Entscheidungsstichwort (Thema)
6b-Rücklage, Veräußerungsgewinn, Ersatzbeschaffung, Anlagevermögen einer inländischen Betriebsstätte, EU-Rechtswidrigkeit der 6b-Rücklage
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV und aus Art. 31 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 verstoßen, indem sie die in § 6b des Einkommensteuergesetzes vorgesehene Steuerregelung erlassen und beibehalten hat, nach der die Stundung der Steuerschuld für Gewinne, die bei der entgeltlichen Veräußerung eines zum Anlagevermögen einer in Deutschland belegenen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen gehörenden Anlageguts erzielt wurden, nur unter der Voraussetzung gewährt wird, dass diese Gewinne in den Erwerb von Ersatzwirtschaftsgütern reinvestiert werden, die zum Anlagevermögen einer in Deutschland belegenen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen gehören.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Normenkette
AEUV Art. 49; EWR-Abkommen Art. 31
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tatbestand
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ‐ Steuerrecht ‐ Stundung der Steuer auf den Gewinn, der bei der entgeltlichen Veräußerung bestimmter Anlagegüter realisiert wurde ‐ Steuererhebung ‐ Niederlassungsfreiheit ‐ Art. 49 AEUV ‐ Art. 31 des EWR-Abkommens ‐ Ungleichbehandlung von Betriebsstätten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und Betriebsstätten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums ‐ Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-591/13
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 20. November 2013,
Europäische Kommission, vertreten durch W. Mölls und W. Roels als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. November 2014,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV und aus Art. 31 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) verstoßen hat, indem sie Vorschriften erlassen und beibehalten hat, nach denen die Steuer auf den Gewinn, der bei der entgeltlichen Veräußerung bestimmter Anlagegüter (im Folgenden: ersetzte Wirtschaftsgüter) realisiert wurde, durch „Übertragung“ dieses Gewinns auf neu angeschaffte oder hergestellte Anlagegüter (im Folgenden: Ersatzwirtschaftsgüter) bis zu deren Veräußerung gestundet wird, soweit die letztgenannten Güter zum Anlagevermögen einer inländischen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen gehören, während eine solche Stundung nicht möglich ist, wenn die Güter zum Anlagevermögen einer Betriebsstätte des Steuerpflichtigen gehören, die sich in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des EWR-Abkommens befindet.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 2
§ 6b Abs. 1 bis 4 des deutschen Einkommensteuergesetzes (EStG) bestimmt:
„(1) Steuerpflichtige, die
Grund und Boden,
Aufwuchs auf Grund und Boden mit dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn der Aufwuchs zu einem land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen gehört,
Gebäude oder Binnenschiffe
veräußern, können im Wirtschaftsjahr der Veräußerung von den Anschaffungs- oder Herstellungskosten der in Satz 2 bezeichneten Wirtschaftsgüter, die im Wirtschaftsjahr der Veräußerung oder im vorangegangenen Wirtschaftsjahr angeschafft oder hergestellt worden sind, einen Betrag bis zur Höhe des bei der Veräußerung entstandenen Gewinns abziehen. Der Abzug ist zulässig bei den Anschaffungs- oder Herstellungskosten von
1. Grund und Boden,
soweit der Gewinn bei der Veräußerung von Grund und Boden entstanden ist,
2. Aufwuchs auf Grund und Boden mit dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn der Aufwuchs zu einem land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen gehört,
soweit der Gewinn bei der Veräußerung von Grund und Boden oder der Veräußerung von Aufwuchs auf Grund und Boden mit dem dazugehörigen Grund und Boden entstanden ist,
3. Gebäuden,
soweit der Gewinn bei der Veräußerung von Grund und Boden, von Aufwuchs auf Grund und Boden mit dem dazugehörigen Grund und Boden oder Gebäuden entstanden ist, oder
4. Binnenschiffen,
soweit der Gewinn bei der Veräußerung von Binnenschiffen entstanden ist.
Der Anschaffung oder Herstellung von Gebäuden steht ihre Erweiterung, ihr Ausbau oder ihr Umbau gle...