Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassungsfreie Revision wegen Fehlens der Entscheidungsgründe
Leitsatz (NV)
Zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge für die zulassungsfreie Revision, die Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5
Tatbestand
Die Einkommensteuerveranlagungen . . . des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) ergaben Steuerguthaben. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) verrechnete die Guthaben mit Steuerrückständen des Klägers. Der Kläger hält die Verrechnung für unzulässig. Mit der von ihm erhobenen Klage beantragte er zunächst, das FA zu verurteilen, die Verrechnungsbeträge an ihn zu zahlen; später stellte er den Antrag festzustellen, daß die Verrechnung rechtswidrig sei.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit folgender Begründung ab:
Die Leistungsklage sei nicht statthaft, denn über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis beträfen, entscheide nicht das Gericht, sondern die Finanzbehörde durch Verwaltungsakt (Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung - AO 1977 -). In diesem Verfahren werde über die Wirksamkeit von Verrechnungs- und Aufrechnungserklärungen zu entscheiden sein. Erst wenn der gegen den Abrechnungsbescheid gegebene Einspruch keinen Erfolg hätte, könne Klage erhoben werden (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12. Juni 1985 VII R 103/83, BFHE 147, 1, BStBl II 1986, 702).
Der Übergang zur Feststellungsklage sei eine Klageänderung und als solche unzulässig; denn das FA habe der Änderung nicht zugestimmt, und diese sei auch nicht sachdienlich (§ 67 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), weil die Feststellungsklage unzulässig sei. Sehe man in dem Schweigen des FA eine Einwilligung nach § 67 Abs. 2 FGO, so sei zwar die Klageänderung zulässig. Die Feststellungsklage bleibe aber weiterhin unzulässig, denn ihr fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger könne eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufrechnung durch eine Anfechtungsklage nach Erlaß eines Abrechnungsbescheids und Abweisung eines dagegen eingelegten Einspruchs erreichen (§ 41 Abs. 2 FGO).
Der Kläger hat gegen das Urteil des FG Revision eingelegt. Sein - zweiter - Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist ist erst nach Ablauf der ihm gewährten Frist beim BFH eingegangen. Der Kläger beantragt wegen dieser Fristversäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, sein Prozeßbevollmächtigter habe davon ausgehen können, daß der am . . . bis . . . Uhr dem Postamt übergebene Fristverlängerungsantrag nach den gewöhnlichen Postlaufzeiten am . . . dem BFH vorliegen werde.
Die Zulässigkeit der Revision wird darauf gestützt, daß die Entscheidung des FG nicht mit Gründen versehen sei (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO). Hierzu macht der Kläger geltend, dem Fehlen der Urteilsgründe stünden unschlüssige, im wesentlichen unvollständige und widersprüchliche Begründungen gleich. Die angefochtene Entscheidung lasse sich nicht nachvollziehen, weil Feststellungen des FG darüber fehlten, ob das FA eine Aufrechnung oder eine Verrechnung vorgenommen habe. In beiden Fällen hätte durch Verwaltungsakt entschieden werden müssen, gegen den ein außergerichtliches Vorverfahren gegeben gewesen sei. Da aber das FG das Vorliegen von Verwaltungsakten nicht festgestellt habe, habe es die von ihm erhobene Leistungsklage nicht als unstatthaft bezeichnen dürfen.
Eine Einwilligung des FA in die Änderung der Klage sei anzunehmen, da dessen Vertreter sich, ohne ihr zu widersprechen, in der mündlichen Verhandlung auf die geänderte Klage eingelassen habe (§ 67 Abs. 2 FGO). Für die Zulässigkeit der Klageänderung sei es deshalb ohne Bedeutung, ob das Gericht die Änderung für sachdienlich halte (§ 67 Abs. 1 FGO). Die Ausführungen der Vorinstanz über die Einwilligung des FA seien im übrigen widersprüchlich.
Er habe ein berechtigtes Interesse, die Rechtswidrigkeit der Verrechnung feststellen zu lassen, da es im Streitfall an einem anfechtbaren Verwaltungsakt fehle. Das FG habe somit zu Unrecht angenommen, daß kein Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellungsklage bestehe.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist gemäß §§ 124, 126 Abs. 1 FGO durch Beschluß zu verwerfen, weil sie unzulässig ist.
1. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob dem Kläger wegen der Versäumung der Frist für die Revisionsbegründung nach § 56 Abs. 1 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Es kommt für die Entscheidung nicht darauf an, ob der Prozeßbevollmächtigte des Klägers bei Aufgabe seines Fristverlängerungsantrags (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO) zur Post nach den gewöhnlichen Postlaufzeiten zwischen X-Stadt und München davon ausgehen konnte, der Antrag werde noch innerhalb der Frist am . . . beim BFH eingehen. Denn die Unzulässigkeit der Revision folgt bereits daraus, daß diese nicht zugelassen ist und Verfahrensmängel, die eine zulassungsfreie Revision begründen, nicht gegeben sind.
2. a) Nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs i. d. F. des Gesetzes zur Beschleunigung verwaltungsgerichtlicher und finanzgerichtlicher Verfahren vom 4. Juli 1985 (BGBl I, 1274) findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO die Revision nur statt, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der BFH sie zugelassen hat. Das FG hat die Revision im Streitfall nicht zugelassen; eine Nichtzulassungsbeschwerde zum BFH ist nicht eingelegt worden. Einen wesentlichen Verfahrensmangel gemäß § 116 Abs. 1 FGO, der zulassungsfrei die Revision begründen könnte, hat der Kläger nicht schlüssig dargelegt.
b) Ein wesentlicher Verfahrensmangel ist schlüssig gerügt, wenn die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen - ihre Richtigkeit unterstellt - einen Mangel i. S. von § 116 Abs. 1 FGO ergeben (Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 116 Rndr. 3). Der Kläger macht als Verfahrensrüge geltend, das mit der Revision angefochtene FG-Urteil sei nicht mit Gründen versehen (§§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 119 Nr. 6 FGO). Nach § 105 Abs. 2 Nrn. 4 und 5 FGO muß ein Urteil einen Tatbestand und Entscheidungsgründe enthalten. Beides dient der Sicherstellung, daß die Beteiligten ihre prozessualen Rechte wahrnehmen können. Die Wiedergabe des Tatbestands ist erforderlich, damit die Beteiligten erkennen können, welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung zugrunde liegen. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegt deshalb nur vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Das ist z. B. der Fall, wenn jegliche Begründung fehlt oder wenn nicht erkennbar ist, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde liegt bzw. auf welche rechtlichen Erwägungen sich die Entscheidung stützt (BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, 327, BStBl II 1985, 417, m. w. N.).
Die angefochtene Entscheidung enthält - wenn auch in knapper Form - sowohl einen Tatbestand als auch die das Urteil tragenden Entscheidungsgründe. Der Kläger hat auch weder behauptet, daß jegliche Begründung fehle, noch hat er schlüssig gerügt, daß der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt bzw. die rechtlichen Erwägungen, auf die das FG sein Urteil stützt, nicht erkennbar seien. Die von ihm geltend gemachten Urteilsmängel beinhalten keinen Verfahrensfehler i. S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 119 Nr. 6 FGO, sondern allenfalls materiell-rechtliche Fehler der Entscheidung, die als solche eine zulassungsfreie Revision nicht begründen.
aa) Das gilt zunächst für das klägerische Vorbringen, die angefochtene Entscheidung lasse sich nicht nachvollziehen, weil Feststellungen des FG darüber fehlten, ob das FA eine Aufrechnung oder Verrechnung durch Verwaltungsakt vorgenommen habe. Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung - und zwar auch in den vom Kläger zitierten Urteilen vom 22. April 1966 III 46/62 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1966, 424) und vom 16. November 1971 VIII R 37/68 (BFHE 104, 277, BStBl II 1972, 349) - die Auffassung vertreten, daß kein Verfahrensfehler, sondern ein materiell-rechtlicher Fehler vorliegt, wenn die vom FG ausgesprochene Rechtsfolge nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen gedeckt ist oder wenn die Ausführungen des FG dem Revisionsgericht eine Überprüfung der im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegenden Würdigung anhand hierzu geeigneter tatsächlicher Feststellungen nicht ermöglichen (vgl. Gräber / Ruban, a.a.O., § 115 Rdnr. 27, § 119 Rdnr. 23, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).
Die rechtliche Begründung des FG, daß die Leistungsklage nicht statthaft sei, weil über die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zunächst durch Verwaltungsakt (Abrechnungsbescheid) zu entscheiden sei, ist ausreichend. Sie entspricht im wesentlichen dem auch vom FG zitierten Urteil des Senats in BFHE 147, 1, BStBl II 1986, 702. Der Senat hat dort entschieden, daß eine auf Steuererstattung gerichtete Leistungsklage nur dann begründet ist, wenn der Erstattungsanspruch zuvor durch einen Bescheid i. S. des § 218 Abs. 1 AO 1977, der auch ein Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO 1977 sein kann, festgesetzt worden ist. Auf die vom Kläger vermißte Feststellung, ob das FA durch Verwaltungsakt gegen seinen Erstattungsanspruch aufgerechnet habe, kommt es nach der rechtlichen Begründung des FG-Urteils nicht an. Dasselbe gilt hinsichtlich der Verrechnung, da über die Frage der wirksamen Aufrechnung oder Verrechnung im Abrechnungsbescheid zu entscheiden ist. Im übrigen rügt der Kläger zu Unrecht, daß es im Zusammenhang mit der Aufrechnung oder Verrechnung an der Feststellung von Verwaltungsakten fehle. Die Aufrechnungserklärung des FA mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis ist nach der Rechtsprechung des Senats die rechtsgeschäftliche Ausübung eines Gestaltungsrechts und für sich allein kein Verwaltungsakt (Urteil vom 2. April 1987 VII R 148/83, BFHE 149, 482, BStBl II 1987, 536).
bb) Die rechtlichen Erwägungen des FG über die Unzulässigkeit der im Wege der Klageänderung erhobenen Feststellungsklage sind entgegen dem Vorbringen des Klägers weder unvollständig noch widersprüchlich. Auch das FG ist von der Möglichkeit einer Einwilligung des FA in die Änderung der Klage nach § 67 Abs. 2 FGO, auf die sich der Kläger beruft, ausgegangen. Es hat aber für den Fall der dann zulässigen Klageänderung (§ 67 Abs. 1 FGO) die Feststellungsklage dennoch mit der Begründung als unzulässig angesehen, daß ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehle und der Kläger eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufrechnung nach Erteilung eines Abrechnungsbescheids durch Anfechtungsklage erreichen könne. Soweit der Kläger gegen diese Rechtsauffassung - insbesondere hinsichtlich des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses - Einwendungen erhebt, handelt es sich nicht um Verfahrensrügen, die nach § 116 Abs. 1 FGO die zulassungsfreie Revision begründen können. Der Senat ist deshalb an der rechtlichen Überprüfung der Vorentscheidung gehindert. Er weist aber darauf hin, daß das FG die Feststellungsklage wegen ihrer Subsidiarität gegenüber der Anfechtungsklage nach § 41 Abs. 2 FGO als unzulässig ansieht und dabei auf die Möglichkeit der Anfechtung eines noch zu erteilenden Abrechnungsbescheids hinweist, während der Kläger die Anfechtungsklage nicht als gegeben ansieht, weil er - zu Unrecht - allein auf eine hier fehlende Aufrechnungsverfügung als anfechtbaren Verwaltungsakt abstellt.
Fundstellen