Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung, Leistungen der Sozialfürsorge, Leistungen der sozialen Sicherheit, Rechtsanwalt als Berufsbetreuer, Erwachsenenschutz, Nicht geschäftsfähige Erwachsene, Betreuung nicht geschäftsfähiger Personen, Unternehmereigenschaft, Vertrauensschutz, Nacherhebung von MwSt
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 9 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 132 Abs. 1 Buchst. g
Beteiligte
Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA |
Verfahrensgang
Tribunal d`arrondissement de Luxembourg (Luxemburg) (Beschluss vom 20.11.2019; ABl. EU 2020, Nr. C 54/32) |
Tenor
1. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass Dienstleistungen, die zugunsten nicht geschäftsfähiger Erwachsener erbracht werden, um diese bei zivilrechtlichen Handlungen zu schützen, und deren Ausführung dem Dienstleistungserbringer von einer Justizbehörde kraft Gesetzes übertragen ist und deren Vergütung durch diese Behörde als Pauschalbetrag oder aufgrund einer Einzelfallprüfung, die u. a. die Vermögensverhältnisse der nicht geschäftsfähigen Person berücksichtigt, festgelegt wird, wobei diese Vergütung außerdem vom Staat übernommen werden kann, wenn die nicht geschäftsfähige Person nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügt, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung darstellen, wenn diese Dienstleistungen gegen Entgelt erbracht werden, der Dienstleistungserbringer daraus nachhaltige Einnahmen erzielt und die Gesamthöhe der Ausgleichszahlung für diese Tätigkeit nach Kriterien bestimmt wird, die sicherstellen, dass die diesem Dienstleistungserbringer entstandenen Betriebskosten gedeckt sind.
2. Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass Dienstleistungen zugunsten nicht geschäftsfähiger Erwachsener, die diese bei zivilrechtlichen Handlungen schützen sollen, „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen” sind und dass nicht ausgeschlossen ist, dass einem Anwalt, der solche Dienstleistungen erbringt, für das Unternehmen, das er betreibt, und in den Grenzen dieser Dienstleistungen eine Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter gewährt werden kann, wobei diese Anerkennung jedoch nur dann zwingend durch eine Justizbehörde zu gewähren ist, wenn der betreffende Mitgliedstaat durch die Verweigerung dieser Anerkennung die Grenzen des ihm in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessens überschritten hat.
3. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verwehrt es der Finanzverwaltung nicht, auf bestimmte, auf einen bereits verstrichenen Zeitraum entfallende Umsätze Mehrwertsteuer zu erheben, wenn sie über mehrere Jahre Mehrwertsteuererklärungen des Steuerpflichtigen akzeptiert hat, in denen gleichartige Umsätze nicht als steuerbare Umsätze aufgeführt waren, und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich ist, die geschuldete Mehrwertsteuer von denjenigen wiederzuerlangen, die eine Vergütung für diese Umsätze geleistet haben, wobei diese Mehrwertsteuer dann als in den bereits gezahlten Vergütungen enthalten anzusehen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal d'arrondissement (Bezirksgericht, Luxemburg) mit Entscheidung vom 20. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. November 2019, in dem Verfahren
EQ
gegen
Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz und T. Uri als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten zunächst durch R. Lyal und N. Gossement, dann durch R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 und Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EQ und der Administration de l'Enregistrement, des Domaines et de la TVA (Einregistrierungs-, Domänen- und Mehrwertsteuerverwaltung, Luxemburg) (im Folgenden: luxemburgische Steuerverwaltung) betreffend die Frage, ob Dienstleistungen, die ein Anwalt im Rahmen von Mandaten zum Schutz nicht geschäftsfähiger Erwachsener erbringt, die ihm von der zuständigen Justizbehörde kraft Gesetzes erteilt wurden, der Mehrwertsteuer unterliegen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie bestim...