Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß einer Anfechtungserklärung gegen Treu und Glauben
Leitsatz (redaktionell)
Die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung im Sinne des § 123 BGB kann gegen Treu und Glauben verstoßen und daher gemäß § 242 BGB unwirksam sein, wenn der Anfechtungsgrund im Zeitpunkt der Anfechtungserklärung seine Bedeutung für die weitere Durchführung des Arbeitsverhältnisses bereits verloren hatte.
Orientierungssatz
Verschweigen einer achtmonatigen Freiheitsstrafe, für deren Verbüßung dem Arbeitnehmer jedoch zwischen Vertragsabschluß und Anfechtungserklärung der Freigängerstatus gemäß § 11 Abs 1 Nr 1 Strafvollzugsgesetz bewilligt worden war.
Normenkette
BGB §§ 123, 242; StVollzG § 11
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger steht seit dem 1. August 1983 in den Diensten des beklagten Landes und ist als technischer Zeichner beim Straßenbauamt K beschäftigt. Die Einstellung erfolgte im Rahmen einer Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung nach §§ 91 ff. AFG und war bis zum 31. März 1984 befristet. Der vom Kläger am 30. Juli 1983 ausgefüllte Personalbogen enthielt keine Angaben über Vorstrafen. Erst durch das Führungszeugnis wurde der Dienststelle bekannt, daß der Kläger wegen mehrerer Verkehrsdelikte zu Geldstrafen und Fahrerlaubnisentzug sowie zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährungsfrist verurteilt worden war. Bei einer Anhörung durch die Dienststelle am 16. August 1983 gab der Kläger an, diese Strafen bewußt nicht aufgeführt zu haben.
In der Folgezeit wurde der Arbeitsvertrag des Klägers mehrmals befristet verlängert, zuletzt bis zum 31. Oktober 1985. Zwischenzeitlich war der Kläger am 21. Januar 1985 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs infolge Trunkenheit und wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten ohne Bewährung verurteilt worden. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg. Seine Revision wurde durch Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 6. August 1985 als unbegründet verworfen.
Im Hinblick auf eine mögliche Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis beim Straßenbauamt K bemühte sich der Kläger mit Hilfe seines Prozeßbevollmächtigten beim zuständigen Staatsanwalt darum, die Strafe nur im offenen Vollzug (Freigänger-Status) verbüßen zu müssen, um das in Aussicht stehende Dauerarbeitsverhältnis nicht zu gefährden. Mit Schreiben vom 12. September 1985 beantragte der Kläger beim beklagten Land seine Weiterbeschäftigung in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, die vom Straßenbauamt K, das von der erneuten Verurteilung des Klägers nichts wußte, befürwortet wurde. Am 9. Oktober 1985 schlossen die Parteien mit Wirkung ab 1. November 1985 einen unbefristeten Arbeitsvertrag, ohne daß der Kläger nach neuerlichen Vorstrafen befragt worden wäre oder nochmals einen Personalbogen hätte ausfüllen müssen. Am 1. November 1985 teilte die Staatsanwaltschaft dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit, der Kläger werde wegen seiner unbefristeten Beschäftigung durch das beklagte Land in den offenen Strafvollzug übernommen; die zuständigen Sachbearbeiter des Straßenbauamts K und des Hessischen Landesamts für Straßenbau erhielten hiervon keine Kenntnis. Erst durch einen Anruf der Justizvollzugsanstalt vom 4. November 1985 erfuhr der zuständige Beamte des Straßenbauamts K, daß der Kläger rechtskräftig zu einer achtmonatigen Haftstrafe verurteilt worden sei und diese am 19. Dezember 1985 anzutreten habe.
Daraufhin richtete das Hessische Landesamt für Straßenbau an den Kläger folgendes Schreiben vom 4. November 1985:
".....
wie mir das Hess. Straßenbauamt K am heutigen
Tag (4.11.1985) mitgeteilt hat, haben Sie demnächst
eine Haftstrafe von 8 Monaten in einer Justizvollzugsanstalt
anzutreten.
Diesen Sachverhalt haben Sie bei den mit Ihnen geführten
Einstellungsgesprächen verschwiegen.
Aus diesem Grund fechte ich den mit Ihnen geschlossenen
Arbeitsvertrag vom 9.10.1985 wegen arglistiger
Täuschung gemäß § 123 (1) BGB an, d.h., ein Arbeitsverhältnis
mit Ihnen gilt als nicht zustandegekommen.
Ihre Arbeitspapiere werden Ihnen noch gesondert
übersandt."
Mit der Klage wendet sich der Kläger gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses durch die Anfechtungserklärung vom 4. November 1985. Er hält die Anfechtung für unwirksam, da es an einer arglistigen Täuschung fehle. Vor Vertragsabschluß sei er nicht nach Vorstrafen befragt worden. Insbesondere sei ihm im August 1983, nachdem durch das Führungszeugnis die Vorstrafen bekannt geworden seien, nicht aufgegeben worden, künftig jede weitere Verurteilung anzuzeigen. Es bestehe darüber hinaus auch kein Zusammenhang zwischen den Vorstrafen und dem Arbeitsplatz bzw. der zu leistenden Arbeit, so daß eine Offenbarungspflicht nicht bestanden habe. Dies gelte auch im Hinblick auf die zuletzt verhängte achtmonatige Freiheitsstrafe, da aufgrund der Mitteilung der Staatsanwaltschaft vom 1. November 1985 im Zeitpunkt der Anfechtungserklärung bereits festgestanden habe, daß er die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung werde erbringen können. Dies hätte das beklagte Land durch Befragen des Klägers ohne weiteres in Erfahrung bringen können. Schließlich sei es dem beklagten Land auch zuzumuten, einen Arbeitnehmer im Freigängerstatus zu beschäftigen, da der offene Vollzug der Resozialisierung des Straftäters diene.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen
den Parteien durch die Anfechtungserklärung vom
4. November 1985 nicht in Wegfall gekommen ist.
Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat im wesentlichen ausgeführt, der Arbeitsvertrag vom 9. Oktober 1985 sei wirksam angefochten worden. Entgegen dem Vortrag des Klägers sei er am 16. August 1983 darauf hingewiesen worden, daß er künftig vollständige Angaben machen und insbesondere mitteilen müsse, wenn es zu einer erneuten Bestrafung komme. Dieser ausdrücklichen Anordnung sei der Kläger nicht nachgekommen, sondern habe bewußt die Verurteilung zu einer achtmonatigen Haftstrafe verschwiegen, um den Abschluß eines unbefristeten Arbeitsvertrages nicht zu gefährden. Dabei sei dem Kläger klar gewesen, daß das beklagte Land in Kenntnis dieses Umstandes keinen unbefristeten Arbeitsvertrag abgeschlossen hätte. Darüber hinaus habe der Kläger auch nicht davon ausgehen können, er werde sofort in den offenen Vollzug übernommen und sei damit nicht an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert. Vielmehr sei eine Freiheitsstrafe regelmäßig zunächst im geschlossenen Vollzug und erst später im offenen Vollzug zu verbüßen. Hiervon habe das beklagte Land ausgehen können und müssen, nachdem es am 4. November 1985 telefonisch von der Justizvollzugsanstalt darüber informiert worden sei, der Kläger müsse am 19. Dezember 1985 eine achtmonatige Haftstrafe antreten. Für das beklagte Land habe damit im allein maßgeblichen Zeitpunkt der Anfechtungserklärung festgestanden, der Kläger werde mindestens für einen erheblichen Teil seiner achtmonatigen Freiheitsstrafe seinen Arbeitsvertrag nicht erfüllen können. Auf später eintretende Umstände komme es im Hinblick auf die Beurteilung des Anfechtungsgrundes nicht an.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Anfechtungserklärung vom 4. November 1985 nicht aufgelöst worden sei. Auf die Berufung des beklagten Landes hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des Ersturteils. Das beklagte Land beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts. Denn das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Anfechtungserklärung des beklagten Landes vom 4. November 1985 nicht aufgelöst worden.
Der gegenteiligen Würdigung des Landesarbeitsgerichts kann sich der Senat nicht anschließen. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob in dem Verhalten des Klägers bei Abschluß des Arbeitsvertrages eine arglistige Täuschung im Sinne des § 123 BGB zu sehen ist. Denn selbst wenn man dies zugunsten des beklagten Landes unterstellt, erweist sich die Anfechtungserklärung als unwirksam, weil sie gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt.
Nach ständiger Rechtsprechung steht auch die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben; die Anfechtung ist daher ausgeschlossen, wenn die Rechtslage des Getäuschten im Zeitpunkt der Ausübung des Anfechtungsrechts durch die arglistige Täuschung nicht mehr beeinträchtigt ist (vgl. z.B. BGH Urteil vom 15. Dezember 1976 - VIII ZR 97/75 - WM 1977, 343; BGH Urteil vom 1. Juli 1983 - V ZR 93/82 - WM 1983, 1055; BAGE 22, 278 = AP Nr. 17 zu § 123 BGB).
Im Entscheidungsfall war die Rechtsstellung des beklagten Landes im maßgeblichen Zeitpunkt der Anfechtungserklärung durch die fehlende Offenbarung seitens des Klägers nicht beeinträchtigt, da zu diesem Zeitpunkt der Freigängerstatus des Klägers bereits bewilligt war. Das Landesarbeitsgericht hat als unstreitig festgestellt, daß die Staatsanwaltschaft dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 1. November 1985 mitgeteilt hatte, der Kläger werde gerade wegen seiner unbefristeten Beschäftigung durch das beklagte Land in offenen Strafvollzug übernommen. Hiermit konnte nur der Freigängerstatus iS des § 11 Abs 1 Nr. 2, 2. Alternative Strafvollzugsgesetz (StVollzG) gemeint sein, da ein offener Vollzug im Sinne des § 10 Abs 1 StVollzG für sich allein die Beschäftigung des Klägers durch das beklagte Land nicht hätte gewährleisten können. Auch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Mitteilung der Staatsanwaltschaft vom 1. November 1985 nicht der tatsächlichen Beschlußlage entsprochen oder die Gefahr bestanden haben sollte, der Freigängerstatus des Klägers könnte widerrufen werden.
Aufgrund seines Freigängerstatus war der Kläger in vollem Umfang in der Lage, seinen Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis nachzukommen. Nach objektiver Sachlage war daher eine Beeinträchtigung berechtigter Interessen des beklagten Landes nicht zu befürchten, so daß der Anfechtungsgrund im Zeitpunkt der Anfechtungserklärung seine Bedeutung verloren hatte. Zwar war dies dem beklagten Land nicht bekannt; aufgrund des (möglicherweise auf einem Irrtum beruhenden) Anrufs der Justizvollzugsanstalt ging das Land vielmehr davon aus, die Arbeitsleistung des Klägers werde demnächst für längere Zeit ausfallen. Diese Fehleinschätzung kann jedoch entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts bei der Würdigung, ob die Anfechtungserklärung gegen Treu und Glauben verstößt, nicht zugunsten des beklagten Landes ins Gewicht fallen, da das Land vor Erklärung der Anfechtung keinerlei Anstalten unternommen hatte, sich über die wahre Sachlage zu vergewissern. Das beklagte Land hat selbst nicht einmal behauptet, den - zum Zeitpunkt der Anfechtungserklärung bei ihm beschäftigten - Kläger befragt zu haben. Stattdessen unterrichtete das Straßenbauamt K aufgrund des - inhaltlich nur sehr ungenau geschilderten - Anrufs der Justizvollzugsanstalt vom 4. November 1985 noch am selben Tage das Hessische Landesamt für Straßenbau in Wiesbaden, das seinerseits ebenfalls noch an diesem Tage die Anfechtung erklärte. Ein Grund, aus dem diese Eile geboten gewesen sein könnte, ist nicht ersichtlich. Auch die Unkenntnis des beklagten Landes vom Freigängerstatus des Klägers ändert deshalb nichts daran, daß der Anfechtungsgrund infolge dieses Status seine Bedeutung für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses verloren hatte und die Anfechtungserklärung daher gegen Treu und Glauben verstieß.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Dr. Seidensticker Dr. Becker Dr. Steckhan
Nehring Dr. Zachert
Fundstellen
Haufe-Index 441333 |
BB 1988, 632-632 (LT) |
DB 1988, 815-815 (LT1) |
AiB 1988, 114-114 (LT1) |
JR 1988, 308 |
NZA 1988, 731-731 (LT1) |
RdA 1988, 125 |
RzK, I 9h Nr 7 (LT1) |
AP § 123 BGB (LT1), Nr 32 |
Arbeitgeber 1988, 884-884 (T) |
EzA § 123 BGB, Nr 28 (LT1) |
EzBAT § 4 BAT Anfechtung, Nr 11 (LT1) |
JuS 1989, 242-243 (LT1) |