Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Verwirkung von Ansprüchen auf Rückforderung überzahlten Kindergeldes
Leitsatz (NV)
Die Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs wegen zu Unrecht gezahlten Kindergeldes setzt besondere Umstände voraus, die die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Die Weiterzahlung des Kindergeldes allein reicht zur Schaffung eines Vertrauenstatbestandes nicht aus.
Normenkette
AO 1977 § 37 Abs. 2; EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter der 1978 geborenen Tochter B. Sie bezog für B, die sich bis Juni 2003 in der Ausbildung befand und im Juni 2003 heiratete, ab April 2000 laufend Kindergeld.
Die Einkünfte und Bezüge der B überstiegen in den Jahren 2001 und 2002 unstreitig den jeweilig geltenden Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). B erhielt in dieser Zeit u.a. eine Halbwaisenrente und ein Studien-Stipendium.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) forderte die Klägerin im automatisierten Verfahren mit Schreiben vom 4. April 2001 auf, den dem Schreiben beiliegenden Erklärungsvordruck zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes auszufüllen und zusammen mit den erforderlichen Nachweisen zurückzureichen. In dem Schreiben heißt es, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes jährlich überprüft werden müssten. Daraufhin teilte B dem Beklagten mit Schreiben vom 28. Mai 2001 die Höhe ihrer Einkünfte und Bezüge für das Jahr 2001 mit. Mit Schreiben vom 4. April 2002 (ebenfalls im automatisierten Verfahren) forderte der Beklagte die Klägerin wiederum auf, den dem Schreiben beiliegenden Erklärungsvordruck auszufüllen und zusammen mit den erforderlichen Nachweisen zurückzureichen. In dem Schreiben führte der Beklagte aus, dass der Anspruch auf Kindergeld nur dann bestehe, wenn die Einkünfte und Bezüge des studierenden Kindes den Grenzbetrag von 7 188 € nicht überstiegen. Aus diesem Grund sei eine jährliche Überprüfung vorzunehmen, bei der die Klägerin gemäß § 93 der Abgabenordnung 1977 (AO 1977) mitzuwirken habe. B teilte dem Beklagten die Höhe ihrer Einkünfte und Bezüge mit Schreiben vom 30. April 2002 mit.
Mit Bescheid vom 12. September 2003 hob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für B unter Berufung auf § 70 Abs. 4 EStG rückwirkend ab Januar 2001 auf und forderte danach für die Zeit von Januar 2001 bis März 2003 zuviel gezahltes Kindergeld in Höhe von 3 966,60 € zurück.
Der Einspruch der Klägerin, mit dem diese geltend machte, dass die Rückforderung des überzahlten Kindergeldes gegen Treu und Glauben verstoße, hatte keinen Erfolg.
Im Klageverfahren trug die Klägerin vor, dass ihr das Berechnungsverfahren hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge ihrer Tochter nicht klar gewesen sei. Insbesondere habe sie nicht gewusst, inwieweit sich Stipendium und Halbwaisenrente der B auf ihren Kindergeldanspruch auswirkten. Entsprechende Nachfragen bei dem Beklagten hätten jedoch nicht zu einer Klärung geführt. Der Beklagte habe sie vielmehr auf das laufende Verfahren verwiesen und sie gebeten, die Entscheidung abzuwarten.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 786 veröffentlichten Gründen ab.
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass zum Zeitpunkt der Rückforderung des Kindergeldes der Rückforderungsanspruch des Beklagten verwirkt gewesen sei. Nach der vom FG vertretenen Auffassung könne in automatisierten Verfahren, wie das Kindergeldverfahren eines sei, in denen die Auszahlung der Leistung den stattgebenden Bescheid ersetze, nie ein Vertrauenstatbestand des Bürgers entstehen. Dieser müsse vielmehr stets mit einer Rückforderung der Leistung rechnen und entsprechend disponieren. Das aber widerspreche dem sozialpolitischen Zweck des Kindergeldes.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung sowie den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 13. September 2003 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5. November 2003 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist nicht begründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Der Klägerin stand, wie zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist, ab Januar 2001 für B kein Kindergeld mehr zu, weil deren Einkünfte und Bezüge den jeweils geltenden Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten.
2. Der Beklagte war auch berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes für B aufzuheben. Dabei kann offen bleiben, ob die Rechtsgrundlage insoweit § 70 Abs. 4 EStG ist. Selbst wenn die Vorschrift, wie die Vorinstanz meint, auf den Streitfall noch nicht anwendbar wäre, war es dem Beklagten nach den vom Bundesfinanzhof (BFH) aufgestellten Grundsätzen möglich, die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufzuheben, weil sich nach Ablauf der Kalenderjahre 2001 und 2002 bzw. während des Kalenderjahres 2003 herausgestellt hatte, dass die Einkünfte und Bezüge über dem jeweils geltenden Grenzbetrag lagen (vgl. BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 83/98, BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85; VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86; vom 6. November 2001 VI R 76/01, BFH/NV 2002, 343; vom 16. April 2002 VIII R 76/01, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525; vom 16. April 2002 VIII R 96/01, BFH/NV 2002, 1027).
3. a) Da aufgrund der rechtmäßigen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes weggefallen war, konnte der Beklagte gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 das zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von 3 966,50 € zurückfordern.
b) Hinsichtlich des Rückforderungsanspruchs des Beklagten ist entgegen der Auffassung der Klägerin keine Verwirkung eingetreten.
aa) Verwirkung setzt voraus, dass sich der --hier zur Rückerstattung gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977-- Verpflichtete nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf verlassen durfte und verlassen hat, dass dieser das Recht in Zukunft nicht geltend machen werde. Der Zeitablauf allein (das sog. Zeitmoment) reicht für die Annahme der Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs grundsätzlich nicht aus. Hinzu kommen muss ein Verhalten des Berechtigten, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen darf, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden solle (sog. Umstandsmoment oder Vertrauenstatbestand). Schließlich muss der Verpflichtete auch tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich entsprechend eingerichtet haben (zum Ganzen vgl. BFH-Urteil vom 14. Oktober 2003 VIII R 56/01, BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123, m.w.N.).
bb) Die Verwirkung des Rückforderungsanspruchs scheitert im vorliegenden Fall jedenfalls daran, dass es an einem Verhalten des Beklagten fehlt, welches für die Klägerin bei objektiver Auslegung den eindeutigen Schluss zuließ, dass ihr das zu Unrecht gezahlte Kindergeld für ihre Tochter belassen werde.
Die Auszahlung des Kindergeldes allein reicht nach gefestigter Rechtsprechung als Vertrauenstatbestand nicht aus (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 163/00, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174; in BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123). Hinzu kommen müssen besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Bei einem Massenverfahren wie im Kindergeldrecht ist dabei ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem zu entnehmen ist, dass sie auch nach Prüfung des Falles von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht und ein anderer Eindruck bei dem Kindergeldempfänger nicht entstehen kann. Dem Verhalten der Familienkasse muss also die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht (BFH-Urteil in BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123).
An einem solchen Verhalten des Beklagten fehlt es im Streitfall. Die im automatisierten Verfahren gegebenen Hinweise des Beklagten, dass die Kindergeldberechtigung jährlich zu überprüfen sei, schafften insoweit keinen Vertrauenstatbestand zugunsten der Klägerin. Bei verständiger Würdigung der Schreiben des Beklagten konnte die Klägerin diesen lediglich entnehmen, dass die Kindergeldberechtigung für jedes Kalenderjahr zu überprüfen sei, nicht aber, dass der Beklagte verpflichtet sei, die Überprüfung alljährlich innerhalb einer bestimmten Frist vorzunehmen. Hinzu kommt, dass die Klägerin im Klageverfahren selbst vorgetragen hat, dass sie bei dem Beklagten nachgefragt habe, wie sich das Stipendium und die Halbwaisenrente ihrer Tochter auf den Kindergeldanspruch auswirkten, und dass der Beklagte sie bei diesen Gelegenheiten auf das noch laufende Verfahren und die insoweit noch ausstehende Entscheidung verwiesen habe. Damit wusste die Klägerin, dass über ihre Kindergeldberechtigung im streitigen Zeitraum noch nicht endgültig entschieden war. Es ist folglich ausgeschlossen, dass sie davon ausgehen konnte und musste, dass eine Rückforderung überzahlten Kindergeldes nicht in Betracht käme.
Der sozialpolitische Zweck des Kindergeldes kann diesem Ergebnis nicht entgegenstehen, wenn materiell-rechtlich kein Anspruch auf diese Leistung besteht (dazu oben unter II.1.).
Fundstellen