Leitsatz (amtlich)
Im Geltungsbereich der Verordnung Nr. 175 über Wiedererrichtung von Finanzgerichten ist gegen Maßnahmen der Finanzämter im Beitreibungsverfahren nach § 18c der Verordnung Nr. 175 unmittelbar die Beschwerde an die Finanzgerichte auch insoweit gegeben, als Ermessensmißbrauch geltend gemacht wird.
Normenkette
VO Nr. 175 §§ 18c, 21 Abs. 2; AO §§ 237, 303-304; Beitreibungsordnung §§ 57, 59
Tatbestand
Der Vollstreckungsbeamte des Finanzamts hat bei dem Beschwerdeführer (Bf.) am 9. Juli 1952 unter anderem wegen rückständiger Umsatzsteuer eine Schreibmaschine im Schätzungswerte von 80 DM und 15 Packungen Rasierklingen im Schätzungswerte von 40 DM gepfändet. Nach Ankündigung der Abholung der Pfandstücke beantragte der Bf. Vollstreckungsaufschub. Die Vollstreckungsstelle des Finanzamts lehnte mit Bescheid vom 2. Oktober 1952 diesen Antrag ab und kündigte erneut die Abholung und Versteigerung der Pfandstücke an. Das Finanzgericht wies die Beschwerde, mit der der Bf. diesen Bescheid des Finanzamts anfocht und die er an die Oberfinanzdirektion richtete, als unbegründet zurück.
In der Rechtsbeschwerde (Rb.) macht der Bf. unter anderem geltend, daß die Schreibmaschine für ihn unentbehrlich und deshalb unpfändbar sei; er rügt außerdem Verletzung der §§ 1, 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) durch die Vorinstanzen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. hat keinen Erfolg.
Zutreffend hat das Finanzgericht seine unmittelbare Zuständigkeit zur Entscheidung über die Beschwerde auf Grund der Vorschrift des § 18c der Verordnung Nr. 175 über Wiedererrichtung von Finanzgerichten -- Verordnung Nr. 175 -- (Verordnungsblatt brit. Zone 1948 S. 385) angenommen. Bei dem angefochtenen Bescheid der Vollstreckungsstelle des Finanzamts vom 2. Oktober 1952 handelt es sich um eine Maßnahme, die in Ausführung der Zwangsvollstreckung vom Finanzamt ergriffen worden ist. An sich ist nach den §§ 237, 303 ff. der Reichsabgabenordnung (AO) in Verbindung mit § 59 der Beitreibungsordnung für die Entscheidung über eine Beschwerde gegen eine solche Maßnahme die Oberfinanzdirektion (früher der Oberfinanzpräsident) zuständig. Diese Bestimmung der AO ist jedoch für den Bereich der bisherigen britischen Zone durch die Vorschrift des § 18c der Verordnung Nr. 175 dahin abgeändert, daß die Finanzgerichte unmittelbar über Beschwerden gegen Verfügungen der Finanzämter entscheiden, die im Beitreibungsverfahren erlassen worden sind. Diese für den Bereich der bisherigen britischen Zone getroffene positive Gesetzesbestimmung wird durch das Gutachten des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (Slg. Bd. 55 S. 277, Bundessteuerblatt 1951 Teil III S. 107, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen 1951 S. 304, Steuer und Wirtschaft 1951 Nr. 97) nicht berührt. Das Gutachten stellt klar, daß auf Grund des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) gegen -- nach dem Wortlaut des § 304 Abs. 4 AO -- unanfechtbare Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektion (früher des Oberfinanzpräsidenten) der Rechtsmittelweg vor den Finanzgerichten bei behaupteter Rechtsverletzung, insbesondere bei geltend gemachtem Ermessensmißbrauch, gegeben ist. Wenn das Gutachten in diesem Zusammenhang die Ausschöpfung des Beschwerdeweges vor den Verwaltungsbehörden nach den §§ 237, 303 ff. AO als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Anrufung der Steuergerichte bezeichnet, so bezieht sich das Gutachten insoweit nicht auf Fälle, in denen durch besondere Rechtsvorschrift in Abweichung von der AO schon vor dem Inkrafttreten des GG die unmittelbare Zuständigkeit der Finanzgerichte begründet war. Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung für die Fälle des § 18c der Verordnung Nr. 175 die unmittelbare Zuständigkeit der Finanzgerichte auch im Hinblick auf die ausdrückliche Bestimmung im § 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 175 bejaht, nach der im Beschwerdeverfahren das Finanzgericht an die Stelle der nächsthöheren Behörde im Sinne des § 304 Abs. 1 AO tritt.
Ein anderes Ergebnis ist auch nicht aus dem Einwand herzuleiten, daß die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubs (§ 57 der Beitreibungsordnung) den gleichen Inhalt wie die Ablehnung einer Aussetzung der Vollziehung (§ 251 Satz 2 AO) habe und der Ablehnung einer Stundung (§ 127 AO) wesensgleich oder wesensähnlich sei (vgl. hierzu Urteil des Reichsfinanzhofs IV A 243/33 vom 25. April 1934, Slg. Bd. 36 S. 77, Steuer und Wirtschaft 1934 Nr. 351). Wenn eine Vollstreckung läuft, bleibt der Aufschub dieser Vollstreckung oder ihre Ablehnung eine "Verfügung einer Finanzverwaltungs behörde" -- im Sinne des § 18c der Verordnung Nr. 175 -- "die im Beitreibungsverfahren zur Vollstreckung der im § 17 und § 18 a) und b)" -- a. a. O -- "bezeichneten Entscheidungen und Anordnungen" erlassen wird, für deren Anfechtung die Verordnung Nr. 175 die unmittelbare Beschwerde an das Finanzgericht durch § 18c in Verbindung mit § 21 Abs. 2 eingeführt hat. Für die im Streitfall angefochtene Verfügung der Vollstreckungsstelle des Finanzamts gilt das um so mehr, als darin zugleich die Abholung und Versteigerung der Pfandstücke angekündigt wurde.
Der unterschiedliche Rechtsmittelzug bei Beitreibungsmaßnahmen im Bereich der bisherigen verschiedenen Zonen ist zwar vom Standpunkt der Rechtseinheit aus zu bedauern. Die Bestimmungen des § 18 der Verordnung Nr. 175 sind aber für Verwaltungsbehörden und Gerichte solange verbindlich, als nicht durch Maßnahmen des Gesetzgebers wieder ein einheitlicher Verfahrenszug in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen wird.
Auch in sachlicher Hinsicht ist der Beschluß der Vorinstanzen nicht zu beanstanden.
Für die Frage, ob bei einem selbständigen Drogisten, der selbst im Geschäft verkauft, eine Schreibmaschine nach § 811 Ziff. 5 der Zivilprozeßordnung (ZPO) in Verbindung mit § 350 AO zur Fortsetzung der Erwerbstätigkeit erforderlich und deshalb unpfändbar ist, kommt es jeweils auf die Umstände des Einzelfalles an. Im Streitfalle ist es nach den tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts nicht zu beanstanden, wenn das Finanzgericht die Schreibmaschine als für die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit nicht erforderlich angesehen hat. Der Umfang des Betriebs des Bf. zur Zeit der Pfändung war bei Zugrundelegung seiner Umsätze nicht so umfangreich, daß der Wegfall der Schreibmaschine den Betrieb des Bf lahmlegen konnte (vgl. Baumbach-Lauterbach, 20. Auflage Anmerkung 7c zu § 811 ZPO). Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der Bf. zur maßgebenden Zeit nur 3 DM vierteljährliche Einkommensteuervorauszahlungen zu leisten hatte.
Für die Frage, ob ein Gegenstand erforderlich ist oder nicht, kommt es entscheidend auf den Zeitpunkt der Pfändung an (vgl. Stein-Jonas-Schöncke, 17. Auflage Anmerkung II,4 zu § 811 ZPO). Es ist daher grundsätzlich unbeachtlich, ob der Bf. entsprechend seinen Ausführungen in der Rb. den Umfang des Betriebs später grundlegend geändert hat. Seine Berufung auf § 1 Abs. 2 StAnpG ("Entwicklung der Verhältnisse") geht deshalb fehl.
Es bleibt zu prüfen, ob die Fortsetzung der Zwangsvollstreckung hinsichtlich der rechtmäßig erfolgten Pfändungen einen Ermessensmißbrauch darstellt. Nach § 57 der Beitreibungsordnung kann die Vollstreckungsstelle aus Gründen der Billigkeit die Einstellung oder Beschränkung der Zwangsvollstreckung anordnen. Sind Billigkeitsgründe gegeben, so hat das Finanzamt sie von Amts wegen zu berücksichtigen. Die in der Beitreibungsordnung gegebene Befugnis für die Vollstreckungsstelle wandelt sich zu einer Prüfungspflicht, ob Billigkeitsgründe vorliegen.
Im Streitfalle hat das Finanzgericht auf Grund eingehender Prüfung mit Recht das Vorliegen solcher Billigkeitsgründe verneint. Es hat festgestellt, daß das Finanzamt dem Bf. schon seit Jahren weitgehend entgegengekommen ist. Die Entscheidung des Finanzgerichts wird besonders durch die Erwägung getragen, daß es sich bei den Rückständen, für die gepfändet ist, unter anderem um Umsatzsteuer handelt, die der Bf. entgegen seiner ausdrücklichen Verpflichtung vom 30. Oktober 1951, die laufenden Steuern pünktlich zu bezahlen, nicht an das Finanzamt abgeführt hatte.
Soweit der Bf. Einwendungen gegen die Höhe der Steuerforderungen erhebt, sind solche Einwendungen grundsätzlich nach § 327 Abs. 1 AO außerhalb des Zwangsverfahrens mit den hierfür zugelassenen Rechtsmitteln zu verfolgen.
Die Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamts und ihre Fortsetzung stellen somit keinen Mißbrauch des pflichtgemäßen Ermessens dar, da sie nicht gegen die Grundsätze von Recht und Billigkeit verstoßen (§ 2 Ab. 2 StAnpG in der jetzt geltenden Auslegung -- vgl. das angeführte Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr. S. D 1/51 S --).
Fundstellen
Haufe-Index 407750 |
BStBl III 1953, 299 |
BFHE 1954, 21 |