Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung, innergemeinschaftliche Lieferung, Belegnachweis, Nachweis des Gelangens des Liefergegenstands in den Bestimmungsmitgliedstaat, zumutbare Nachweispflichten, Löschung der USt-IdNr. des Erwerbers
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/88/EU des Rates vom 7. Dezember 2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dem Verkäufer unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens den Anspruch auf Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass der Verkäufer seinen Nachweispflichten nicht nachgekommen ist oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um seine eigene Beteiligung an dieser Steuerhinterziehung zu verhindern.
2. Dem Verkäufer kann die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Sinne von Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 nicht allein deshalb versagt werden, weil die Steuerverwaltung eines anderen Mitgliedstaats eine Löschung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Erwerbers vorgenommen hat, die zwar nach der Lieferung des Gegenstands erfolgt ist, aber auf einen Zeitpunkt vor der Lieferung zurückwirkt.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 138 Abs. 1
Beteiligte
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Dél-dunántúli Regionális Adó Foigazgatósága |
Verfahrensgang
Baranya Megyei Bíróság (Ungarn) (Urteil vom 18.05.2011; ABl. EU 2011, Nr. C 269/24) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 138 Abs. 1 ‐ Voraussetzungen für die Befreiung eines innergemeinschaftlichen Umsatzes, bei dem der Erwerber verpflichtet ist, die Beförderung des Gegenstands zu übernehmen, über den er ab dem Zeitpunkt des Verladens wie ein Eigentümer verfügen kann ‐ Verpflichtung des Verkäufers, zu beweisen, dass der Gegenstand den Liefermitgliedstaat physisch verlassen hat ‐ Rückwirkende Löschung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Erwerbers“
In der Rechtssache C-273/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Baranya Megyei Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 18. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juni 2011, in dem Verfahren
Mecsek-Gabona Kft
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Dél-dunántúli Regionális Adó Főigazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus (Berichterstatter), A. Rosas, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und V. Bottka als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/88/EU des Rates vom 7. Dezember 2010 (ABl. L 326, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Mecsek-Gabona Kft (im Folgenden: Mecsek-Gabona) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Dél-dunántúli Regionális Adó Főigazgatósága (Regionalfinanzdirektion Dél-dunántúl, im Folgenden: Főigazgatóság) wegen Ablehnung des Antrags von Mecsek-Gabona auf Mehrwertsteuerbefreiung eines von ihr als eine innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen eingeordneten Umsatzes durch die Főigazgatóság.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2006/112
Rz. 3
Die Richtlinie 2006/112 hat gemäß ihren Art. 411 und 413 mit Wirkung zum 1. Januar 2007 die auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer bestehenden Unionsvorschriften, insbesondere die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) aufgehoben und ersetzt.
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
b) der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
i) durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, oder durch eine nichtsteuerpflichtige j...