Entscheidungsstichwort (Thema)
Einheitliches Konsultations- und Anzeigeverfahren bei mehreren Massenentlassungen. Freifrist gemäß § 18 Abs. 4 KSchG
Orientierungssatz
1. Sollen in einem Betrieb nacheinander mehrere Massenentlassungen iSv. § 17 Abs. 1 KSchG durchgeführt werden, kann uU das Konsultationsverfahren ebenso wie das Anzeigeverfahren bezogen auf alle beabsichtigten Kündigungen zusammengefasst werden.
2. Allerdings bedarf es nach § 18 Abs. 4 KSchG einer erneuten Anzeige, wenn die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Ende der Sperrfrist „durchgeführt”, dh. erklärt werden. Auf diese Weise werden „Vorratsanzeigen” verhindert, die dem Zweck des Gesetzes zuwiderliefen, die Agentur für Arbeit über das tatsächliche Ausmaß der Beendigungen von Arbeitsverhältnissen ins Bild zu setzen.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1, § 111 S. 3 Nr. 1; BGB § 134; InsO § 125 Abs. 1 S. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Var. 3, Abs. 3, § 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 2-3, § 18 Abs. 1, 4
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 21. September 2015 – 8 Sa 1585/14 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung des beklagten Insolvenzverwalters.
Der Kläger war bei der Firma D GmbH & Co. KG (im Folgenden Schuldnerin) seit dem 16. August 1982 als Produktionsmitarbeiter beschäftigt. Bei der Schuldnerin war ein Betriebsrat gebildet. Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 1. Dezember 2013 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser beschloss umgehend die Stilllegung des Betriebs und informierte hierüber den Betriebsrat. Am 4., 12. und 19. Dezember 2013 fanden Verhandlungen über einen Interessenausgleich statt. Am 19. Dezember 2013 wurde der Text des Interessenausgleichs ausformuliert und dem Vertreter des Betriebsrats zugeleitet. Dieser bestätigte am 20. Dezember 2013, dass der Interessenausgleich mit diesem Inhalt abgeschlossen werden könne. Am 23. Dezember 2013 wurde der Interessenausgleich unterzeichnet. Er lautet auszugsweise wie folgt:
…
Eine Aufrechterhaltung der Produktion ist angesichts der Umsätze … nicht möglich. Vor diesem Hintergrund hat der Insolvenzverwalter mit Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses am 01.12.2013 die Betriebsstilllegung des Unternehmensträgers D im Ganzen beschlossen.
… |
§ 2 Unternehmerische Maßnahmen |
(1) |
Gegenstand des Interessenausgleiches ist die Stilllegungsentscheidung des Insolvenzverwalters am 01.12.2013, den Betrieb des Unternehmensträgers D am Standort in A zu schließen. |
(2) |
Durch die Betriebsstilllegung entfallen alle Arbeitsplätze in sämtlichen Betriebsteilen spätestens zum 28.02.2014. … |
|
Die Auslaufproduktion- und Abwicklungsarbeiten, die bis spätestens zum 28. Februar 2014 abgeschlossen sein werden, werden mit Auslauf der Produktion von zurzeit 90 Mitarbeitern und 20 Auszubildenden durchgeführt. Sämtliche übrigen Mitarbeiter von insgesamt 257 der D sind vom Insolvenzverwalter bereits freigestellt worden. … |
(3) |
Dementsprechend wird der Insolvenzverwalter sämtlichen Mitarbeitern des Betriebes der D betriebsbedingt kündigen. |
§ 3 Durchführung des Personalabbaus |
(1) |
Der Insolvenzverwalter wird sämtliche bei der D beschäftigten Mitarbeiter durch betriebsbedingte Kündigungen entlassen. Die Entlassungen werden unter Einhaltung der jeweils geltenden Kündigungsfristen i. V. m. § 113 InsO durchgeführt. … |
(2) |
Die Parteien dieses Interessenausgleichs sind sich darüber einig, dass die Kündigungen erst ab der 52. Kalenderwoche 2013, ab dem 27.12.2013 zugestellt werden sollen. |
…
§ 4 Kündigung der Arbeitsverhältnisse |
4. 1. Namensliste gem. §§ 1 Abs. 5 KSchG, 125 InsO, 111 BetrVG
Die zu kündigenden Mitarbeiter der D werden in der diesem Interessenausgleich als Anlage 1 beigefügten Namensliste, die vollinhaltlich Bestandteil des Interessenausgleichs ist, namentlich benannt. Die Sozialdaten sämtlicher Mitarbeiter sowie Kündigungsfristen sind in der Namensliste enthalten. Der Betriebsrat bestätigt die Vollständigkeit der Namensliste. …
Im Zuge der Betriebsänderung werden die betroffenen Arbeitsverhältnisse nach Abschluss des Interessenausgleichs zum in §§ 2, 3 vorher genannten Zeitpunkt unverzüglich unter Beachtung der jeweils einzuhaltenden Kündigungsfristen aus dringenden betrieblichen Gründen gekündigt. Soweit für den Ausspruch der Kündigung Zustimmung von Behörden eingeholt werden muss (z. B. nach SGB IX, BEEG, MuSchG) werden diese vor Ausspruch der Kündigung vom Insolvenzverwalter eingeholt.
4.2 Sozialauswahl
Da es sich um eine einheitliche Schließung des Betriebes der D zu einem bestimmten Zeitpunkt handelt und alle Mitarbeiter des Betriebs einheitlich betroffen sind, ist eine Sozialauswahl nicht erforderlich.
Im Hinblick auf die betriebsbedingten Kündigungen der Mitarbeiter besteht Einigkeit zwischen den Parteien darüber, dass der Betriebsrat im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen gem. § 102 BetrVG unterrichtet und beteiligt worden ist. …
Der Betriebsrat bestätigt, im Rahmen der Erörterung und zur Erstellung der Namensliste, Anlage 1 zu diesem Interessenausgleich, zu allen Kündigungen ordnungsgemäß angehört worden zu sein.
Er erklärt, dass damit das Verfahren gem. § 102 BetrVG abgeschlossen ist.
Der Betriebsrat wurde im Rahmen der Verhandlungen zu diesem Interessenausgleich am 04.12.2013 rechtzeitig und vollständig nach § 17 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz unterrichtet. Sodann haben Insolvenzverwalter und Betriebsrat am 12.12.2013 nochmals die Möglichkeit beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mindern. Die Betriebsparteien sind sich einig, dass den in der Anlage 1 zu diesem Interessenausgleich aufgeführten Mitarbeitern betriebsbedingt zu kündigen ist.
…
Der Betriebsrat bestätigt die Beendigung des Konsultationsverfahrens und erteilt seine Zustimmung …”
In dem Interessenausgleich sind keine Angaben zu den Berufsgruppen der Arbeitnehmer enthalten. Die Namensliste umfasst 257 Namen einschließlich des Namens des Klägers.
Am 27. Dezember 2013 erstattete der Beklagte formularmäßig bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige. Angezeigt wurde die Entlassung aller 257 Beschäftigten, darunter 26 Schwerbehinderte bzw. diesen Gleichgestellte. Am 17. Januar 2014 erteilte die Agentur für Arbeit die Zustimmung zu den angezeigten 257 Entlassungen. Eine Verlängerung der Sperrfrist nach § 18 Abs. 2 KSchG wurde nicht vorgenommen. Die Sperrfrist begann am 28. Dezember 2013 und endete am 27. Januar 2014. Noch Ende Dezember 2013 kündigte der Beklagte alle Arbeitsverhältnisse, die keinem Sonderkündigungsschutz unterfielen. Den Schwerbehinderten und den Arbeitnehmerinnen, die sich in Mutterschutz befanden, kündigte er im Februar 2014. Es handelte sich hierbei um mehr als 30 Kündigungen.
Der Kläger ist schwerbehindert. Mit Schreiben vom 6. Februar 2014 wurde der Betriebsrat unter Angabe der Sozialdaten zur beabsichtigten Kündigung des Klägers angehört. Nach Zustimmung des Integrationsamts kündigte der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 22. Februar 2014 zum 31. Mai 2014.
Mit seiner am 25. Februar 2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung seines Arbeitsverhältnisses gewandt. Zur Begründung hat er zuletzt nur noch eine Verletzung des § 17 Abs. 2 KSchG behauptet. Der Betriebsrat sei im Konsultationsverfahren nicht über die betroffenen Berufsgruppen unterrichtet worden. Eine Heilung dieses Verfahrensfehlers sei nicht möglich.
Der Kläger hat daher beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 22. Februar 2014 nicht aufgelöst worden ist.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Kündigung sei wirksam. Das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG sei zulässigerweise mit dem Interessenausgleichsverfahren verbunden worden. Der Betriebsrat sei durch den Interessenausgleich vollständig unterrichtet worden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger seine Kündigungsschutzklage weiter und hat ergänzend angeführt, die Kündigung der schwerbehinderten bzw. diesen gleichgestellten Arbeitnehmer sei nicht in dem erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zur Massenentlassungsanzeige erfolgt. Den betroffenen Beschäftigten sei erst ab Februar 2014 gekündigt worden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen. Die streitgegenständliche Kündigung vom 22. Februar 2014 hat das Arbeitsverhältnis unter Wahrung der Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO zum 31. Mai 2014 aufgelöst.
1. Die Kündigung ist nicht sozial ungerechtfertigt. Sie ist durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 Var. 3 KSchG bedingt, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen. Der Kläger hat zuletzt nicht mehr in Abrede gestellt, dass der Beklagte die Stilllegung des ganzen Betriebs und damit eine Betriebsänderung iSv. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG geplant hat und diesbezüglich ein formwirksamer Interessenausgleich zustande kam, in dem die zu kündigenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnet sind. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass sich der Name des Klägers auf der entsprechenden Liste befindet. Die Vorinstanzen haben rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Kläger die daraus gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO folgende Vermutung des Kündigungsgrundes nicht widerlegt hat (vgl. hierzu BAG 27. September 2012 – 2 AZR 520/11 – Rn. 25; 15. Dezember 2011 – 2 AZR 42/10 – Rn. 17, BAGE 140, 169). Die Revision erhebt insoweit keine Rügen. Gleiches gilt bezüglich der nicht zu beanstandenden Auffassung der Vorinstanzen, die Kündigung sei auch nicht wegen grober Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 3 KSchG iVm. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO (vgl. hierzu BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 22 ff., BAGE 147, 89).
2. Eine Unwirksamkeit der Kündigung folgt nicht aus § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG. Das Landesarbeitsgericht hat die Betriebsratsanhörung wie das Arbeitsgericht als ordnungsgemäß angesehen. Dies greift die Revision nicht an. Ein Fehler ist auch nicht erkennbar.
3. Die Kündigung ist nicht wegen eines Verstoßes gegen § 17 KSchG gemäß § 134 BGB nichtig.
a) Sie ist Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG. Maßgeblich für die Zahl der in der Regel Beschäftigten ist im Stilllegungsfall auch bei einem sukzessiven Vorgehen des Arbeitgebers mit mehreren Entlassungswellen der Zeitpunkt, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde (BAG 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04 – zu B II 1 b der Gründe; KR/Weigand 11. Aufl. § 17 KSchG Rn. 45; ErfK/Kiel 16. Aufl. § 17 KSchG Rn. 11). Dies war hier vor der ersten Entlassungswelle im Dezember 2013 der Fall. Von den damals 257 Beschäftigten hat der Beklagte nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Februar 2014 mehr als 30 Arbeitnehmer entlassen. Dies entsprach der nach dem Interessenausgleich beabsichtigten Vorgehensweise. Die im Februar 2014 erklärten Kündigungen von Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnisse einem Sonderkündigungsschutz unterfielen, überschritten schon für sich genommen den Schwellenwert des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG.
b) Der Beklagte hat bezüglich der im Februar 2014 erklärten Kündigungen kein eigenständiges Massenentlassungsverfahren durchgeführt. Dies war auch nicht erforderlich, da sowohl das mit den Interessenausgleichsverhandlungen verbundene Konsultationsverfahren (§ 17 Abs. 2 KSchG) als auch das Anzeigeverfahren (§ 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG) bezüglich aller wegen der beabsichtigten Betriebsstilllegung zu entlassenden Arbeitnehmer zusammengefasst im Dezember 2013 durchgeführt wurde. Entgegen der Auffassung der Revision scheitert die Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung nicht an einer Fehlerhaftigkeit des Konsultationsverfahrens.
aa) Der in § 17 KSchG geregelte besondere Kündigungsschutz bei Massenentlassungen unterfällt in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen, nämlich die in § 17 Abs. 2 KSchG normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats einerseits und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit andererseits. Das Konsultationsverfahren steht selbständig neben dem Anzeigeverfahren. Beide Verfahren dienen in unterschiedlicher Weise der Erreichung des mit dem Massenentlassungsschutz verfolgten Ziels (BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 28, BAGE 144, 366; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 62). Dies entspricht der mit § 17 KSchG umgesetzten Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie – MERL –, ABl. EG L 225 vom 12. August 1998 S. 16). Jedes dieser beiden Verfahren stellt ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung dar (vgl. BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 15, 16; Mehrens/Römer EWiR 2016, 281, 282; Wagner FA 2016, 144; Krieger ArbR 2016, 164; für das Anzeigeverfahren BAG 22. November 2012 – 2 AZR 371/11 – Rn. 39 ff., BAGE 144, 47; für das Konsultationsverfahren BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 21 ff., BAGE 144, 366).
bb) Sollen in einem Betrieb nacheinander mehrere Massenentlassungen iSv. § 17 Abs. 1 KSchG durchgeführt werden, kann uU das Konsultationsverfahren ebenso wie das Anzeigeverfahren bezogen auf alle beabsichtigten Kündigungen zusammengefasst werden. Die Massenentlassungen bedürfen nach dem Wortlaut des § 17 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 KSchG nicht zwingend gesonderter Verfahren nach § 17 Abs. 2 und Abs. 3 KSchG. Im Gegenteil dient es der vollständigen Information des Betriebsrats und der Agentur für Arbeit, wenn im Rahmen eines einzigen Konsultations- und Anzeigeverfahrens ein vollständiger Überblick über die beabsichtigten Kündigungswellen gegeben wird. Dies entspricht § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 bzw. Abs. 3 Satz 4 KSchG, wonach die erforderlichen Angaben über den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, zu machen sind. Gegebenenfalls bedarf es allerdings nach § 18 Abs. 4 KSchG einer erneuten Anzeige.
cc) Die Voraussetzungen einer Erfüllung der Konsultationspflicht im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen sind hier beachtet worden.
(1) Die Konsultationspflicht ist der Sache nach regelmäßig erfüllt, wenn der Arbeitgeber bei einer Betriebsänderung iSv. § 111 BetrVG, soweit mit ihr ein anzeigepflichtiger Personalabbau verbunden ist oder sie allein in einem solchen besteht, einen Interessenausgleich abschließt und dann erst kündigt (vgl. BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 46; 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – zu B III 1 b der Gründe, BAGE 107, 318). Soweit die ihm obliegenden Pflichten aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit denen nach § 111 Satz 1 BetrVG übereinstimmen, kann der Arbeitgeber sie gleichzeitig erfüllen. Dabei muss der Betriebsrat allerdings klar erkennen können, dass die stattfindenden Beratungen (auch) der Erfüllung der Konsultationspflicht des Arbeitgebers aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG dienen sollen (vgl. BAG 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 17, BAGE 151, 83; 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 47, BAGE 143, 150; 18. Januar 2012 – 6 AZR 407/10 – Rn. 34, BAGE 140, 261).
(2) Die Betriebsparteien haben den Interessenausgleich in der dritten Verhandlungsrunde am 19. Dezember 2013 fertiggestellt. Der Interessenausgleich macht in § 10 die Verbindung mit dem Konsultationsverfahren deutlich. Spätestens am 19. Dezember 2013 war für den Betriebsrat deshalb klar, dass die Interessenausgleichsverhandlungen auch der Erfüllung der Konsultationspflicht aus § 17 Abs. 2 KSchG dienen sollten. Für den Betriebsrat war zweifelsfrei ersichtlich, dass sich das Konsultationsverfahren auch auf die einem Sonderkündigungsschutz unterfallenden Beschäftigten beziehen und diesen erst zu einem späteren, noch ungewissen Zeitpunkt gekündigt werden soll. Dies ergibt sich aus § 4 Abschnitt 4.1. des Interessenausgleichs, wonach etwaig erforderliche Zustimmungen von Behörden „zB nach SGB IX, BEEG, MuSchG”) vor den Kündigungserklärungen vom Beklagten einzuholen waren. In Kenntnis der gesetzlichen Vorgaben, wie sie bezüglich der schwerbehinderten Menschen in §§ 85 f. SGB IX enthalten sind, stand schon zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs fest, dass zwar alle Beschäftigten von der Betriebsstilllegung betroffen sein werden, die Kündigungen aber wegen der Abhängigkeit von Behördenentscheidungen nicht zeitgleich erklärt werden können. Dass die betroffenen Arbeitsverhältnisse von den Verhandlungen im Dezember 2013 schon erfasst werden sollten, ergibt sich zudem aus § 2 Abs. 2 und § 3 des Interessenausgleichs, wonach die Stilllegung die Kündigung aller 257 Beschäftigten zur Folge haben soll. Dementsprechend sind alle 257 Beschäftigten, das heißt auch die besonders geschützten Arbeitnehmer, auf der Namensliste angeführt.
(3) Der Betriebsrat wurde durch den Entwurf des Interessenausgleichs rechtzeitig iSd. § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet. Dies hat der Senat in seiner Entscheidung vom 9. Juni 2016 (– 6 AZR 405/15 – Rn. 24 ff.) bereits begründet. Hierauf wird verwiesen.
(4) Gleiches gilt bezüglich der Heilung eines eventuellen Verstoßes der Unterrichtung gegen das Schriftformerfordernis des § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch die abschließende Stellungnahme des Betriebsrats in § 10 des Interessenausgleichs (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 27).
(5) Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 KSchG muss der Betriebsrat über die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer unterrichtet werden. Entgegen der Auffassung der Revision bewirkt das Fehlen einer ausdrücklichen Unterrichtung über die betroffenen Berufsgruppen hier nicht die Unwirksamkeit der Kündigung. Die insoweit fehlerhafte Unterrichtung ist durch die abschließende Stellungnahme des Betriebsrats in § 10 des Interessenausgleichs jedenfalls geheilt worden. Auch diesbezüglich nimmt der Senat auf seine Ausführungen im Urteil vom 9. Juni 2016 (– 6 AZR 405/15 – Rn. 29 ff.) Bezug und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen darauf. Die übrigen nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG erforderlichen Angaben wurden gemacht. Dies stellt die Revision nicht in Frage.
(6) Eine Frist von mindestens zwei Wochen zwischen der Unterrichtung des Betriebsrats und der Erstattung der Massenentlassungsanzeige war nicht einzuhalten (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 36).
dd) Die Massenentlassungsanzeige vom 27. Dezember 2013 bezieht sich auf alle 257 Beschäftigten und damit auch auf die erst im Februar 2014 gekündigten Arbeitnehmer. Eine Fehlerhaftigkeit des Anzeigeverfahrens nach § 17 Abs. 3 KSchG rügt die Revision nicht.
4. Es bedurfte hinsichtlich der im Februar 2014 erklärten Kündigungen keiner erneuten Massenentlassungsanzeige nach § 18 Abs. 4 KSchG.
a) Gemäß § 18 Abs. 4 KSchG bedarf es unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG einer erneuten Anzeige, wenn die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG zulässig sind, „durchgeführt” werden. Damit ist nach allgemeinem Sprachgebrauch ein aktives Handeln, nämlich das „Umsetzen in die Tat” (Wahrig Deutsches Wörterbuch 9. Aufl. Stichwort „Durchführung”), bspw. die „Verwirklichung”, die „Ausführung” oder die „Bewerkstelligung” (Duden Das Synonymwörterbuch 5. Aufl. Stichwort „Durchführung”), gemeint. Die Regelung ist deshalb dahin zu verstehen, dass der Arbeitgeber verpflichtet wird, die Kündigungen innerhalb der 90-Tage-Frist zu erklären (vgl. BAG 6. November 2008 – 2 AZR 935/07 – Rn. 29 mwN, BAGE 128, 256). Er muss nach Ablauf der sog. Freifrist eine erneute Anzeige erstatten, wenn er von der Möglichkeit der Kündigungserklärung bis dahin keinen Gebrauch gemacht hat. Auf diese Weise werden „Vorratsanzeigen” verhindert, die dem Zweck des Gesetzes zuwiderliefen, die Agentur für Arbeit über das tatsächliche Ausmaß der Beendigungen von Arbeitsverhältnissen ins Bild zu setzen (vgl. BAG 23. Februar 2010 – 2 AZR 268/08 – Rn. 33, BAGE 133, 240; zustimmend: Hergenröder EWiR 2010, 579, 580; Clemenz Anm. EzA KSchG § 18 Nr. 2; Boemke jurisPR-ArbR 35/2010 Anm. 4; vgl. auch BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 33 mwN; 22. April 2010 – 6 AZR 948/08 – Rn. 21, BAGE 134, 176; v. Hoyningen-Huene in vHH/L 15. Aufl. § 18 Rn. 25; ErfK/Kiel 16. Aufl. § 18 KSchG Rn. 7; Lembke/Oberwinter in Thüsing/Laux/Lembke KSchG 3. Aufl. § 18 Rn. 21 f.; AR/Leschnig 7. Aufl. § 18 KSchG Rn. 20; Schaub/Linck ArbR-HdB 16. Aufl. § 142 Rn. 37; APS/Moll 4. Aufl. § 18 KSchG Rn. 38; Bader/Bram/Suckow Stand April 2016 § 18 KSchG Rn. 19; HaKo/Pfeiffer 5. Aufl. § 18 Rn. 20; BeckOK ArbR/Volkening Stand 15. März 2016 KSchG § 18 Rn. 17; Stahlhacke/Vossen 11. Aufl. Rn. 1664; KR/Weigand 11. Aufl. § 18 KSchG Rn. 40; Wertheimer in Löwisch/Spinner/Wertheimer KSchG 10. Aufl. § 18 Rn. 18; aA Kittner/Däubler/Zwanziger/Deinert KSchR 9. Aufl. § 18 KSchG Rn. 17).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt, dass die streitgegenständliche Kündigung des Klägers innerhalb der sog. Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG erklärt wurde. Die Frist von 90 Tagen schließt sich unmittelbar an das Ende der Sperrfrist nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG an. Die Sperrfrist endete hier mit dem 27. Januar 2014, das heißt die Freifrist begann am 28. Januar 2014. Die mit Schreiben vom 22. Februar 2014 erklärte Kündigung des Klägers ging diesem innerhalb der Freifrist zu. Dies belegt schon der Umstand, dass er bereits am 25. Februar 2014 die vorliegende Kündigungsschutzklage erhob.
5. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Fischermeier, Spelge, Krumbiegel, Wollensak, C. Klar
Fundstellen
Haufe-Index 9721900 |
BB 2016, 2356 |
BB 2017, 2495 |
DB 2016, 2491 |
NJW 2016, 10 |
EWiR 2016, 773 |
FA 2016, 387 |
NZA 2016, 1202 |
ZIP 2016, 2037 |
AP 2017 |
AuA 2018, 187 |
EzA-SD 2016, 5 |
EzA 2017 |
NZA-RR 2016, 6 |
ZInsO 2017, 289 |
ArbRB 2016, 359 |
ArbR 2016, 480 |
GWR 2016, 449 |
InsbürO 2017, 216 |