Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Künstliche Lieferkette, Mehrwertsteuerbetrug in einer Lieferkette, Unberechtigter Steuervorteil, Beweispflicht der Finanzbehörde, Beweislast bei Mehrwertsteuerbetrug, Versagung des Vorsteuerabzugs wegen Mehrwertsteuerbetrug auf einer Vorstufe
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168 Buchst. a
Beteiligte
Verfahrensgang
Augstaka tiesa (Lettland) (Beschluss vom 13.04.2018; ABl. EU 2018 Nr. C 259/22) |
Tenor
Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass für die Verweigerung des Rechts auf Vorsteuerabzug der Umstand, dass ein Erwerb von Gegenständen am Ende einer Kette von Verkaufsvorgängen unter Beteiligung mehrerer Personen stand und der Steuerpflichtige den Besitz an den betreffenden Gegenständen im Warenlager einer zu dieser Kette gehörenden Person erlangte und nicht von der in der Rechnung als Lieferantin angegebenen Person, für sich genommen nicht ausreicht, um festzustellen, dass es sich um eine missbräuchliche Praxis des Steuerpflichtigen oder der anderen an dieser Kette beteiligten Personen handelt; vielmehr muss die zuständige Steuerbehörde dartun, dass ein ungerechtfertigter Steuervorteil vorliegt, von dem der Steuerpflichtige oder diese anderen Personen profitiert haben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 13. April 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 20. April 2018, in dem Verfahren
SIA „Kuršu zeme”
gegen
Valsts ieņēmumu dienests
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters C. G. Fernlund (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina und V. Soņeca als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, O. Serdula und J. Vlácil als Bevollmächtigte,
- der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und I. Rubene als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SIA „Kuršu zeme” und dem Valsts ieņēmumu dienests (Steuerverwaltung, Lettland) (im Folgenden: VID) wegen dessen Weigerung, dieser Gesellschaft ein Recht auf Abzug der von ihr beim Erwerb von Gegenständen an die SIA „KF Prema” gezahlten Vorsteuer zu gewähren, da dieser Erwerb in Wirklichkeit nicht stattgefunden habe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b Ziff. i der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
- Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
i) durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt …”
Rz. 4
Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen’ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.”
Rz. 5
Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Als ‚innergemeinschaftlicher’ Erwerb von Gegenständen gilt die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird.”
Rz. 6
Art. 23 der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, die sicherstellen, dass Umsätze als ‚innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen’ eingestuft werden, die als ‚Lieferung von Gegenständen’ eingestuft würden, wenn sie in ihrem Gebiet von einem Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, getätigt worden wären.”
Rz. 7
Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Wird der Gegenstand vom Lieferer, vom Erwerber oder von einer dritten Person versandt oder befördert, gilt als Ort der Lieferung ...