Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Vorrang des Antrags auf mündliche Verhandlung; ausreichende Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens; Meistbegünstigung
Leitsatz (NV)
1. Wendet sich ein Prozeßbevollmächtigter in einem Schriftsatz sowohl mit der Nichtzulassungsbeschwerde als auch dem Antrag auf mündliche Verhandlung gegen einen ergangenen Gerichtsbescheid, so hat der Antrag auf mündliche Verhandlung Vorrang, wenn gleichzeitig ein ergangener ändernder Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens erklärt wird.
2. Hat der Kläger den Streitkomplex durch einen bezifferten Antrag durch den beigefügten Berechnungsbogen für eine beim FA eingereichte Steuererklärung erläutert, so reicht das zur Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens im Sinne von §65 Abs. 1 Satz 1 FGO aus.
3. Beschränkt sich ein Gerichtsbescheid auf die Feststellung, daß ein zuvor erlassener Gerichtsbescheid nicht als nicht ergangen gilt, den allein der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde angefochten hat, so darf diesem daraus nach der Meistbegünstigungsklausel kein Nachteil erwachsen.
Normenkette
FGO §§ 65, 90a Abs. 3, § 115
Tatbestand
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) erhob in dessen sowie im Namen der Ehefrau des Klägers mit Schriftsatz vom 11. Mai 1995 wegen Einkommensteuer 1991 Klage gegen die Einspruchsentscheidung vom 22. März 1995, die er beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) anbrachte. Der Vorsitzende des zuständigen Senats des Finanzgerichts (FG) setzte gemäß §65 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) den Klägern eine Ausschlußfrist bis zum 16. Juni 1995 zur Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens und des angefochtenen Verwaltungsaktes sowie zur Vorlage der Prozeßvollmacht. Der Prozeßbevollmächtigte reichte am 13. Juni 1995 die schriftliche Vollmacht ein. Außerdem beantragte er mit dem gleichzeitig eingegangenen Schriftsatz vom 10. Juni 1995, die Einkommensteuer 1991 entsprechend der beim FA eingereichten Steuererklärung auf 896 DM herabzusetzen. Dem Schriftsatz war eine Kopie des Deckblattes der unterzeichneten Einkommensteuererklärung 1991 sowie eine Kopie des Berechnungsbogens beigefügt. Das FA wich in einzelnen Punkten von der Erklärung ab und setzte die Einkommensteuer 1991 mit dem ändernden Bescheid vom 5. September 1995 auf 1489 DM fest. Der Kläger beantragte mit dem am 8. Oktober 1995 beim FG eingegangenen Schriftsatz, den ändernden Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Das FG wies durch Gerichtsbescheid vom 23. Oktober 1995 die Klage als unzulässig ab, weil die Kläger binnen der gesetzten Ausschlußfrist nicht konkretisiert dargelegt hätten, inwiefern sie der angefochtene Bescheid in ihren Rechten verletze. Die Einreichung der Steuererklärung beim FA genüge nicht (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 26. November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99, und vom 8. März 1995 X B 243, 244/94, BFHE 177, 201, BStBl II 1995, 417). Auch reiche die Angabe "ESt 1991" zur Bezeichnung des angefochtenen Bescheides nicht aus. Dagegen erhob der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde und beantragte mündliche Verhandlung.
Durch weiteren Gerichtsbescheid vom 14. Dezember 1995 stellte das FG fest, daß der zunächst erlassene Gerichtsbescheid aufgrund des Antrags nicht als ergangen gelte und der Kläger gegen ihn Nichtzulassungsbeschwerde erhoben habe. Wiederum ließ das FG die Revision nicht zu.
Mit der -- vom erkennenden Senat zugelassenen -- Revision macht der Kläger geltend, das FG habe durch mündliche Verhandlung entscheiden müssen. Den ändernden Einkommensteuerbescheid 1991 vom 5. September 1995 habe er zum Gegenstand des Verfahrens erklärt. Das FA habe Pachtzinszahlungen in Höhe von insgesamt 2370 DM sowie Berufsausbildungskosten in Höhe von 900 DM nicht berücksichtigt.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA hat keinen Antrag gestellt.
Es hält die Revision für zulässig und begründet. Das FG habe zu Unrecht die Erklärung, es werde Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und mündliche Verhandlung beantragt, als Beschwerde angesehen. Die Erklärung sei vielmehr mit dem BFH-Urteil vom 5. Mai 1994 VI R 32/94 (BFHE 174, 307, BStBl II 1994, 662) dahin auszulegen gewesen, daß der Kläger mündliche Verhandlung beantragt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Das FG hat zu Unrecht entschieden, daß der mit Schriftsatz vom 7. Oktobert 1995 gestellte Antrag als Nichtzulassungsbeschwerde auszulegen sei. Es durfte daher auch nicht -- wie geschehen -- feststellen, daß der Gerichtsbescheid vom 23. Oktober 1995 nicht als nicht ergangen gilt.
Der im Schriftsatz vom 7. Oktober 1995 gestellte Antrag war nicht -- wie das FG angenommen hat -- eindeutig und daher als Nichtzulassungsbeschwerde auszulegen. Wie der BFH in seinem Urteil in BFHE 174, 307, BStBl II 1994, 662 ausgeführt hat, ist ein Schriftsatz, in dem sich ein Prozeßbevollmächtigter gegen einen ergangenen Gerichtsbescheid sowohl mit der Nichtzulassungsbeschwerde als auch mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung wendet, in sich widersprüchlich. Es besteht indes kein Rechtsgrundsatz, daß der zuerst genannte Rechtsbehelf, hier also die Nichtzulassungsbeschwerde, den danach genannten, hier den Antrag auf mündliche Verhandlung, ausschließt. Vielmehr ist im Zweifel zu berücksichtigen, daß die mündliche Verhandlung nach dem Gesetz den Vorrang vor der Nichtzulassungsbeschwerde hat. Zudem hat im Streitfall der Prozeßbevollmächtigte im Schriftsatz vom 7. Oktober 1995 darauf hingewiesen, daß der ändernde Bescheid vom 5. September 1995 zum Gegenstand des Verfahrens erklärt worden sei und durch diesen Antrag die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde als erledigt betrachtet werden könne. Daraus konnte und mußte das FG entnehmen, daß auch nach der Ansicht des steuerrechtskundigen Prozeßbevollmächtigten der Antrag auf mündliche Verhandlung Vorrang hatte und der Antrag auf Zulassung der Revision nur hilfsweise gestellt war. Da der Gerichtsbescheid vom 23. Oktober 1995 somit die Instanz nicht beendet hatte, mußte das FG durch Urteil entscheiden. Ein weiterer Gerichtsbescheid durfte nicht ergehen (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §90 a Anm. 24).
Entgegen der Ansicht der Vorinstanz war die Klage auch nicht wegen fruchtlosen Ablaufs der gesetzten Ausschlußfrist (§65 Abs. 2 Satz 2 FGO) zum 16. Juni 1995 unzulässig. Die Kläger hatten mit dem Schriftsatz vom 10. Juni 1995 den Streitkomplex binnen der gesetzten Ausschlußfrist so weit erläutert, daß das FG durch den bezifferten Antrag und den beigefügten Berechnungsbogen samt den einzelnen Besteuerungsmerkmalen sowie die dem FG eingereichte Kopie des unterzeichneten Mantelbogens der unmittelbar beim FA eingereichten fehlenden Steuererklärung den Gegenstand des Klagebegehrens genau hat erkennen können (vgl. auch BFH-Urteile vom 13. Juni 1996 III R 93/95, BFHE 180, 247, BStBl II 1996, 483; vom 17. April 1996 I R 91/95, BFH/NV 1996, 900; vom 30. Juni 1995 VI R 29/91, BFH/NV 1996, 53; vom 7. Februar 1995 VIII R 48/92, BFH/NV 1996, 43, sowie Senatsurteil vom 23. Januar 1997 IV R 84/95, BFHE 182, 273, BStBl II 1997, 462, und Senatsurteil vom 5. Juni 1997 IV R 74/96, jeweils m. w. N.; s. ferner Senatsurteil vom 16. Juni 1994 IV R 97/93, BFH/NV 1995, 279). Damit haben die Kläger mehr getan, als nur dem FG die Tatsache der Abgabe der Steuererklärung mitzuteilen (vgl. BFH-Beschluß vom 26. Januar 1995 V B 63/94, BFH/NV 1995, 896). Auch hatten die Kläger durch den Betreff "ESt 1991" und durch die Angabe des Datums der Einspruchsentscheidung vom 22. März 1995 den angefochtenen Verwaltungsakt genau genug bezeichnet (§44 Abs. 2 FGO; vgl. BFH-Urteil vom 21. April 1993 XI R 37-- 54/92, BFH/NV 1994, 45, m. w. N.). Das FG konnte daher anhand dieser Umstände, und zwar auch ohne den sonst notwendigen Rückgriff auf die Akten, den Gegenstand des Klagebegehrens genau bestimmen (vgl. Senatsurteil vom 27. Juni 1996 IV R 61/95, BFH/NV 1997, 232).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß der Kläger den Gerichtsbescheid vom 14. Dezember 1995 nicht ausdrücklich angefochen hat. Denn dessen Wirkung beschränkte sich darauf festzustellen, daß der Gerichtsbescheid vom 23. Oktober 1995 nicht als nicht ergangen gilt und der Kläger dagegen Nichtzulassungsbeschwerde erhoben habe. Nach dem Prinzip der sog. Meistbegünstigung bei inkorrekten Entscheidungen darf dem Kläger dadurch kein Nachteil entstehen (Gräber/Ruban, a. a. O., Vor §115 Anm. 4, m. w. N.).
Fundstellen
Haufe-Index 66367 |
BFH/NV 1998, 598 |