Leitsatz (amtlich)
Die Prozeßvollmacht kann durch Telegramm erteilt werden.
Orientierungssatz
1. Die Vollmacht (§ 62 Abs. 3 FGO) kann durch einseitige Erklärung gegenüber dem Bevollmächtigten, dem Prozeßgegner oder dem Gericht erteilt werden (Literatur).
2. Verfahrensvorschriften dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. In Zweifelsfällen sind sie daher --wenn irgend vertretbar-- so auszulegen, daß sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern (vgl. BFH-Beschluß vom 5.11.1973 GrS 2/72; GmSOGB-Beschluß vom 30.4.1979 GmS-OGB 1/78).
Normenkette
FGO § 62 Abs. 3 S. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beteiligte sich 1975 an einem Mietkaufmodell. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erkannte die Werbungskostenüberschüsse bei den Einkommensteuerfestsetzungen für die Streitjahre 1975 bis 1979 sowie die Vorsteuerabzüge bei den Umsatzsteuerfestsetzungen für 1977 bis 1979 nicht an. Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin erhob nach erfolglosem Vorverfahren in ihrem Namen Klage, ohne eine Vollmacht vorzulegen. Das Finanzgericht (FG) setzte ihm gemäß Art.3 § 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit eine Frist zur Einreichung der Vollmacht bis 10.November 1982. Am 9.November 1982 ging beim FG ein Telegramm der Klägerin ein, mit dem sie dem Prozeßbevollmächtigten Vollmacht erteilte, sie in dem Klageverfahren zu vertreten. Das Telegramm ist fernmündlich aufgegeben und dem FG schriftlich übermittelt worden. Nachdem das FG dem Klägervertreter mitgeteilt hatte, daß Vollmachterteilung durch Telegramm nicht genüge, legte der Klägervertreter am 2.Dezember 1982 eine von der Klägerin handschriftlich unterzeichnete Vollmacht vor. Am gleichen Tag teilte er dem FG mit, die Klägerin sei verzogen und habe übersehen, ihm die Prozeßvollmacht unterschrieben zurückzugeben. Es sei daher nur die Möglichkeit der telegraphischen Erteilung der Vollmacht zur Fristwahrung geblieben.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Es führte aus, die Klägerin habe die Vollmacht innerhalb der Ausschlußfrist nicht schriftlich erteilt. Die Ausnahme, die in der Rechtsprechung für die schriftliche Klageerhebung durch Telegramm zugelassen sei, gelte nicht für die Erteilung der Vollmacht. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren, weil die Klägerin nicht dargelegt habe, daß sie ohne Verschulden verhindert gewesen sei, die Ausschlußfrist zur Vorlage der Vollmacht zu wahren. Daß die Klägerin umgezogen sei, schließe allein ein Verschulden nicht aus.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 62 Abs.3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FG habe zu Unrecht die Erteilung der Vollmacht durch Telegramm nicht genügen lassen. Wenn die Klage durch Telegramm eingelegt werden könne, müsse das auch für die Vollmacht gelten. Dem FG habe außerdem in einem anderen Rechtsstreit eine allgemeine Prozeßvollmacht der Klägerin vorgelegen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
1. Es kann offenbleiben, ob die schriftliche Vollmacht, die die Klägerin in einem anderen Rechtsstreit ihrem Prozeßbevollmächtigten erteilt hatte, Wirkung für den vorliegenden Rechtsstreit hatte. Die Klägerin hat ihrem Prozeßbevollmächtigten jedenfalls durch das Telegramm wirksam und rechtzeitig Vollmacht erteilt.
a) Nach § 62 Abs.3 Satz 1 FGO ist die Vollmacht schriftlich zu erteilen. Schriftlich ist die Vollmacht grundsätzlich erteilt, wenn sie handschriftlich unterschrieben ist. Für die Schriftform ist die handschriftliche Unterschrift jedoch nicht stets erforderlich. So hat der Große Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) im Beschluß vom 5.November 1973 GrS 2/72 (BFHE 111, 278, BStBl II 1974, 242) die Unterschrift auf dem Begleitschreiben zur Revisionsbegründung genügen lassen. Der Große Senat lehnt in seiner Entscheidung die unmittelbare oder mittelbare Anwendung des § 126 Abs.1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auf das Prozeßrecht ab. Er weist darauf hin, Verfahrensvorschriften seien nicht Selbstzweck. Sie dienten letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. In Zweifelsfällen seien sie daher --wenn irgend vertretbar-- so auszulegen, daß sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern (ebenso Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluß vom 30.April 1979 GmS-OGB 1/78, BGHZ 75, 340, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1980, 172, 174). In der Rechtsprechung ist überdies --wie das FG nicht verkennt-- seit langem anerkannt, daß die Schriftform bei bestimmenden Schriftsätzen (Klage, Rechtsmittel) durch Telegramm gewahrt wird (Zwischenurteil des BFH vom 10.März 1982 I R 91/81, BFHE 136, 38, BStBl II 1982, 573; Gräber, Steuer und Wirtschaft --StuW-- 1973, 324, 327; Kunz-Schmidt, NJW 1987, 1296, jeweils m.w.N.). Das gilt auch dann, wenn das Telegramm fernmündlich aufgegeben ist (Beschluß des Reichsgerichts --RG-- vom 28.November 1932 IV B 4/32, RGZ 139, 45; Beschluß des Großen Senats des RG für Zivilsachen vom 15.Mai 1936 GSZ 2/36 V 62/35, RGZ 151, 82). Nach dem Beschluß des Großen Senats des RG handelt es sich um eine Ausnahme, die durch die Eigenart des telegraphischen Verkehrs bedingt sei. Die Rechtsprechung zur Wahrung der Schriftform durch Telegramm ist heute Gewohnheitsrecht (Gräber, a.a.O.).
b) Wenn dem Gericht bestimmende Schriftsätze durch Telegramm eingereicht werden können, obwohl für sie Schriftform vorgesehen ist (§ 64 Abs.1 Satz 1, § 120 Abs.1 Satz 1 FGO), muß auch die Erteilung der Vollmacht durch Telegramm genügen. Die Vollmacht hat prozessual eine geringere Bedeutung als die bestimmenden Schriftsätze. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, an ihre Form höhere Anforderungen zu stellen als an die Form bestimmender Schriftsätze. Die Schriftform soll bei Rechtsmitteln gewährleisten, daß aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können. Außerdem muß feststehen, daß es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern daß es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes GmS-OGB 1/78, a.a.O.). Durch das Erfordernis der Schriftform der Vollmacht soll ebenfalls vermieden werden, daß das Gericht über die Erteilung der Vollmacht Beweis erheben muß. In beiden Fällen ist danach Zweck der Schriftform, dem Gericht langwierige Nachprüfungen darüber zu ersparen, ob die Erklärungen abgegeben sind und von wem sie stammen. Hält man unter diesem Gesichtspunkt bei Klage und Revision ein Telegramm für ausreichend, so muß das in gleicher Weise für die Vollmacht gelten. Das gilt unabhängig davon, ob man der schriftlichen Erteilung der Vollmacht konstitutive Wirkung zuerkennt oder die schriftliche Erteilung nur zum Nachweis der Vollmacht für erforderlich hält (vgl. Urteil des BFH vom 24.November 1971 I R 116/71, BFHE 103, 408, BStBl II 1972, 95, m.w.N.). Auch wenn man annimmt, die Prozeßvollmacht entstehe erst mit der schriftlichen Erteilung, schließt das nicht aus, die Erteilung durch Telegramm genügen zu lassen.
2. Der II.Senat des BFH hat allerdings im Urteil vom 18.Februar 1987 II R 213/84 (BFHE 149, 19, BStBl II 1987, 392) die Fotokopie einer Vollmacht nicht ausreichen lassen. Der II.Senat führt aus, die Originalvollmacht müsse vorgelegt werden, weil die Einreichung der Vollmacht nicht nur Sachurteilsvoraussetzung sei, sondern auch Beweisfunktion habe. Es gelte nichts anderes als beim Urkundenbeweis. Diese Entscheidung steht der Anerkennung der Vollmachterteilung durch Telegramm nicht entgegen. Anders als bei einer Fotokopie hat die Rechtsprechung seit langem anerkannt, daß ein Telegramm die Schriftform wahrt; außerdem gibt es bei einem fernmündlich aufgegebenen Telegramm keine Urschrift des Aufgabetelegramms, die dem Gericht vorgelegt werden könnte. Genügt das Telegramm unter dem Gesichtspunkt der Beweisfunktion bei bestimmenden Schriftsätzen, so kann bei der Vollmacht nichts anderes gelten.
3. Die Klägerin hat die Vollmacht auch schriftlich erteilt. Erteilt werden kann die Vollmacht durch einseitige Erklärung gegenüber dem Bevollmächtigten, dem Prozeßgegner oder dem Gericht (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 12.Aufl., § 62 FGO, Tz.8; Gräber, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 62 Anm.16). Die Klägerin hat die Vollmacht gegenüber dem FG erteilt. Die Vollmacht ist dem FG in schriftlicher Form, nämlich in Form des schriftlichen Ankunftstelegramms, zugegangen. Ob die Vollmacht auch dann schriftlich erteilt wäre, wenn die Post dem FG das Ankunftstelegramm nur telefonisch übermittelt hätte, kann offenbleiben. Das Telegramm genügt auch inhaltlich den Anforderungen an eine Prozeßvollmacht.
Fundstellen
Haufe-Index 61628 |
BStBl II 1987, 717 |
BFHE 150, 309 |
BFHE 1987, 309 |
BB 1987, 2012 |
BB 1987, 2012-2012 (T) |
DB 1987, 2292-2292 (ST) |