Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
§ 12 Ziff. 2 des Manteltarifvertrags für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie i.d.F. vom 3. Juli 1994 stellt eine konstitutive Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar und begründet einen Anspruch auf Fortzahlung des Lohns in Höhe von 100 %.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 n.F.; Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie i.d.F. vom 3. Juli 1994 § 12 Ziff. 1; Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie i.d.F. vom 3. Juli 1994 § 12 Ziff. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 6. November 1997 - 14 Sa 89/97 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger ist bei der Beklagten als Rotationshelfer beschäftigt. Vom 1. bis zum 25. Oktober 1996 war er arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete für diesen Zeitraum Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % seines Lohns. Der Kläger verlangt Fortzahlung in voller - rechnerisch unstreitiger - Höhe.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beidseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juli 1994 Anwendung. Er enthält in § 12 Regelungen über "Krankheit, Kur- und Heilverfahren". Die Vorschrift lautet auszugsweise wie folgt:
"1. Die Lohnfortzahlung im Falle von Erkrankungen und Unfällen, bei Kuren und Heilverfahren sowie bei solchen Schonungszeiten, die mit Arbeitsunfähigkeit verbunden sind, richtet sich nach dem Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung.
2. Als Arbeitsentgelt im Sinne der Ziffer 1 gilt abweichend von § 2 Abs. 1 aufgrund von § 2 Abs. 3 des Lohnfortzahlungsgesetzes der Durchschnittsverdienst der drei abgerechneten Lohnabrechnungsmonate oder der 13 abgerechneten Lohnwochen (Berechnungszeitraum), die der Lohnwoche, in der die Arbeitsunfähigkeit beginnt, vorausgehen. Für die Ermittlung des Durchschnittsverdienstes gelten die Durchführungsbestimmungen (6) zu § 10 ohne Beispiele 1 und 2 und ohne den letzten Absatz sowie die Durchführungsbestimmung (8) zu § 10. Zur Ermittlung des täglichen Arbeitsentgeltes wird der festgestellte Durchschnittsverdienst durch 65 geteilt."
In den genannten Durchführungsbestimmungen ist geregelt, welche einzelnen Verdienstanteile zum "Bruttoverdienst des Berechnungszeitraumes" gehören und wie sich mögliche Lohnerhöhungen auswirken.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, ihm stünden für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit 100 % seines Lohnes zu. § 12 Ziff. 2 MTV stelle eine eigenständige, konstitutive Regelung dar. Im übrigen verstoße die Absenkung der Lohnfortzahlung für gewerbliche Arbeitnehmer gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, da den Angestellten tariflich weiterhin die volle Gehaltszahlung gewährt werde.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 767,18 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. November 1996 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 12 Ziff. 1 MTV stelle eine dynamische Verweisung auf die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften dar. In Ziff. 2 der Vorschrift sei lediglich die Bemessungsgrundlage für die Lohnfortzahlung abweichend vom Gesetz festgelegt worden. Der Gleichheitssatz sei nicht verletzt. Die Manteltarifverträge für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte seien wegen ihres unterschiedlichen räumlichen Geltungsbereichs und mangels Identität der Tarifvertragsparteien nicht vergleichbar.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger kann für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit Lohnfortzahlung in voller Höhe verlangen. Dies folgt aus § 3 Abs. 1 EFZG i.V.m. § 12 Ziff. 2 MTV. Die Tarifvertragsparteien haben eine eigenständige, von den Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes unabhängige Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen.
I. Vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 galt für die Entgeltfortzahlung gewerblicher Arbeitnehmer im Krankheitsfalle das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten Anspruch auf Gehaltsfortzahlung nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I, S. 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG "80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts".
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (vgl. BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179/80).
II. Nach § 12 Ziff. 1 MTV richtet sich die Lohnfortzahlung für gewerbliche Arbeitnehmer im Falle von Erkrankungen, die mit Arbeitsunfähigkeit verbunden sind, nach dem "Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung". Diese Bestimmung stellt keine selbständige, tarifliche Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Es handelt sich entweder um einen bloßen Hinweis auf das geltende Gesetzesrecht, bei dem schon jeglicher Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlt, oder es handelt sich zwar um eine Tarifnorm, die jedoch als dynamische Verweisung auch für die Tarifunterworfenen nur die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften für anwendbar erklärt. Als Tarifnorm im Sinne einer statischen Verweisung auf die schon vor Tarifabschluß im Juli 1994 außer Kraft getretene letzte Fassung des Lohnfortzahlungsgesetzes kann § 12 Ziff. 1 MTV dagegen nicht verstanden werden. Dies ergibt die Auslegung der Bestimmung.
1. § 12 Ziff. 1 MTV richtet sich nicht an die Tarifvertragsparteien selbst, sondern an die Tarifunterworfenen. Ihre Auslegung betrifft deshalb nicht den schuldrechtlichen, sondern den normativen Bereich des Tarifvertrags. Dessen Auslegung richtet sich nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung. Daß deren Anwendung voraussetze, es müsse die Normqualität der auszulegenden tariflichen Bestimmung bereits feststehen (so Menssen, AuR 1998, 234), ist nicht zutreffend. Es geht darum, wie Dritte - die Tarifunterworfenen und die Gerichte - die Tarifbestimmung zu verstehen haben. Die Frage nach ihrem Inhalt und die Frage danach, ob es sich um eine Norm handelt, lassen sich nicht trennen. Beide sind nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung zu beantworten (zutreffend Kamanabrou, RdA 1997, 22, 23).
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages hat vom Wortlaut und dem durch ihn vorgegebenen Wortsinn auszugehen. Ist der Wortsinn unbestimmt, ist darüber hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Bestimmungen ihren Niederschlag gefunden haben. Ferner ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen. Bleiben gleichwohl im Einzelfall noch Zweifel, so können die Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen, etwa die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages (BAG in ständiger Rechtsprechung, vgl. Urteil vom 21. August 1997 - 5 AZR 517/96 - NZA 1998, 211, m.w.N.; BAG AP Nr. 96 zu § 616 BGB, vgl. Urteil vom 1. Juli 1998 - 5 AZR 545/97 -, m.w.N., zur Veröffentlichung bestimmt).
2. Im Rahmen ihrer Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen haben der Zweite und der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts für tarifliche Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften die Auslegungsregel entwickelt, im Zweifel seien diese Verweisungen - ebenso wie die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme des Gesetzestextes - deklaratorisch. Wenn nicht gegenteilige Anhaltspunkte vorlägen, sei davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien lediglich darum gegangen sei, eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden und die Tarifgebundenen im Interesse von Klarheit und Übersichtlichkeit möglichst umfassend zu unterrichten (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - AP Nr. 24 zu § 622 BGB; BAG Urteil vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 40 zu § 622 BGB). Die Literatur hat sich dem Bundesarbeitsgericht für die Auslegung von Verweisungen - nicht so für die Auslegung von wörtlichen oder inhaltsgleichen Übernahmen des Gesetzestextes - im Ergebnis weitgehend angeschlossen (Buchner, NZA 1996, 1177, 1182; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 27; Rieble, RdA 1997, 134, 140; Giesen, RdA 1997, 193, 201, Fußnote 93; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG Urteil vom 5. Oktober 1995, SAE 1996, 274, 278; Bengelsdorf, Anm. zu BAG AP Nr. 48 zu § 622 BGB; Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung).
Auch der erkennende Senat ist der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats hinsichtlich der Auslegung tariflicher Verweisungen gefolgt (Urteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Mit einer Verweisung auf geltende - ohnehin anwendbare - gesetzliche Vorschriften bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß nur das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Ob sich die Verweisung als bloßer Hinweis oder als Tarifnorm im Sinne einer dynamischen Verweisung darstellt, kann dabei im Einzelfall unterschiedlich zu beurteilen sein. Individualrechtlich sind die Rechtsfolgen die gleichen.
3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze handelt es sich bei § 12 Ziff. 1 MTV nicht um eine selbständige Regelung und statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz in seiner letzten Fassung vor Außerkrafttreten.
a) Zwar ist die im maßgeblichen Zeitraum geltende Fassung des MTV am 3. Juli 1994 und damit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen worden, zu welchem das Lohnfortzahlungsgesetz bereits seit über einem Monat nicht mehr galt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß § 12 Ziff. 1 MTV wörtlich und unverändert aus den vorangegangenen Tarifverträgen, zuletzt dem MTV vom 10. März 1989, übernommen wurde. Wenn auch eine Verweisung auf ein nicht mehr gültiges Gesetz ein Anzeichen dafür sein kann, daß sie als statische Verweisung im Sinne einer eigenständigen (konstitutiven) tariflichen Regelung zu verstehen ist, so bedarf es in einem solchen Falle weitergehender Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien der gleichgebliebenen Formulierung nunmehr eine andere Bedeutung beimessen wollten als zu der Zeit, zu welcher das Gesetz noch galt. § 12 Ziff. 1 MTV in der Fassung vom 3. Juli 1994 ist gleichlautend mit § 12 Ziff. 1 MTV in der Fassung von 10. März 1989. Die tarifliche Einigung im Juli 1994 hat dazu geführt, daß der zum 31. Dezember 1993 gekündigte MTV 1989 rückwirkend zum 1. Januar 1994 wieder in Kraft gesetzt wurde. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien auf diese Weise den Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall anders regeln wollten als bislang. Dafür bestand auch kein Anlaß, weil die Höhe der Entgeltfortzahlung durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 nicht verändert worden war. § 12 Ziff. 1 MTV 1994 ist darum so auszulegen wie die gleichlautende Regelung des MTV 1989.
b) Unter Geltung des MTV vom 10. März 1989 enthielt § 12 Ziff. 1 MTV keine eigenständige Regelung über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Selbst wenn zugunsten des Klägers angenommen wird, daß die Bestimmung überhaupt eine Tarifnorm und nicht nur einen bloßen Hinweis darstellt, sollte sich die Lohnfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit "nach dem Lohnfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung" richten. Dieser Wortlaut bringt eindeutig zum Ausdruck, daß die Tarifvertragsparteien allenfalls eine dynamische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz und nicht eine statische Verweisung auf eine bestimmte Fassung des Gesetzes vereinbart haben. Entgegenstehende Anhaltspunkte sind auch dem tariflichen Gesamtzusammenhang nicht zu entnehmen.
c) Durch das Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes am 31. Mai 1994 ist die Verweisung in § 12 Ziff. 1 MTV entweder gegenstandslos geworden oder es ist das in ihr genannte "Lohnfortzahlungsgesetz" durch seine Nachfolgeregelung und die Lesart "Entgeltfortzahlungsgesetz" zu ersetzen. Beides führt dazu, daß sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für gewerbliche Arbeitnehmer seit dem 1. Juni 1994 nach den Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes in seiner jeweiligen Fassung richtet.
III. Gleichwohl ist die Klageforderung begründet. Sie ergibt sich aus § 12 Ziff. 2 MTV. Diese Bestimmung ist auch nach Außerkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes weiterhin gültig.
1. § 12 Ziff. 2 MTV enthält die Abkehr vom gesetzlichen Lohnausfallprinzip des § 2 Abs. 1 LFZG. Es wird durch das Referenzprinzip ersetzt. Die Vorschrift weicht von den gesetzlichen Vorgaben in Wahrnehmung der durch § 2 Abs. 3 Satz 1 LFZG eröffneten Möglichkeit inhaltlich ab. In diesem Sinne ist sie normativ eigenständig (konstitutiv). Dies steht zu der fehlenden Eigenständigkeit des § 12 Ziff. 1 MTV nicht im Widerspruch. Der konstitutive Charakter eines Teils eines einheitlichen Regelungsbereichs läßt keinen Schluß auf den entsprechenden Charakter des übrigen Teils der Regelung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Befugnis zur eigenständigen Normsetzung nur für einen Teilbereich Gebrauch zu machen und im übrigen ohne Absicht zu normativ selbständigen Regelungen auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (BAG Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG Urteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - zur Veröffentlichung bestimmt).
2. Konstitutive Tarifnormen verlieren ihre Wirksamkeit und ihren konstitutiven Charakter nicht allein dadurch, daß die bisherige gesetzliche Regelung, die sie modifiziert haben, durch eine andere ersetzt wird. Falls auch das neue Gesetz eine entsprechende Abweichung zuläßt, gelten sie ohne weiteres fort. Einer Weitergeltung von § 12 Ziff. 2 MTV steht nicht entgegen, daß dort das Lohnfortzahlungsgesetz ausdrücklich erwähnt wird. Aus diesem Umstand folgt nicht, daß die Tarifvertragsparteien das gesetzliche Lohnausfallprinzip lediglich unter Geltung des Lohnfortzahlungsgesetzes durch das Referenzprinzip und die von ihnen getroffenen Regelungen hätten ersetzen wollen und nicht auch unter Geltung einer inhaltlich gleichen Nachfolgeregelung. Weil § 12 Ziff. 1 MTV eine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz gerade nicht enthält, gibt es dafür keinen Anhaltspunkt.
3. § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG läßt es zu, "durch Tarifvertrag ... eine von den Absätzen 1, 1 a und 3 abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts" festzulegen. Diese Tariföffnungsklausel gilt gem. Art. 67 Abs. 2 PflegeVG vom 26. Mai 1994 (BGBl. I, S. 1014) auch für Tarifverträge, die schon vor Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 und dem Wirksamwerden seiner Änderung zum 1. Oktober 1996 abgeschlossen worden sind. Zur "Bemessungsgrundlage" im Sinne des § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG gehören sowohl die Berechnungsmethode (Ausfall- oder Referenzprinzip) als auch die Berechnungsgrundlage (Umfang und Bestandteile des zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts). § 12 Ziff. 2 MTV und die dort in Bezug genommenen Durchführungsbestimmungen enthalten keine Regelungen, die von der gesetzlichen Öffnungsklausel nicht gedeckt sind. Sie sind darum auf das Arbeitsverhältnis der Parteien weiterhin anzuwenden.
4. Nach § 12 Ziff. 2 MTV "gilt als Arbeitsentgelt im Sinne der Ziffer 1 ... der Durchschnittsverdienst der drei abgerechneten Lohnabrechnungsmonate oder der 13 abgerechneten Lohnwochen" vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit. Dabei ist der Durchschnittsverdienst in bestimmter Weise zu ermitteln. Im letzten Satz der Regelung heißt es sodann: "Zur Ermittlung des täglichen Arbeitsentgeltes wird der festgestellte Durchschnittsverdienst durch 65 geteilt" (laut Protokollnotiz gilt dies bei fünf Arbeitstagen in der Woche; bei weniger oder mehr Arbeitstagen wird der Divisor entsprechend angepaßt).
Auf diese Weise haben die Tarifvertragsparteien in § 12 Ziff. 2 MTV auch über die Höhe der Entgeltfortzahlung eine eigenständige Regelung getroffen. Die Auslegung der Vorschrift hat zunächst zu berücksichtigen, daß der Begriff "Arbeitsentgelt" in § 12 Ziff. 1 MTV nicht vorkommt. Ziff. 1 verweist vielmehr nur auf das Lohnfortzahlungsgesetz. Die einleitenden Worte von § 12 Ziff. 2 MTV sind dementsprechend sinngemäß wie folgt zu lesen: "Als Arbeitsentgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 und des § 2 Abs. 1 des Lohnfortzahlungsgesetzes gilt ...". Das in § 1 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 LFZG aufgeführte Arbeitsentgelt wiederum ist dasjenige, welches an den Arbeitnehmer fortzuzahlen ist. § 12 Ziff. 2 MTV stellt deshalb Regelungen über die Ermittlung des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Arbeitsentgelts auf.
Zugleich erweist sich damit das "tägliche Arbeitsentgelt" in § 12 Ziff. 2 letzter Satz MTV als das für jeden einzelnen Krankheitstag fortzuzahlende tägliche Entgelt. Es wird dadurch ermittelt, daß "der festgestellte Durchschnittsverdienst durch 65 geteilt" wird. Dies bedeutet, daß die Tarifvertragsparteien in § 12 Ziff. 2 MTV eine umfassende, rechnerisch lückenlose Regelung über die Bemessung der Entgeltfortzahlung getroffen haben. Mit der Verknüpfung von Berechnungsmethode und Berechnungsgrundlage mit einem bestimmten Divisor (65) haben sie dabei zwangsläufig auch die Höhe der täglichen Entgeltfortzahlung mit 100 % der entsprechenden Vergütung festgelegt (vgl. BAG Urteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 728/97 - zur Veröffentlichung bestimmt).
Die Ansicht des Landesarbeitsgerichts, mit § 12 Ziff. 2 MTV hätten die Tarifvertragsparteien lediglich die Berechnungsmethode für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt eigenständig geregelt, wird dem Inhalt der Tarifvorschrift nicht gerecht. Zwar weist das Landesarbeitsgericht zutreffend darauf hin, daß der Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall von der Tariföffnungsklausel des § 2 Abs. 3 LFZG nicht erfaßt war, auch wenn es darüber vor der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 3. März 1993 (- 5 AZR 132/92 - AP Nr. 25 zu § 2 LohnFG) noch Zweifel gegeben haben mag. Obwohl darum kein Anlaß bestanden hat, die Höhe der Entgeltfortzahlung tariflich zu regeln, ändert dies jedoch nichts daran, daß § 12 Ziff. 2 MTV das gesetzliche Lohnausfallprinzip durch eine umfassende eigene Regelung ersetzt hat, in der auch die Höhe der Entgeltfortzahlung abschließend festgelegt ist. Es ist anzunehmen, daß die Tarifvertragsparteien sich seinerzeit über die künftigen Auswirkungen ihrer Regelung keine Vorstellungen gemacht haben. Den objektiven Regelungsinhalt des § 12 Ziff. 2 MTV läßt dies unberührt.
Danach enthält die Vorschrift eine eigenständige Regelung über die Bemessungsgrundlagen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die die Höhe der Lohnfortzahlung einschließt. Der Kläger hat für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Fortzahlung seines vollen Lohnes. Auf die Frage, ob § 12 MTV mit seinem vom Landesarbeitsgericht angenommenen Regelungsinhalt gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstieße, kommt es nicht mehr an.
Unterschriften
Griebeling Reinecke Kreft Blank Glaubitz
Fundstellen
Haufe-Index 436447 |
BAGE, 330 |
BB 1999, 270 |
DB 1999, 748 |
ARST 1999, 94 |
NZA 1999, 497 |
SAE 1999, 206 |
AP, 0 |