Leitsatz (amtlich)
1. Ist das FA erst durch nachträglich vorgebrachte Umstände zur Aussetzung der Vollziehung veranlaßt worden, so ist bei der Entscheidung über die Kosten nach billigem Ermessen auch § 137 Satz 1 FGO zu berücksichtigen.
2. Die Anwendung des § 137 Satz 1 FGO setzt voraus, daß das verspätete Vorbringen auf einem Verschulden beruht.
Normenkette
FGO §§ 138, 137
Tatbestand
Bei der Veranlagung der Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Steuerpflichtigen) zur Umsatzsteuer 1964 (Bescheid vom 24. März 1966) verneinte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (FA) entgegen der Erklärung der Steuerpflichtigen eine Organschaft zwischen der Steuerpflichtigen und der Haus- und Grundstücksverwaltungs AG und zog dementsprechend die Innenumsätze zur Steuer heran.
Mit der gegen den Umsatzsteuerbescheid erhobenen Sprungklage beantragte die Steuerpflichtige gleichzeitig beim FG Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 FGO in Höhe des streitigen Betrages von 4 217,15 DM. Das FA stimmte der Sprungklage nicht zu, setzte aber die Vollziehung hinsichtlich des streitigen Betrages aus. Die Beteiligten erklärten daraufhin die Hauptsache für erledigt.
Mit dem angefochtenen Bescheid entschied das FG, daß die Kosten "unter Anlehnung an § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO" der Staatskasse zur Last fallen.
Mit der Beschwerde rügte das FA, die Entscheidung verletze das geltende Recht, denn die Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 FGO hätten im Streitfall nicht vorgelegen, auch eine analoge Anwendung des § 138 Abs. 2 FGO scheide aus. Das FG hätte bei der Entscheidung über die Kosten § 137 FGO, insbesondere dessen Satz 1 berücksichtigen müssen; denn die Steuerpflichtige habe erst in ihrem Aussetzungsantrag bzw. in ihrer Klage neue Tatsachen vorgebracht, die die Aussetzung gerechtfertigt hätten. Da das FA keine Veranlassung zu dem kostenverursachenden Antrag gegeben und dem Antrag sofort stattgegeben habe, sei es billig, der Steuerpflichtigen auch aus dem allgemein gültigen Grundsatz des § 93 ZPO die Kosten aufzuerlegen, zumal da diese die Kosten durch einen Aussetzungsantrag an das FA hätte vermeiden können.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
1. Mit Recht rügt das FA, daß das FG die Entscheidung nicht auf § 138 Abs. 2 FGO stützen konnte, weil die Voraussetzungen für eine Kostenentscheidung nach dieser Vorschrift im Streitfall nicht vorgelegen haben. Der Senat hat in dem Beschluß V B 9/67 vom 16. November 1967 (BStBl II 1968, 120) entschieden, daß dann, wenn das FA dem unmittelbar an das FG gerichteten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO) entspricht und dadurch der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt wird, das FG nicht nach § 138 Abs. 2 FGO, sondern gemäß § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen über die Kosten zu entscheiden hat. § 138 Abs. 2 FGO setzt nämlich voraus, daß der Rechtsstreit dadurch seine Erledigung findet, daß das FA einen angefochtenen Verwaltungsakt entsprechend dem Antrag des Steuerpflichtigen zurückgenommen oder geändert hat. Dies trifft aber nicht zu, wenn das FA die Vollziehung auf einen beim FG gestellten Aussetzungsantrag aussetzt. Da das FA in diesen Fällen noch keinen Verwaltungsakt erlassen hat, kann auch § 138 Abs. 2 FGO nicht entsprechend angewendet werden, wie es offenbar das FG getan hat.
2. Die Kostenentscheidung ist demnach gemäß § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu treffen. Dabei ist von erheblichem Einfluß für die Kostenentscheidung, wer Anlaß zum Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gegeben hat (vgl. Beschlüsse des BFH V B 9/67 vom 16. November 1967 und IV B 23/66 vom 14. April 1967 BFH 88, 195, BStBl III 1967, 321). Einen solchen Anlaß kann das FA dann gegeben haben, wenn es in dem angefochtenen Steuerbescheid die Organschaft nicht anerkannt hat, obwohl ihm dies auf Grund der Sachlage zur Zeit des Erlasses des Steuerbescheids unter Berücksichtigung der zur Frage der Organschaft ergangenen Rechtsprechung möglich gewesen wäre.
Dies ist aber nicht der Fall. Wie sich aus dem Inhalt der Akten ergibt, hat die Steuerpflichtige in ihrer Steuererklärung für das hier streitige Jahr "Leistungen an Organ" in Höhe von 105 428 DM als steuerfrei erklärt. Auf eine Anfrage des FA vom 8. Dezember 1965 hat die Steuerpflichtige zur Frage der zweifelhaften wirtschaftlichen Eingliederung lediglich ausgeführt, daß die AG ausschließlich eigenen Haus- und Grundbesitz verwalte, der ursprünglich einmal der Steuerpflichtigen gehört habe. Insoweit könne man sagen, daß hier eine Betriebsabteilung des Baugeschäfts, das ursprünglich einmal der Steuerpflichtigen gehört habe, nämlich die Hausbesitzverwaltung rechtlich verselbständigt worden sei. Durch die Gestaltung der Beziehungen zwischen Organträger und Organ sei keine eigene Willensbildung des Organs möglich.
Das FA hat in der Beschwerde zutreffend ausgeführt, daß unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Senats, insbesondere der BFH-Urteile V 176/55 U vom 23. Juli 1959, BFH 69, 307, BStBl III 1959, 376, V 42/60 vom 26. Juli 1962, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Umsatzsteuergesetz, § 2 Abs. 2 Nr. 1, Rechtsspruch 22, und V 101/62 U vom 27. August 1964, BFH 80, 181, BStBl III 1964, 539, die Annahme einer wirtschaftlichen Eingliederung der AG in die OHG auf Grund des von der Steuerpflichtigen dargestellten Sachverhalts nicht möglich gewesen sei. Eine wirtschaftliche Eingliederung kann nur dann angenommen werden, wenn durch besondere Umstände die wirtschaftliche Verflechtung von zwei Unternehmen insbesondere dadurch begründet wird, daß die Tätigkeit des einen Unternehmens eine notwendige Ergänzung der des anderen Unternehmens darstellt. Eine solche Verflechtung ist in der Tat aus dem vor Ergehen des Steuerbescheids bekannten Sachverhalt nicht ersichtlich gewesen.
3. Bei der Entscheidung über die Kosten nach billigem Ermessen ist auch zu berücksichtigen, aus welchem Grund dem Aussetzungsantrag stattgegeben worden ist, insbesondere ob für die Aussetzung dem FA schon bekannte oder erst nachträglich von der Steuerpflichtigen vorgetragene Gründe maßgebend gewesen sind. Ist nämlich das FA erst durch nachträglich vorgebrachte Umstände zur Aussetzung der Vollziehung veranlaßt worden, so ist bei einer Entscheidung über die Kosten nach billigem Ermessen auch der Grundsatz des § 137 Satz 1 FGO zu berücksichtigen, daß dem obsiegenden Beteiligten die Kosten ganz oder teilweise auch dann auferlegt werden können, wenn das Obsiegen auf Tatsachen beruht, die er hätte früher geltend machen oder beweisen können und sollen.
Das FA hat unwidersprochen vorgetragen, daß es deswegen ausgesetzt habe, weil die Steuerpflichtige im Gegensatz zu ihrer früheren Darstellung mit der Sprungklage bzw. dem Aussetzungsantrag eingehend die wirtschaftliche Eingliederung der AG durch Anführung neuer Tatsachen dargestellt hat. Insbesondere sei neu vorgetragen worden, daß die Steuerpflichtige seit 1963 im wesentlichen nur mehr Bauarbeiten für die Tochter-(Organ-) Gesellschaft ausführe. Das FA hat auf Grund dieses Vorbringens die Rechtmäßigkeit des von ihm erlassenen Steuerbescheids bezweifelt und deshalb seine Vollziehung ausgesetzt.
Der Umstand, daß das FA auf Grund des nachträglichen Vorbringens die Vollziehung ausgesetzt hat, reicht jedoch für sich allein nicht aus, um dem obsiegenden Beteiligten die Kosten nach § 137 Satz 1 FGO aufzuerlegen. § 137 Satz 1 FGO geht auf die Regelung des § 307 Abs. 3 AO a. F. zurück. Nach dieser Vorschrift konnten die Kosten dem obsiegenden Steuerpflichtigen nur dann auferlegt werden, wenn das verspätete Vorbringen auf einem Verschulden beruhte (BFH-Urteile VI 29/62 U vom 13. Dezember 1963, BFH 78, 481, BStBl III 1964, 185, und I 111/64 vom 3. Mai 1967, BFH 88, 498, 503, BStBl III 1967, 464). In der zuletzt angeführten Entscheidung wird die Rechtsprechung zur Auslegung des § 307 Abs. 3 Satz 1 AO a. F. hinsichtlich des Verschuldens auch auf § 137 Satz 1 FGO angewendet. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Der Gedanke, daß auch bei § 137 Satz 1 das Verschulden eine Rolle spielt, ergibt sich auch aus § 137 Satz 2 FGO und § 155 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (vgl. hierzu Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Auflage, Randnr. 17 zu § 155 der Verwaltungsgerichtsordnung). Hinsichtlich des Grades des Verschuldens ist jedoch zu beachten, daß nach § 307 Abs. 3 Satz 1 AO a. F. der Steuerpflichtige die neuen Tatsachen früher hätte geltend machen "müssen", während er sie nach § 137 Satz 1 FGO hätte geltend machen "sollen". Zu dem Wortlaut des § 307 Abs. 3 Satz 1 AO a. F. hat die Rechtsprechung angenommen, daß nur dann, wenn das verspätete Vorbringen auf grober Fahrlässigkeit beruht, dem Steuerpflichtigen die Kosten auferlegt werden können (vgl. BFH-Urteil IV 554/53 U vom 28. Januar 1954, BFH 58, 470, BStBl III 1954, 90).
Für den Streitfall braucht nicht entschieden zu werden, ob mit Rücksicht auf den veränderten Wortlaut § 137 Satz 1 FGO noch eine grobe Nachlässigkeit voraussetzt, oder nunmehr jedes Verschulden genügen läßt (vgl. Baltzer, Deutsches Steuerrecht 1967, 278).
Unwidersprochen hat nämlich das FA vorgetragen, daß der Steuerberater der Steuerpflichtigen, nachdem die Anfrage des FA durch das Schreiben vom 4. Januar 1966 beantwortet war, telefonisch auf die immer noch bestehenden Bedenken bezüglich der wirtschaftlichen Eingliederung hingewiesen worden war, diese Bedenken aber weder sofort noch später ausgeräumt hat. Hat aber die Steuerpflichtige trotz Aufforderung ihre Mitwirkungspflicht im steuerrechtlichen Verfahren nicht erfüllt, sondern erst im Klageverfahren die entsprechenden Angaben gemacht, so ist die Annahme auch eines groben Verschuldens gerechtfertigt, wenn, wie es im Streitfall geschehen ist, das FA den ihm nicht nachgewiesenen Umstand genau bezeichnet hat und die Steuerpflichtige nichts vorgetragen hat, was die Verspätung des Vorbringens hätte entschuldbar erscheinen lassen.
Da das FA unbestritten durch die in der Sprungklage bzw. dem Aussetzungsantrag neu vorgetragenen Tatsachen erst veranlaßt worden ist, die Vollziehung des Steuerbescheids auszusetzen, das verspätete Vorbringen auch verschuldet ist, hätten der Steuerpflichtigen, wenn es im Aussetzungsverfahren zu einer gerichtlichen Entscheidung gekommen wäre, auch die Kosten auferlegt werden können. Bei Würdigung der Sach- und Rechtslage im Rahmen einer Entscheidung nach billigem Ermessen gemäß § 138 Abs. 1 FGO kann dies nicht unberücksichtigt bleiben. Das führt im Streitfall dazu, daß der Steuerpflichtigen nach billigem Ermessen die Kosten gemäß § 138 Abs. 1 FGO aufzuerlegen sind. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 140 Abs. 3 FGO.
Fundstellen
BStBl II 1968, 203 |
BFHE 1968, 23 |