerin ist auch nicht verjährt.
Die Y-Aktien waren am Todestag des Erblassers zum amtlichen Handel an der Börse zugelassen. Damit fielen sie unter § 13 Abs. 1 BewG 1934. Sie waren mit dem im amtlichen Handel notierten Stichtagskurs bzw. mit dem letzten vor dem Stichtag im amtlichen Handel notierten Kurs zu bewerten. Als im amtlichen Handel notierter Kurs ist grundsätzlich der Börsenpreis im Sinne des § 29 Abs. 3 des Börsengesetzes (BörsG) anzusehen. Der Börsenpreis setzt voraus, daß wirklich Geschäfte an der Börse stattgefunden haben (Schwark, Börsengesetz, § 29 Rdnr. 2 mit weiteren Nachweisen) Ob auch sog. Brief- oder Geldkurse im amtlichen Handel notierte Kurse im Sinne des § 13 Abs. 1 BewG 1934 waren, kann dahinstehen, da im vorliegenden Fall der letzte Umsatz von Y-Aktien an der Börse vor dem Todestag des Erblassers am 27. Januar 1963 zum Kurs von 370 stattgefunden hat, das FA aber der Steuerfestsetzung den niedrigeren Geldkurs vom Todestag des Erblassers zugrunde gelegt hat.
Der im amtlichen Handel notierte Kurs der Wertpapiere ist nach dem Willen des Gesetzgebers als deren gemeiner Wert anzusehen (vgl. das Urteil vom 26. Juli 1974 III R 16/73, BFHE 113, 59, BStBl II 1974, 656). Der Gesetzgeber hat damit gewürdigt, daß für die zum amtlichen Handel zugelassenen Wertpapiere amtlich festgestellte Preise vorliegen, die der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entsprechen (vgl. § 29 Abs. 3 BörsG), die überdies regelmäßig veröffentlicht werden und somit leicht zugänglich sind (vgl. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BörsG, § 34 Abs. 1 der Börsenordnung für die Wertpapierbörse in Stuttgart, Sieg/Degner, Börsenrecht, Textsammlung, 2. Aufl., S. 522, 533).
Sind danach die Preise maßgebend, welche der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entsprechen, so sind Einwendungen ausgeschlossen, die nicht diese Geschäftslage betreffen. Insbesondere kann grundsätzlich nicht eingewandt werden, daß der Börsenpreis nicht dem inneren Wert der Aktien entspreche. Andernfalls würde § 13 Abs. 1 BewG 1934 (=§ 11 Abs. 1 BewG 1965/1974) praktisch ausgehöhlt werden. Daß angesichts des Fehlens eines Vermittlungsmonopols der deutschen Börsen und angesichts häufig zu beobachtender Marktenge und anderer Umstände der Börsenpreis mehr oder weniger weit von dem inneren Wert der gehandelten Aktien abweichen kann, ist allerdings richtig. Die Gerichte sind aber nicht berufen, die Entscheidung, die der Gesetzgeber in Kenntnis der Verhältnisse an den deutschen Börsen getroffen hat, zu korrigieren. Abweichungen des inneren Wertes von dem jeweiligen Börsenpreis sind dem deutschen Börsenrecht systemimmanent. Sie bieten deshalb keinen Anlaß, von dem Ansatz des Börsenpreises abzuweichen.
Der Gesetzgeber hat in Kauf genommen, daß der Börsenpreis von Interessenten in gewissem Umfang beeinflußt werden kann. Es sind hier vor allem Kurspflegemaßnahmen zu nennen, für die allerdings anzuerkennende Gründe vorliegen können, mögen im Einzelfall oft auch eigensüchtige Ziele verfolgt werden. Es kann nicht Aufgabe der Finanzämter und der Finanzgerichte sein, die amtlich festgestellten Kurse daraufhin zu untersuchen, ob jemand um bestimmter Zwecke willen auf die Kursgestaltung Einfluß genommen hat und ob dieser Einfluß zu einem Kurs geführt hat, der dem inneren Wert der Wertpapiere nicht entspricht. Im übrigen wird der Wert auch im Bereich des § 10 Abs. 2 BewG 1934 durch Angebot und Nachfrage beeinflußt und entspricht deshalb nicht immer dem inneren Wert des jeweiligen Wirtschaftsgutes.
Allerdings hat der RFH verschiedentlich erklärt, daß unter außergewöhnlichen Umständen ein Abweichen von dem Börsenpreis gerechtfertigt sein könne (vgl. die Urteile vom 11. Juli 1935 III e A 33/34, RStBl 1935, 1485, und vom 10. März 1937 III e A 18/36, RStBl 1937, 625). Diese Rechtsprechung ist inzwischen jedoch durch den III. Senat des Bundesfinanzhofs dahin modifiziert worden, daß der amtlich festgestellte Kurs nur dann unbeachtlich sein könne, wenn er nicht der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entspreche, mit anderen Worten, wenn eine Streichung des festgestellten Kurses hätte erreicht werden können (vgl. das schon genannte Urteil BFHE 113, 59). Die Streichung eines Kurses ist als eine kurzfristige Maßnahme anzusehen, die für ein oder zwei Tage gilt (vgl. Schwark, Börsengesetz, § 29 Anm. 12).
Der erkennende Senat schließt sich dem III. Senat an, soweit dieser die Rechtsprechung des RFH einschränkt. Der erkennende Senat braucht hier jedoch nicht ausdrücklich darüber zu befinden, ob ein an der Börse nicht gestrichener Kurs für die Finanzgerichte auch dann unbeachtlich wäre, wenn sie zu dem Ergebnis gelangten, daß dieser Kurs nicht den Voraussetzungen des § 29 Abs. 3 BörsG entsprochen habe, wie dies der III. Senat ausgesprochen hat. Denn im vorliegenden Fall lagen die Voraussetzungen für die Streichung einzelner Kurse schon nach dem Sachvortrag der Klägerin nicht vor.
Dieser Vortrag geht dahin, daß der Börsenpreis durch Kurspflegemaßnahmen interessierter Aktionäre längere Zeit hindurch habe hochgehalten werden können. Der [spätere] starke Kursrückgang sei nicht zuletzt eine Folge der Tatsache gewesen, daß die Klägerin gezwungen gewesen sei, die im Nachlaß vorhandenen Aktien zu verkaufen.
Die Klägerin trägt damit im Grunde vor, daß längere Zeit hindurch von bestimmter Seite ein Kaufinteresse bestanden habe, das zu günstigen Kursen für alle verkaufsbereiten Aktionäre geführt habe, auch für die nicht der Schutzgemeinschaft angeschlossenen Aktionäre. Es ist eine der Grundtatsachen eines freien. Marktes, daß Nachfrage zu steigenden Preisen führt. Derartige Preise entsprechen durchaus der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse. Nur bei starken Kursschwankungen sehen die Usancen einiger Wertpapierbörsen besondere Maßnahmen vor (vgl. z. B. § 9 der Bedingungen für Geschäfte an der Frankfurter Wertpapier-Börse und § 10 II der Geschäftsbedingungen der Düsseldorfer Börse; vgl. hierzu Schwark, a. a. O., S. 585, 596).
Die Tatsache jedenfalls, daß am 16. Juni 1963 erstmals ein Umsatz zum Kurs von nur noch 200 v. H. ausgeführt wurde, konnte kein Anlaß sein, [frühere, höhere] Kurse als nicht im Einklang mit der wirklichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse stehend, anzusehen. Vielmehr hat eine Veränderung der Marktlage an der Börse zum Kursrückgang geführt. Z war an weiteren Käufen nicht mehr sonderlich interessiert. Gleichwohl wollte und mußte die Klägerin Aktien veräußern. Dieser Änderung der Marktlage kann bei der Erbschaftsteuerfestsetzung nicht Rechnung getragen werden; denn nach § 22 i. V. m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG 1959 sind für die Bewertung allein die Verhältnisse im Zeitpunkt des Todes des Erblassers maßgebend. Eine andere Regelung ist zwar denkbar. Diese Frage unterliegt jedoch nicht der Entscheidung der Gerichte, sondern allein der Entscheidung des Gesetzgebers.
Fundstellen
Haufe-Index 72286 |
BStBl II 1977, 427 |
BFHE 1977, 509 |
NJW 1978, 127 |