Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiheit der Wahl – Chancengleichheit der Wahlbewerber
Leitsatz (amtlich)
1. Aus dem allgemeinen Grundsatz der Freiheit der Wahl folgt die Verpflichtung des Wahlvorstands, während der laufenden Betriebsratswahl Dritten keine Einsichtnahme in die mit den Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste zu gestatten.
2. Gewährt der Wahlvorstand einzelnen Wahlbewerbern diese Einsichtnahme, verletzt er neben diesem Grundsatz außerdem den ungeschriebenen Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber.
Normenkette
BetrVG § 19 Abs. 1, 2 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats wird der Beschluß des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 1. Juni 1999 – 2 TaBV 1/99 – aufgehoben, soweit der Beschluß des Arbeitsgerichts Hamburg vom 13. Oktober 1998 – 17 BV 8/98 – abgeändert und die Wahl des Betriebsrats für unwirksam erklärt wurde.
Insoweit wird das Verfahren zur anderweiten Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Gründe
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl.
Die Antragsteller sind Arbeitnehmer des Betriebes Nord der Arbeitgeberin. Dort wurde vom 12. bis 14. Mai 1998 ein neunköpfiger Betriebsrat gewählt. Die Wahl wurde als Gruppenwahl durchgeführt. Dem bei der Gruppe der Arbeiter für die Liste der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) kandierenden Wahlbewerber S. wurde am letzten Wahltag während des noch laufenden Wahlvorgangs vom Wahlvorstand Einblick in die mit den Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste gegeben. Er veranlaßte daraufhin, daß einige Arbeitnehmer, die noch nicht gewählt hatten, angerufen wurden, um sie zur Stimmabgabe zu bewegen.
Das Wahlergebnis wurde nach Darstellung der Antragsteller am 15. Mai 1998, nach Angabe des Betriebsrats und der Arbeitgeberin bereits am 14. Mai 1998, bekanntgegeben. Bei der Wahl der sieben Angestelltenvertreter entfielen 97 Stimmen auf die Liste der Verkehrsgewerkschaft (GDBA), 76 Stimmen auf die GdED sowie 50 Stimmen auf die Freie Liste. Damit erreichten die GDBA und die GdED je drei Sitze, die Freie Liste einen Sitz. Bei der Gruppe der Arbeiter errang die GdED beide Sitze. Ihr Kandidat S. wurde zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt.
Mit Schriftsatz vom 28. Mai 1998 haben die Antragsteller die Wahl angefochten. Die Antragsschrift gelangte in dreifacher Weise zum Arbeitsgericht Hamburg. Ein Telefax trägt den Eingangsstempel „Gemeinsame Annahmestelle b.d. Amtsgericht Hamburg 28. Mai 1998 eingeg. über Telefax” sowie den Eingangsstempel des Arbeits- und Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 3. Juni 1998. Ein Original des Schriftsatzes trägt den Eingangsstempel des Arbeits- und Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 29. Mai 1998. Ein weiteres Original trägt den Eingangsstempel „eingegangen durch Gerichtsbriefkasten Ziviljustizgebäude Hamburg 38 am 28. Mai 1998 zwischen Dienstschluß und 24.00 Uhr” sowie den weiteren Eingangsstempel des Arbeits- und Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 2. Juni 1998.
Die Antragsteller haben geltend gemacht, die Einsichtnahme des Wahlbewerbers S. in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Wahlverfahren dar. Sie haben beantragt,
- die Wahl des Betriebsrats der M. AG & Co., Region Nord, vom 12. bis 14. Mai 1998 für nichtig zu erklären,
- hilfsweise, die Wahl des Betriebsrats der M. AG & Co., Region Nord, vom 12. bis 14. Mai 1998 für unwirksam zu erklären.
Betriebsrat und Arbeitgeberin haben beantragt,
die Anträge abzuweisen.
Sie haben darauf hingewiesen, daß es keine Vorschrift gebe, welche die Einsichtnahme in die Wählerliste nach Beginn der Stimmabgabe untersage.
Das Arbeitsgericht hat die Anträge vollständig abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Betriebsratswahl für unwirksam erklärt und die weitergehende Beschwerde der Antragsteller zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde erstrebt der Betriebsrat die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Beschlusses. Die Antragsteller beantragen die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
B. Die zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Verfahrens an das Landesarbeitsgericht. Dieses muß noch klären, ob die Wahl rechtzeitig angefochten wurde. Hierauf kommt es an, da die Wahlanfechtung, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, der Sache nach begründet ist.
I. Nach den bisher getroffenen Feststellungen läßt sich nicht zuverlässig feststellen, ob die Anfechtungsfrist des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG gewahrt ist. Nach dieser Bestimmung ist die Wahlanfechtung nur binnen einer Frist von zwei Wochen, vom Tage der Bekanntgabe des Wahlergebnisses an gerechnet, zulässig.
1. Nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts konnte dahinstehen, ob das Wahlergebnis am 14. Mai 1998 oder am 15. Mai 1998 bekanntgegeben worden ist. Denn zwischen den Beteiligten sei nicht mehr streitig, daß die Anfechtung durch den am 28. Mai 1998 bei Gericht eingegangenen Antrag erfolgt sei; der Eingang bei der Gemeinsamen Annahmestelle bei dem Amtsgericht Hamburg wie auch im Gerichtsbriefkasten des Ziviljustizgebäudes wahre die Fristen auch für arbeitsgerichtliche Streitigkeiten. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts sind nicht frei von Rechtsfehlern.
2. Die Wahrung der nach § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG einzuhaltenden Anfechtungsfrist ist notwendige Voraussetzung der Anfechtung einer Betriebsratswahl. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben daher gemäß § 83 Abs. 1 Satz 1, § 90 Abs. 2 ArbGG von Amts wegen die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen. Hierzu gehört die Feststellung des Zeitpunkts der Bekanntgabe des Wahlergebnisses (§ 18 Abs. 3 Satz 1 BetrVG) sowie des Eingangs des Antrags (§ 81 Abs. 1 ArbGG) beim Arbeitsgericht. Die genauen Zeitpunkte können nur dann dahingestellt bleiben, wenn die Anfechtungsfrist in jedem Fall gewahrt ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
a) Wenn das Ergebnis der Betriebsratswahl, wie vom Betriebsrat und der Arbeitgeberin vorgetragen, am 14. Mai 1998 bekanntgegeben wurde, lief die zweiwöchige Anfechtungsfrist gemäß § 188 Abs. 2, § 187 Abs. 1 BGB am 28. Mai 1998 ab. Sie ist daher nur dann gewahrt, wenn zumindest eine der drei Antragsschriften spätestens an diesem Tag beim Arbeitsgericht eingegangen ist. Hierzu hat das Landesarbeitsgericht keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Seine Ausführung, der Eingang bei der gemeinsamen Annahmestelle bei dem Amtsgericht Hamburg wie auch im Gerichtsbriefkasten des Ziviljustizgebäudes wahre die Fristen auch für arbeitsrechtliche Streitigkeiten, ist keine tatsächliche Feststellung, sondern eine rechtliche Beurteilung, für die es an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlt.
b) Allerdings ist der bei einer gemeinsamen Eingangsstelle mehrerer Gerichte eingegangene Schriftsatz mit der Einreichung bei dieser Eingangsstelle bei dem Gericht eingereicht, an das er gerichtet ist (vgl. BGH NJW 1983, 123, zu II 2 b der Gründe; BGH NJW 1990, 990, zu II 2 der Gründe; BGH NJW-RR 1993, 254, zu II 1 der Gründe; BGH NJW-RR 1996, 443, zu II 1 der Gründe; vgl. auch BAG 13. September 1995 – 2 AZR 995/94 – nv., zu II 1 der Gründe). Für Telefaxe gilt entsprechendes (BGH NJW 1990, 990, zu II 2 der Gründe; BAG 13. September 1995, aaO). Wenn daher eine der drei Antragsschriften am 28. Mai 1998 bei einer vom Arbeitsgericht Hamburg mit eingerichteten Eingangsstelle eingegangen sein sollte, wäre auch bei einer Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 14. Mai 1998 die Anfechtungsfrist gewahrt. Das Landesarbeitsgericht hat aber keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen zu einer solchen vom Arbeitsgericht mit eingerichteten Eingangsstelle getroffen. Die vom Arbeitsgericht Hamburg auf den drei Antragsschriften angebrachten Eingangsstempel weisen sämtlich nicht den 28. Mai 1998, sondern den 29. Mai 1998, den 2. Juni 1998 und den 3. Juni 1998 aus. Diese Eingangsstempel weisen zwar darauf hin, daß das Arbeitsgericht Hamburg und das Landesarbeitsgericht Hamburg eine gemeinsame Eingangsstelle haben. Anhaltspunkte für eine vom Arbeitsgericht Hamburg und vom Amtsgericht Hamburg eingerichtete gemeinsame Posteingangsstelle oder auch eine gemeinsame Telefax-Empfangseinrichtung dieser beiden Gerichte ergeben sich jedoch hieraus nicht. Auch der Eingangsstempel auf der per Telefax versandten Antragsschrift „Gemeinsame Annahmestelle b.d. Amtsgericht Hamburg” läßt nicht erkennen, daß diese Annahmestelle auch für das Arbeitsgericht eingerichtet ist. Hiergegen spricht vielmehr der vom Arbeitsgericht gesondert angebrachte Eingangstempel vom 3. Juni 1998. Dieses Eingangsstempels hätte es nämlich nicht bedurft, wenn der Eingang bereits am 28. Mai 1998 bei einer vom Arbeitsgericht gemeinsam mit dem Amtsgericht eingerichteten Eingangsstelle erfolgt wäre.
II. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung und zur Zurückverweisung. Der Senat kann nicht gem. § 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG iVm. § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO in der Sache selbst entscheiden. Es kommt auf die Rechtzeitigkeit der Wahlanfechtung an. Diese ist nämlich, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, in der Sache begründet.
1. Nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Betriebsratswahl angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden ist und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, daß durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflußt werden konnte. Vorliegend sind der allgemeine Grundsatz der freien Wahl sowie der ungeschriebene Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber verletzt. Aus diesen folgt, daß der Wahlvorstand grundsätzlich niemandem während des noch laufenden Wahlvorgangs Einblick in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste gewähren darf.
2. Ausdrückliche Bestimmungen darüber, ob der Wahlvorstand Wahlbewerbern oder anderen wahlberechtigten Arbeitnehmern während der noch laufenden Wahl den Einblick in die beim Wahlvorgang gem. § 12 Abs. 3 Satz 2 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes (WO 72) zu verwendende Wählerliste gestatten darf oder gar muß, enthalten weder das BetrVG noch die WO 72.
a) Ein Anspruch auf Einsichtnahme folgt, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, nicht aus § 2 Abs. 4 Satz 1 WO 72. Nach dieser Bestimmung ist ein Abdruck der Wählerliste vom Tage der Einleitung der Wahl bis zum Abschluß der Stimmabgabe an geeigneter Stelle im Betrieb zur Einsichtnahme auszulegen. Bei diesem Abdruck handelt es sich weder dem Gegenstand noch der Funktion nach um die nach § 12 Abs. 3 Satz 2 WO 72 zu verwendende, mit Stimmabgabevermerken zu versehende Wählerliste. Die durch § 2 Abs. 4 Satz 1 WO 72 vorgeschriebene Auslegung eines Abdrucks der Wählerliste soll Arbeitnehmern, Arbeitgeber und den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften die Überprüfung ermöglichen, ob alle Wahlberechtigten in die Wählerliste eingetragen sind. Dagegen ist die nach § 12 Abs. 3 Satz 2 WO 72 mit Stimmabgabevermerken zu versehende Wählerliste lediglich ein gesetzlich vorgeschriebenes Hilfsmittel des Wahlvorstands, durch das verhindert werden soll, daß Wahlberechtigte ihre Stimme mehrfach abgeben. Sie dient daher jedenfalls während des noch laufenden Wahlvorgangs nicht einem Informationsinteresse Dritter.
b) Ein Anspruch auf Einblick in die Wählerliste mit den Stimmabgabevermerken ergibt sich vor Abschluß der Wahlhandlung auch nicht aus § 20 WO 72. Allerdings gehört die Wählerliste mit den Stimmabgabevermerken zu den Wahlakten, die der Betriebsrat nach dieser Bestimmung bis zur Beendigung seiner Amtszeit aufzubewahren hat. Auch geht die allgemeine Auffassung im Schrifttum davon aus, daß Arbeitgeber, Arbeitnehmer sowie jede im Betrieb vertretene Gewerkschaft ein Recht auf Einsicht in die Wahlakten haben (Fitting/Kaiser/Heither/Engels BetrVG 20. Aufl. § 20 WO 72 Rn. 1; GK-BetrVG-Kreutz 6. Aufl. § 20 WO Rn. 3; Richardi BetrVG 7. Aufl. § 20 WO 72 Rn. 2; Däubler/Kittner/Klebe-Schneider BetrVG 7. Aufl. § 20 WO Rn. 4). Dieses Recht dient jedoch dazu, die Ordnungsmäßigkeit der Wahl, insbesondere auch anläßlich eines Wahlanfechtungsverfahrens überprüfen zu können (so ausdrücklich Däubler/Kittner/Klebe-Schneider § 20 WO Rn. 4; ebenso wohl auch Fitting/Kaiser/Heither/Engels aaO § 20 WO 72 Rn. 1; GK-BetrVG-Kreutz 6. Aufl. § 20 WO Rn. 3). Ein Anspruch darauf, sich während des laufenden Wahlverfahrens anhand der Stimmabgabevermerke Kenntnis über das Wahlverhalten der Wahlberechtigten zu verschaffen, folgt hieraus dagegen nicht.
3. Die Pflicht des Wahlvorstands, vor Abschluß der Wahlhandlung keinen Einblick in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste zu geben, folgt aus dem allgemeinen Grundsatz der freien Wahl.
a) Die – für die Bundestagswahl durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete – Freiheit der Wahl besteht darin, daß jeder Wähler sein Wahlrecht ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussungen von außen ausüben kann. Zwar gewährleistet grundsätzlich bereits das Wahlgeheimnis, daß an die individuelle Wahlentscheidung Sanktionen nicht geknüpft werden können. Der Wähler soll aber nach dem Grundsatz der Freiheit der Wahl schon vor Beeinflussungen geschützt werden, die geeignet sind, seine Entscheidungsfreiheit trotz bestehenden Wahlgeheimnisses ernstlich zu beeinträchtigen. Hierzu gehört auch der unzulässige Druck von seiten anderer Bürger oder gesellschaftlicher Gruppen (BVerfG 10. April 1984 – 2 BvC 2/83 –BVerfGE 66, 369, 380 mwN). Im Betriebsverfassungsrecht hat der allgemeine Grundsatz der freien Wahl im Verbot der Wahlbehinderung und der Wahlbeeinflussung in § 20 Abs. 1 und 2 BetrVG seinen Ausdruck gefunden. Das in § 20 Abs. 2 BetrVG enthaltene Verbot der Wahlbeeinflussung dient auch der Integrität der Betriebsratswahl. Diese soll allein auf der freien Entscheidung der Betriebsangehörigen beruhen (BVerfG 24. Februar 1999 – 1 BvR 123/93 – AP BetrVG 1972 § 20 Nr. 18, zu II 2 b cc der Gründe; Däubler/Kittner/Klebe-Schneider BetrVG 7. Aufl. § 20 Rn. 1; Richardi BetrVG 7. Aufl. § 20 Rn. 12). Der Grundsatz der freien Wahl umfaßt, jedenfalls solange der Gesetzgeber keine allgemeine Wahlpflicht einführt (ob dies verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist umstritten; vgl. die Nachweise bei v. Münch/Kunig GG 3. Aufl. Art. 38 Rn. 32), auch die Freiheit der Entscheidung nicht zu wählen (vgl. v. Münch/Kunig GG 3. Aufl. Art. 38 Rn. 32 mwN; Dreier/Morlok GG Art. 38 Rn. 83; Jarass/Pieroth GG Art 38 Rn. 9). Auch bei dieser Entscheidung darf der Wahlberechtigte keinem unzulässigen Druck ausgesetzt werden. Dies macht § 108 Abs. 1 StGB deutlich, der unter bestimmten Voraussetzungen auch die Nötigung, überhaupt zu wählen, unter Strafandrohung stellt (vgl. Eser in: Schönke-Schröder StGB 25. Aufl. § 108 Rn. 3).
b) Dies bedeutet nicht, daß nicht dafür geworben werden dürfte, zur Wahl zu gehen. Wahlwerbung ist vielmehr zulässig. Sie ist bei Betriebsratswahlen nicht nur durch Art. 5 Abs. 1 GG, sondern für Koalitionen auch durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt (vgl. BVerfG 30. November 1965 – 2 BvR 54/62 – BVerfGE 19, 303 = AP GG Art. 9 Nr. 7, zu B I 2 d der Gründe; Fitting/Kaiser/Heither/Engels BetrVG 20. Aufl. § 20 Rn. 6; Däubler/Kittner/Klebe-Schneider BetrVG 7. Aufl. § 20 Rn. 23 ff.). Zu einer zulässigen Wahlwerbung gehört es auch, wenn Wahlberechtigte generell oder auch individuell dazu aufgefordert werden, ihr Wahlrecht auszuüben. Dies kann noch während des bereits laufenden Wahlvorgangs geschehen. Die hiermit verbundene Ansprache und Beeinflussung des Wahlberechtigten ist, solange keine unzulässigen Mittel verwandt werden, Bestandteil eines demokratischen Wahlverfahrens.
c) Eine unzulässige Drucksituation entsteht jedoch, wenn die Aufforderung an den Wahlberechtigten, zu wählen, mit dem gezielten Hinweis und dem Vorhalt verbunden werden kann, der Wahlberechtigte habe, wie sich aus den Wahlunterlagen ergebe, von seinem Wahlrecht noch keinen Gebrauch gemacht. Der Wahlberechtigte befindet sich in diesem Fall nicht mehr in derselben Situation wie derjenige, über dessen Wahlverhalten keine sicheren Informationen vorliegen. Anders als dieser kann er sich einer Diskussion über sein Wahlverhalten nicht mit dem Hinweis entziehen, der andere wisse doch gar nicht, ob er bereits gewählt habe. Vielmehr ist er dem Druck ausgesetzt, sich dafür rechtfertigen zu müssen, noch nicht gewählt zu haben. Auch muß er verstärkt befürchten, sich die Kritik oder die Geringschätzung Dritter zuzuziehen, wenn er trotz der gezielten Ansprache weiterhin nicht zur Wahl geht. Solange der Gesetzgeber keine Wahlpflicht einführt, ist diese Drucksituation kein notwendiger oder gar gewollter Bestandteil des demokratischen Wahlverfahrens. Sie ist vielmehr mit dem Grundsatz der Wahlfreiheit nicht vereinbar.
d) Die unzulässige Drucksituation entsteht allerdings nicht bereits unmittelbar durch den Einblick Dritter in die vom Wahlvorstand geführte, mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste. Diese Dritten werden aber hierdurch in die Lage versetzt, Wahlberechtigte, die noch nicht gewählt haben, während des noch laufenden Wahlvorgangs gezielt anzusprechen und diesem Druck auszusetzen. Um dies zu verhindern, ist der Wahlvorstand verpflichtet, Dritten vor Abschluß der Wahlhandlung keinen Einblick in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste zu gewähren. Würde man eine solche Einsichtnahme gestatten, bestünde die ernsthafte Gefahr, daß diese Möglichkeit in erheblichem Umfang in Anspruch genommen wird und einzelnen Wahlberechtigten wegen ihrer Entscheidung, nicht zu wählen, von interessierten Dritten, insbesondere von Wahlbewerbern, während des noch laufenden Wahlgangs möglicherweise sogar vielfach und wiederholt Vorhalte wegen ihres Wahlverhaltens gemacht werden. Damit unterläge ihr Wahlverhalten einer mit dem Grundsatz der Freiheit der Wahl unvereinbaren Steuerung von dritter Seite. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, Wahlbewerber könnten die entsprechende Kenntnis auch dann erlangen, wenn sie, was zulässig ist, selbst zum Mitglied des Wahlvorstandes oder von diesem zum Wahlhelfer bestellt sind. Aus dem Grundsatz der Freiheit der Wahl folgt nämlich, daß auch diese ihre Kenntnis nicht dahin ausnutzen dürfen, Wahlberechtigte auf ihr noch nicht ausgeübtes Wahlrecht anzusprechen.
4. Dieses Ergebnis entspricht der zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Schrifttum vertretenen Auffassung. Danach ist bei Bundestagswahlen nicht nur während, sondern auch noch nach der Wahl die Mitteilung der Namen der Nichtwähler an staatliche Stellen, Parteien oder sonstige Personen grundsätzlich unzulässig. Verletzt werde durch eine solche Mitteilung der Grundsatz der geheimen Wahl (v. Münch/Kunig GG 3. Aufl. Art. 38 Rn. 62; Dreier/Morlok GG Art. 38 Rn. 113; Maunz-Dürig GG Stand Oktober 1999 Art. 38 Rn. 54; Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte GG Art. 38 Rn. 153). Der Senat läßt dahinstehen, ob durch die Gestattung der Einsichtnahme in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste der in § 14 Abs. 1 BetrVG ausdrücklich auch für Betriebsratswahlen normierte Grundsatz der geheimen Wahl in der Ausgestaltung, die er durch das BetrVG und die WO 72 erfahren hat, verletzt wird. Die Bestimmungen der WO 72 sind jedenfalls nicht darauf angelegt, den Wahlberechtigten dauerhaft vor der Kenntnis anderer zu schützen, ob er sein Wahlrecht wahrgenommen hat. Vielmehr ist dies anhand der aufzubewahrenden Wahlunterlagen noch während der gesamten Dauer der Betriebsratsperiode feststellbar. Auch die dem Schutz des Wahlgeheimnisses dienende Vorschrift des § 107 c StGB schützt den Wähler auf Dauer nur davor, daß andere erfahren, wie, nicht dagegen, ob er gewählt hat (vgl. Eser in: Schönke-Schröder StGB 25. Aufl. § 107 c Rn. 2).
5. Durch die nur einem einzelnen Wahlbewerber gewährte Einsichtnahme in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste verletzt ein Wahlvorstand ferner das Gebot der Chancengleichheit der Wahlbewerber. Dieses Gebot ist zwar weder im BetrVG noch in der WO 72 ausdrücklich normiert. Es handelt sich hierbei aber um einen ungeschriebenen Grundsatz einer demokratischen Wahl. Nach ihm soll jeder Wahlbewerber die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlverfahren und damit die gleiche Chance im Wettbewerb um die Wählerstimmen haben (vgl. zur Chancengleichheit der Parteien bei Bundestagswahlen BVerfGE 47, 198, 225, 226; BVerfGE 21, 196, 199). Diese Chancengleichheit ist nicht mehr gewährleistet, wenn einzelne Wahlbewerber aufgrund der nur ihnen vom Wahlvorstand eröffneten Kenntnis über das Wahlverhalten der Wahlberechtigten während des noch laufenden Wahlvorgangs gezielt auf Wahlberechtigte zugehen können, von denen sie sich noch eine ihnen günstige Stimmabgabe versprechen. Denn hierdurch werden die Chancen dieser Wahlbewerber gegenüber den Chancen der übrigen Wahlbewerber objektiv verbessert. Auf eine entsprechende Absicht des Wahlvorstands kommt es nicht an. Dabei läßt der Senat dahinstehen, ob den Wahlvorstand, wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat, auch eine über die Pflicht zur Beachtung der Wahlvorschriften des BetrVG, der WO 72 und die allgemeinen Wahlgrundsätze hinausgehende, ungeschriebene Neutralitätspflicht trifft.
6. Die Grundsätze der freien Wahl und der Chancengleichheit der Wahlbewerber sind iSv. § 19 Abs. 1 BetrVG wesentliche Grundsätze des Wahlrechts. Sie dienen der Integrität einer demokratischen Wahl. Ihre Verletzung ist geeignet, eine Wahlanfechtung zu rechtfertigen.
7. Vorliegend hat der Wahlvorstand gegen diese Grundsätze verstoßen, indem er dem Wahlbewerber S. am letzten Wahltag während des noch laufenden Wahlvorgangs Einblick in die mit den Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste gewährte.
8. Der Verstoß war geeignet, das Wahlergebnis zu beeinflussen.
a) Nach § 19 Abs. 1 letzter Halbsatz BetrVG berechtigen Verstöße gegen wesentliche Wahlvorschriften nur dann nicht zur Anfechtung der Betriebsratswahl, wenn durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflußt werden konnte. Dafür ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte (vgl. BAG 14. September 1988 – 7 ABR 93/87 – BAGE 59, 328 ff. = AP BetrVG 1972 § 16 Nr. 1, zu B IV 2 der Gründe; BAG 31. Mai 2000 – 7 ABR 78/98 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu B IV 6 a der Gründe).
b) Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß ohne die dem Wahlbewerber S. gewährte Einsichtnahme in die Wählerliste das Wahlergebnis zwingend dasselbe gewesen wäre. Nach den mit zulässigen Rügen nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Wahlbewerber S. nach Einsicht in die Wählerliste veranlaßt, daß einige Arbeitnehmer, die noch nicht gewählt hatten, angerufen wurden, um sie zur Stimmabgabe zu bewegen. Dann kann nicht ausgeschlossen werden, daß durch diese gezielte Ansprache Arbeitnehmer gewählt haben, die sonst nicht gewählt hätten. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht auch erkannt, daß bei der Gruppe der Angestellten nach dem durch § 15 WO 72 vorgeschriebenen d`Hondtschen Höchstzahlverfahren bereits eine für die Liste der GdED weniger abgegebene Stimme die Sitzverteilung im Betriebsrat hätte ändern können. Bei der Gruppe der Angestellten wäre dann sowohl bei der Liste der GdED als auch bei der Freien Liste die niedrigste in Betracht kommende Höchstzahl 25 gewesen und es hätte nach § 15 Abs. 2 Satz 3 WO 72 das Los darüber entscheiden müssen, welcher Vorschlagsliste dieser Sitz zufällt.
Unterschriften
Dörner, Steckhan, Linsenmaier, Wilke, Seiler
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 06.12.2000 durch Schiege, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 584722 |
BAGE, 326 |
DB 2000, 2533 |
DB 2001, 1422 |
DStR 2001, 411 |
NWB 2000, 4654 |
NWB 2001, 2173 |
BuW 2001, 699 |
ARST 2001, 46 |
FA 2001, 276 |
FA 2001, 58 |
FA 2001, 87 |
JR 2002, 220 |
AP, 0 |
AuA 2001, 84 |
MDR 2001, 880 |
PERSONAL 2001, 710 |
ZMV 2001, 42 |
RdW 2001, 504 |
AuS 2001, 60 |
PP 2001, 28 |
b&b 2001, 188 |
www.judicialis.de 2000 |