Entscheidungsstichwort (Thema)
Beiladung des Sozialamtes, wenn die Familienkasse Kindergeld zurückfordert
Leitsatz (NV)
Fordert die Familienkasse von der Berechtigten Kindergeld mit der Begründung zurück, es sei doppelt gezahlt worden ‐ sowohl an die Berechtigte direkt als auch an den Sozialhilfeträger, weil dieser die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht um das Kindergeld gekürzt habe -, so ist der Sozialhilfeträger notwendig beizuladen.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 2; FGO § 60 Abs. 3; SGB X §§ 104, 107
Tatbestand
I. Stand des Verfahrens
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erhielt für ihre volljährige, in eigenem Haushalt lebende Tochter Kindergeld, das von der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) auf schriftliche Weisung der Klägerin --ohne förmliche Abzweigung nach § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG)-- auf ein Konto der Tochter überwiesen wurde.
Am 8. August 2003 bat die Stadt B --Sozialamt (Beigeladene)--, die der Klägerin Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt gewährte, um Erstattung des ab August 2003 gewährten Kindergeldes. Die Familienkasse überwies das Kindergeld für August und September 2003 an die Stadt und forderte es mit Bescheid vom 24. September 2003 von der Klägerin zurück.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG), dessen Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 1720 abgedruckt ist, führte aus, die Familienkasse hätte eine Abzweigung des Kindergeldes an die Tochter veranlassen müssen, das Kindergeld sei deshalb im sozialhilferechtlichen Sinne nicht Einkommen der Klägerin, sondern der Tochter.
Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision die Verletzung materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
II. Grund der Beiladung
Das FG hat es versäumt, die Stadt B zu dem Verfahren notwendig beizuladen (§ 60 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 123 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO sind Dritte, die an einem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann, zu dem Verfahren beizuladen (notwendige Beiladung). Das ist der Fall, wenn die Entscheidung notwendigerweise und unmittelbar Rechte oder Rechtsbeziehungen des Dritten gestaltet, bestätigt, verändert oder zum Erlöschen bringt (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 9. Februar 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2004, 662, m.w.N.).
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO sind im Streitfall gegeben. Der angefochtene Rückforderungsbescheid wäre rechtmäßig, wenn die Klägerin das Kindergeld doppelt erhalten hätte - zum einen von der Familienkasse durch Überweisung an ihre Tochter und zum anderen durch die ungekürzte Sozialhilfe. Dies hängt davon ab, ob der Erstattungsanspruch der beigeladenen Stadt B nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) bestand und der Kindergeldanspruch der Klägerin gegen die Familienkasse durch die ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt erfüllt wurde (§ 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X).
Kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Rückforderungsanspruch der Familienkasse nicht besteht, weil es an einem Erstattungsanspruch der Beigeladenen fehlte, so hätte diese die von der Familienkasse erhaltenen Beträge nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 112 SGB X zurückzuerstatten. Deshalb beeinflusst die Entscheidung über den Rückforderungsbescheid gegen die Klägerin auch die Rechtsposition der Beigeladenen. Zwar handelt es sich bei dem Kindergeldanspruch nach §§ 62 ff. EStG und dem Erstattungs- bzw. dem Rückerstattungsanspruch nach §§ 102 ff. SGB X um eigenständige Ansprüche. Sie hängen aber so eng miteinander zusammen, dass eine gerichtliche Entscheidung gegenüber dem Kindergeldberechtigten, der Familienkasse und dem Erstattungsberechtigten nur einheitlich ergehen kann (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Juni 1986 8 RK 61/84, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 1166, bestätigt durch Urteil vom 23. Februar 1999 B 1 KR 6/97 R, SozR 3-1300 § 111 Nr. 7, zur notwendigen Beiladung des Versicherten im Erstattungsstreit zwischen Versicherung und Sozialhilfeträger; im Ergebnis ebenso Urteile des Niedersächsischen FG vom 30. Januar 2002 2 K 410/98 KI, juris, EFG 2002, 1534 --nur Leitsatz--; des FG Rheinland-Pfalz vom 18. Oktober 2002 3 K 1503/02, juris, und des FG Münster vom 1. Juli 2004 6 K 2517/03 AO, EFG 2004, 1780).
2. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung begründet einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, der vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist. Die Beiladung kann aber nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO in der Revisionsinstanz nachgeholt werden. Der Senat übt sein ihm in dieser Vorschrift eingeräumtes Ermessen dahingehend aus, dass er von einer Zurückverweisung der Sache an das FG absieht und die Beiladung selbst vornimmt.
III. Hinweise
1. Durch den Beiladungsbeschluss erhält die Beigeladene die Stellung einer Beteiligten (vgl. § 57 Nr. 3 FGO). Die Rechtskraft einer Entscheidung in diesem Verfahren wirkt für und gegen die Beigeladene (§ 110 Abs. 1 FGO).
2. Die Beigeladene kann Verfahrensmängel nur innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses rügen (§ 123 Abs. 2 Satz 1 FGO). Die Frist kann nach Maßgabe des § 123 Abs. 2 Satz 2 FGO verlängert werden. Jeder Beteiligte, also auch die Beigeladene, muss sich vor dem BFH durch eine Person i.S. des § 3 Nr. 1 des Steuerberatungsgesetzes vertreten lassen (§ 62a Abs. 1 Satz 1 FGO). Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie durch Diplomjuristen im höheren Dienst vertreten lassen (§ 62a Abs. 1 Satz 3 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 1720043 |
BFH/NV 2007, 1160 |