Leitsatz (amtlich)
Enthält das Urteil des Finanzgerichts keine Ausführungen zu einem im Verfahren über die Berufung gestellten Antrag auf Anberaumung der mündlichen Verhandlung, so liegt stets ein wesentlicher Verfahrensmangel vor.
Normenkette
AO § 272 S. 2
Gründe
Aus den Gründen
Die Rb. muß zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen.
Der Bf. rügt als Verfahrensmangel, daß ihm kein einstimmiger Gerichtsbeschluß nach § 272 Satz 2 AO auf Zurückweisung des von ihm im Verfahren über die Berufung mit Schriftsatz vom 28. März 1958 gestellten Antrags auf mündliche Verhandlung eröffnet worden sei. Diese Rüge ist begründet. Nach den Urteilen des Bundesfinanzhofs IV 429/51 U vom 21. Februar 1952 (BStBl 1952 III S. 90, Slg. Bd. 56 S. 225 -- 230 --) und IV 362/54 vom 22. September 1955 (Steuerrechtsprechung in Karteiform, Rechtsspruch 4 zu § 272 AO) stellt das Übersehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung dann einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, wenn die Möglichkeit (nicht Wahrscheinlichkeit) besteht, daß bei Anhörung des Antragstellers in mündlicher Verhandlung anders entschieden worden wäre. So liegt der Fall hier. Das Finanzgericht hat in der angefochtenen Entscheidung zum Antrag des Bf. auf mündliche Verhandlung überhaupt nicht Stellung genommen. Da die angefochtene Entscheidung im übrigen die Darlegungen des Bf. nur unzureichend gewürdigt hat, besteht durchaus die Möglichkeit, daß das Finanzgericht zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn der Bf. seine Ausführungen in mündlicher Verhandlung hätte vortragen können. Dagegen wird man in der Unterlassung einer Entscheidung über den Antrag des Bf. auf mündliche Verhandlung keinen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes, das heißt keine Verletzung des Verfassungsgrundsatzes erblicken können, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Zwar kann der erkennende Senat der Auffassung des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 26. Mai 1952 -- III ZR 218/50 (Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 6 S. 178 -- 182 --) nicht beitreten, ein Eingriff in den Grundsatz des gesetzlichen Richters könne nur von außen, also nicht von dem erkennenden Gericht selbst kommen. Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1954 -- 1 BvR 537/53 (Neue Juristische Wochenschrift 1954 S. 593) kann vielmehr jemand seinem gesetzlichen Richter auch durch Maßnahmen oder Entscheidungen des erkennenden Gerichts selbst entzogen werden. Das Bundesverfassungsgericht führt aber in dem genannten Beschluß mit Recht weiter aus, daß niemand durch einen bloßen error in procedendo seinem gesetzlichen Richter entzogen wird. Der vorliegendenfalls vorgekommene Irrtum im Verfahren, das heißt die Nichtbeachtung des Antrags des Bf. auf mündliche Verhandlung, verletzt also den Verfassungsgrundsatz des gesetzlichen Richters nicht. Dagegen erscheint es dem erkennenden Senat nicht angängig, mit den oben erwähnten Urteilen des Bundesfinanzhofs im Übersehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung nur dann einen wesentlichen Verfahrensmangel zu erblicken, wenn andernfalls eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Die Ablehnung eines Antrags auf mündliche Verhandlung seitens des Finanzgerichts ist eine durch den Bundesfinanzhof voll nachprüfbare Ermessensentscheidung. Enthält das Urteil des Finanzgerichts keine Ausführungen zu einem solchen Antrag, so kann der Bundesfinanzhof nicht beurteilen, ob ihn das Finanzgericht nur übersehen oder ihn etwa stillschweigend übergangen hat. Da es letzterenfalls möglich wäre, daß das Finanzgericht dem Antrag aus nicht in der Sache selbst liegenden Gründen keine Folge gegeben hat, liegt beim Fehlen einer Entscheidung nach § 272 Satz 2 AO stets ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, ohne daß es darauf ankommt, ob bei mündlicher Verhandlung ein anderes Ergebnis möglich gewesen wäre. Hiernach ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 410135 |
BStBl III 1961, 411 |
BFHE 1962, 398 |
NJW 1961, 2280 |