Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
Leitsatz (amtlich)
1. Der Geltungsbereich eines Firmentarifvertrages erstreckt sich über den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts hinaus (§ 72 a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG), wenn es für die Geltendmachung von tariflichen Rechten aufgrund auswärtiger Betriebsstätten auch Gerichtsstände in Bezirken anderer Landesarbeitsgerichte gibt als dem, in dessen Bezirk das betreffende Unternehmen seinen Sitz hat.
2. Für die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Tarifauslegung genügt es, wenn der Beschwerdeführer innerhalb der Frist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nachvollziehbar darlegt, daß die Auslegungsfrage für eine größere Zahl von Arbeitnehmern rechtliche Bedeutung hat. Wird dieser Vortrag durch den Beschwerdegegner substantiiert in Frage gestellt, muß der Beschwerdeführer sein Vorbringen soweit konkretisieren, daß die grundsätzliche Bedeutung der Auslegungsfrage plausibel bleibt. Dies kann er auch nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist tun (im Anschluß an BAG 15. November 1995 – 4 AZN 580/95 – AP ArbGG 1979 § 72 a Grundsatz Nr. 49 = EzA ArbGG 1979 § 72 a Nr. 72).
Normenkette
ArbGG § 72a; ZPO § 29
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 2. Dezember 1999 – 4 Sa 912/99 – wird für die Beklagte zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um die Höhe der dem Kläger mit Vollendung des 55., 60. und 63. Lebensjahres zustehenden vorgezogenen betrieblichen Altersrente.
Die Beklagte, die in München einen Rundfunksender und in L und B technische Sendestationen betrieb, erbringt an ihre früheren Mitarbeiter Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach Maßgabe einer tarifvertraglichen Versorgungsvereinbarung vom 2. Juni 1981. Der am 28. Februar 1950 geborene Kläger war vom 1. Juni 1984 bis zum 30. Juni 1995 bei der Beklagten beschäftigt. Unter dem 28. Juni 1996 ließ die Beklagte dem Kläger mitteilen, seine Versorgungsanwartschaft belaufe sich bei vorgezogener Inanspruchnahme mit Vollendung des 55. Lebensjahres auf 559,00 DM. Nehme er die Betriebsrente erst ab Vollendung seines 60. bzw. 63. Lebensjahres in Anspruch, betrage sie 964,00 bzw. 1.257,00 DM. Mit seiner Klage hat er geltend gemacht, ihm stünden nach der Versorgungsvereinbarung je nach vorgezogener Inanspruchnahme 828,11 DM, 1.150,75 DM oder 1.344,33 DM monatlich zu. Seinen auf eine entsprechende Feststellung gerichteten Klageantrag hat das Arbeitsgericht abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihm stattgegeben. Es hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Divergenz gestützte Beschwerde der Beklagten.
II. Die Beschwerde der Beklagten ist begründet. Die Revision ist jedenfalls deshalb nachträglich zuzulassen, weil der Rechtsstreit einen der in § 72 a Abs. 1 Nr. 1 – 3 ArbGG abschließend aufgezählten Streitgegenstände betrifft und grundsätzliche Bedeutung (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG) hat.
1. Die Parteien streiten um die Auslegung eines Tarifvertrages (§ 72 a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG). Es geht darum, wie ein Anspruch auf vorgezogene Betriebsrente nach vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nach den Regelungen des als Versorgungsvereinbarung bezeichneten Firmentarifvertrages zu errechnen ist; insbesondere darum, ob von dem bis zum vorzeitigen Ausscheiden erreichten Versorgungsbesitzstand nur ein versicherungsmathematischer Abschlag vorzunehmen ist, oder ob eine zusätzliche Kürzung nach Nr. 8.2 der Versorgungsvereinbarung zu erfolgen hat. Das Landesarbeitsgericht ist der klägerischen Auffassung gefolgt und hat angenommen, der in Nr. 4.2 vorgesehene versicherungsmathematische Abschlag sei die für diesen Fall allein maßgebliche Kürzungsbestimmung. Um ihn sei der bis zum vorzeitigem Ausscheiden erdiente und ab Vollendung des 65. Lebensjahres zu zahlende Teilbetrag zu kürzen. Die Beklagte meint demgegenüber, die Versorgungsvereinbarung sehe für einen solchen Fall drei Rechenschritte vor: Zunächst müsse der bis zum Zeitpunkt der vorgezogenen Inanspruchnahme ohne vorheriges Ausscheiden erreichbare Versorgungsbesitzstand errechnet werden; dieser sei wegen des vorgezogenen Bezugs versicherungsmathematisch zu kürzen; schließlich sei der sich daraus ergebende Betrag wegen des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis nach Nr. 8.2 der Versorgungsvereinbarung, die § 2 Abs. 1 BetrAVG entspricht, zeitratierlich zu kürzen.
Bei dieser Auslegung geht es um Regelungen eines Tarifvertrages, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirks des Landesarbeitsgerichts München hinaus erstreckt (§ 72 a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG). Bei einem Firmentarifvertrag wie der Versorgungsvereinbarung ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn es für die Geltendmachung von Rechten aus dem Tarifvertrag auch Gerichtsstände im Bezirk eines anderen Landesarbeitsgerichts gibt, als dem, in dessen Bezirk das betreffende Unternehmen seinen Sitz hat.
Die Versorgungsvereinbarung erstreckt ihren Geltungsbereich jedenfalls auch in den Bezirk des Hessischen Landesarbeitsgerichts. Die Beklagte unterhielt in L und B zwei technische Sendestationen, in denen mehrere Arbeitnehmer ständig und ausschließlich beschäftigt waren. Da damit der wirtschaftliche und technische Mittelpunkt von deren Arbeitsverhältnissen in diesen Gemeinden lag, ist für Streitigkeiten aus ihren Arbeitsverhältnissen nach § 29 ZPO, § 46 Abs. 2 ArbGG auch das Arbeitsgericht in Darmstadt zuständig, das im Bezirk des Hessischen Landesarbeitsgerichts liegt. Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes gilt für alle Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis, auch für Betriebsrentenansprüche, die auf dem Arbeitsverhältnis beruhen, auch wenn sie erst nach dessen Beendigung fällig werden(vgl. Germelmann/Matthes/Prütting ArbGG 3. Aufl. § 2 Rn. 164 mwN).
2. Der Rechtsstreit hat auch grundsätzliche Bedeutung (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).
Dies ist dann der Fall, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt und diese Klärung wegen ihrer tatsächlichen Bedeutung die Interessen zumindest eines größeren Teils des Allgemeinheit eng berührt. Letzeres ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Entscheidung für mehr als 20 gleich oder ähnlich liegende Arbeitsverhältnisse rechtliche Bedeutung hat(vgl. BAG 28. September 1989 – 6 AZN 303/89 – BAGE 63, 58; 15. November 1995 – 4 AZN 580/95 – AP ArbGG 1979 § 72 a Grundsatz Nr. 49 = EzA ArbGG 1979 § 72 a Nr. 72; 21. Oktober 1998 – 10 AZN 588/98 – AP ArbGG 1979 § 72 a Grundsatz Nr. 55).
Die aufgeworfene Auslegungsfrage ist in der Revisionsinstanz klärungsfähig, weil die Entscheidung des Rechtsstreits von ihr abhängt. Sie ist auch klärungsbedürftig, weil noch keine einschlägige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Versorgungsvereinbarung der Beklagten vorliegt. Die Auslegungsfrage ist schon deshalb von einer über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgehenden Bedeutung, weil es in einer Vielzahl von Versorgungsordnungen vergleichbare Regelungen gibt, die daraufhin zu untersuchen sind, inwieweit sie eine eigenständige Regelung für den Fall der vorgezogenen Inanspruchnahme einer Betriebsrente nach vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis enthalten.
Die aufgeworfene Rechtsfrage ist darüber hinaus auch für eine größere Zahl von gleichartigen, zwischenzeitlich beendeten Arbeitsverhältnissen von rechtlicher und wirtschaftlicher Bedeutung. Die Höhe der Versorgungsansprüche aller in den Geltungsbereich der Versorgungsvereinbarung fallenden Arbeitnehmer, die mit einer unverfallbaren Versorgungsanwartschaft vorzeitig aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten ausgeschieden sind, aber noch nicht Betriebsrentner sind und Betriebsrente vorgezogen in Anspruch nehmen können, ist von der Entscheidung der zwischen den Parteien streitigen Auslegungsfrage abhängig. Damit kann diese Auslegungsfrage für ihren Entschluß, wann sie Betriebsrente in Anspruch nehmen, von wesentlicher Bedeutung sein. Hinzu kommen die Betriebsrentner der Beklagten, die bereits vorgezogene Betriebsrente in Anspruch nehmen. Bei ihnen kann eine Nachberechnung erforderlich werden. Die Beklagte hatte mit ihrer Beschwerdebegründung zunächst nur allgemein behauptet, hier handele es sich um etwa 200 Anwartschaftsberechtigte. Diese Zahl war angesichts der Größe des Betriebes der Beklagten in Deutschland und des Umstandes plausibel, daß die Beklagte ihre unternehmerischen Aktivitäten in Deutschland eingestellt hat. Angesichts dessen genügte die Beklagte mit diesem Vorbringen ihrer Begründungspflicht aus § 72 a Abs. 3 ArbGG. Nachdem der Kläger den Beklagtenvortrag substantiiert in Frage gestellt hatte, hat die Beklagte unter Vorlage von Namenslisten im einzelnen für das Gericht nachvollziehbar dargelegt, daß jedenfalls weit mehr als 20 frühere Arbeitnehmer von der anstehenden Entscheidung betroffen sind, weil sie entweder vorgezogene Betriebsrente in Anspruch nehmen oder mit einer unverfallbaren Versorgungsanwartschaft vorzeitig ausgeschieden sind und noch die Möglichkeit haben, Betriebsrente vorgezogen in Anspruch zu nehmen. Dieses substantiierte Vorbringen der Beklagten reicht aus, eine nachträgliche Zulassung der Revision zu rechtfertigen. Die Beklagte ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht verpflichtet, ihr Vorbringen insoweit zu beweisen.
3. Da die Revision nach alledem bereits wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen war, kommt es nicht darauf an, ob die Beklagte sich auch zu Recht darauf beruft, das Landesarbeitsgericht weiche mit seiner Entscheidung von Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts ab. Es spricht allerdings mehr dafür, daß sich die von der Beklagten angezogenen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts lediglich auf die Auslegung der Versorgungsvereinbarung beziehen, also keinen abstrakten, fallübergreifenden Rechtssatz in Form einer von der Versorgungsvereinbarung unabhängigen Auslegungsregel aufstellen.
Unterschriften
Reinecke, Kreft, Bepler, Auerbach, Arntzen
Fundstellen
Haufe-Index 537489 |
BAGE, 372 |
BB 2001, 1046 |
DB 2001, 288 |
NJW 2001, 390 |
EWiR 2001, 249 |
FA 2001, 23 |
NZA 2001, 286 |
SAE 2001, 200 |
ZTR 2001, 74 |
AP, 0 |
MDR 2001, 456 |
www.judicialis.de 2000 |