Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldbescheid ohne vorherigen ausdrücklichen Antrag
Leitsatz (NV)
1. Macht der Beschwerdeführer geltend, die Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung, ob ein ohne vorherigen Antrag ergangener Kindergeldbescheid nichtig ist, so erfordert dies ein Eingehen auf die Rechtsprechung zur Wirksamkeit eines ohne Antrag erlassenen Lohnsteuer-Pauschalierungsbescheides (BFH-Urteil vom 7.2.2002 VI R 80/00, BStBl II 2002, 438, BFH/NV 2002, 719) sowie eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Stellungnahmen in der Fachliteratur.
2. Die Frage, ob eine der Familienkasse übersandte Ausbildungsbescheinigung als Kindergeldantrag zu werten ist, betrifft keine Tatsache i.S.v. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, sondern eine rechtliche Wertung.
Normenkette
AO § 173; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, § 116 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches FG (Urteil vom 07.04.2008; Aktenzeichen 2 K 188/07) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog für seinen Sohn (A), der sich von August 2000 bis Juli 2003 in einem Ausbildungsverhältnis befand, Kindergeld. Mit Schreiben vom 12. Dezember 2000 an die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) bat der Kläger, "vorerst" ab 1. Januar 2001 die Zahlung des Kindergeldes auszusetzen, da die Einkünfte seines Sohnes voraussichtlich den --nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) maßgebenden-- Grenzbetrag überschreiten würden. Die Familienkasse stellte daraufhin ab Dezember 2000 die Zahlung des Kindergeldes ein. Hinsichtlich des Jahres 2000 wies der Kläger in der Folgezeit nach, dass die Einkünfte seines Sohnes nicht über dem Grenzbetrag lagen. Die Familienkasse zahlte deshalb Kindergeld für den Monat Dezember 2000 nach und hob mit Bescheid vom 13. Juni 2001 die Festsetzung des Kindergeldes rückwirkend ab Januar 2001 auf.
Im Dezember 2001 übersandte der Kläger der Familienkasse eine Ausbildungsbescheinigung des Arbeitgebers seines Sohnes vom 20. Dezember 2001, in welcher die jeweiligen Monatsbeträge der Einkünfte für die Dauer des Ausbildungsverhältnisses aufgelistet waren. Die Familienkasse wertete die Übersendung der Ausbildungsbescheinigung als Antrag auf Kindergeld ab Januar 2001, den sie --wegen Überschreitens der Einkünfte- und Bezügegrenze-- mit Bescheid vom 16. Januar 2002 ablehnte. Dagegen ging der Kläger nicht mit Einspruch vor.
Nachdem dem Kläger die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) bekannt geworden war, beantragte er im Dezember 2005 rückwirkend Kindergeld für das Jahr 2001. Die Familienkasse lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 21. Juni 2006 unter Hinweis auf den Ablehnungsbescheid vom 16. Januar 2002 ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) war ebenfalls der Ansicht, der Ablehnungsbescheid vom 16. Januar 2002 stehe der Gewährung von Kindergeld entgegen. Er sei zwar rechtswidrig, weil darin entgegen dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 die für A abgeführten Sozialversicherungsbeiträge nicht Einkünfte mindernd berücksichtigt worden seien, der Bescheid sei jedoch nicht nichtig.
Das Urteil des FG wurde der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 10. April 2008 zugestellt. Hiergegen legte diese für den Kläger mit Schriftsatz vom 13. Mai 2008 Nichtzulassungsbeschwerde ein. Eine Begründung sollte in einem gesonderten Schriftsatz nachgereicht werden, ging jedoch zunächst nicht beim Bundesfinanzhof (BFH) ein.
Durch ein Schreiben der Senatsvorsitzenden vom 18. Juni 2008 wurde die Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde am 10. Juni 2008 abgelaufen war. Mit Schreiben vom 18. Juli 2008 beantragte die Prozessbevollmächtigte für den Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zur Begründung trug sie vor, die Eingangspost werde von der sehr erfahrenen und sorgfältig arbeitenden Angestellten S mit einem Stempel versehen, sodann würden ggf. laufende Fristen notiert. Nach Sichtung der Tagespost habe die Klägervertreterin an S die Weisung erteilt, die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde neben der bereits vermerkten Beschwerdefrist zu notieren und anschließend die Akte mit einer Ausführungsbestätigung sofort wieder vorzulegen. Diese Anweisung habe S zwar sogleich notiert, sie habe allerdings die Akte anschließend weggelegt, ohne die weitere Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vermerkt zu haben, auch habe sie versäumt, die Akte wieder vorzulegen. Bei S handele es sich um eine geschulte und zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte, die seit mehr als zwei Jahren den Fristenkalender sorgfältig und fehlerlos geführt habe.
In der Sache lässt der Kläger vortragen, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, weil der Praxis von Behörden entgegengewirkt werden müsse, die rechtskräftige negative Bescheide erließen, ohne dass zuvor entsprechende Anträge gestellt worden seien. Durch derartige Bescheide dürften die Rechte betroffener Bürger nicht verwirkt werden. Er, der Kläger, habe keinen wirksamen Antrag auf Kindergeld gestellt. Ein Antrag könne auch nicht darin gesehen werden, dass er auf eine Aufforderung der Familienkasse hin eine Ausbildungsbescheinigung übersandt habe. Der Bescheid vom 16. Januar 2002 sei nichtig, weil er unter einem besonders schwerwiegenden Fehler leide. Unabhängig hiervon sei der Ausgangsbescheid nach § 173 der Abgabenordnung (AO) zu ändern, da nachträglich Tatsachen und Beweismittel bekannt geworden seien, die zu einer anderen Beurteilung führten. Die fehlende Antragstellung sei eine wesentliche, nachträglich bekannt gewordene Tatsache, die eine Änderung nach § 173 AO rechtfertige. Die Rechtssache sei nicht nur von grundsätzlicher Bedeutung, wegen des fehlenden Antrags liege auch ein Verfahrensfehler vor.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig und wird durch Beschluss verworfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Dabei kann dahinstehen, ob dem Kläger wegen der Versäumung der für seine Nichtzulassungsbeschwerde geltenden Begründungsfrist (§ 116 Abs. 3 FGO) die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre (§ 56 FGO). Jedenfalls genügt die Beschwerdebegründung nicht den Darlegungserfordernissen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.
1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine hinreichend bestimmte Rechtsfrage herausstellt, deren Klärung im Interesse der Allgemeinheit an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts erforderlich ist und die im konkreten Streitfall klärbar ist. Dazu ist auszuführen, ob und in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Rechtsfrage umstritten ist. Vor allem sind, sofern zu dem Problemkreis Rechtsprechung und Äußerungen im Fachschrifttum vorhanden sind, eine grundlegende Auseinandersetzung damit sowie eine Erörterung geboten, warum durch diese Entscheidungen die Rechtsfrage noch nicht als geklärt anzusehen ist bzw. weshalb sie ggf. einer weiteren oder erneuten Klärung bedarf (s. z.B. Senatsbeschluss vom 22. Oktober 2003 III B 14/03, BFH/NV 2004, 224).
a) Dem Vorbringen des Klägers lässt sich entnehmen, dass er die Klärung der --nicht ausdrücklich formulierten-- Rechtsfrage begehrt, ob ein Bescheid, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt wird, nichtig ist, weil der Kindergeldberechtigte zuvor keinen entsprechenden Antrag gestellt hat. Der Kläger hat sich nicht mit dem Urteil des BFH vom 7. Februar 2002 VI R 80/00 (BFHE 197, 554, BStBl II 2002, 438) auseinandergesetzt, in dem dieser entschieden hat, dass ein Lohnsteuer-Pauschalierungsbescheid nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der ohne Antrag des Arbeitgebers ergangen ist, nicht nichtig ist. Dementsprechend ist er auch nicht auf die Frage eingegangen, weshalb trotz dieser Entscheidung die oben formulierte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sein sollte. Ebenso wenig hat er sich mit einschlägigen Stellungnahmen in der Fachliteratur befasst, in denen ein zur Nichtigkeit führender schwerwiegender Mangel i.S. von § 125 Abs. 1 AO in den Fällen verneint wird, in denen ein Verwaltungsakt ergangen ist, ohne dass zuvor der eigentlich erforderliche Antrag gestellt worden ist (s. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 125 AO Rz 27; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 125 AO Rz 22; Klein/Brockmeyer, AO, 9. Aufl., § 125 Rz 9; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 125 Rz 10; Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 125 Rz 11). Damit hat der Kläger die grundsätzliche Bedeutung entgegen § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht dargelegt.
b) Auch die pauschale Behauptung, der Ablehnungsbescheid vom 16. Januar 2002 könne nach § 173 AO geändert werden, weil die fehlende Antragstellung erst nachträglich bekannt geworden sei, genügt nicht den Darlegungserfordernissen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.
Unabhängig hiervon betrifft die Frage, ob die der Familienkasse übersandte Ausbildungsbescheinigung als Kindergeldantrag zu behandeln war, nicht eine "Tatsache" i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, sondern eine rechtliche Wertung.
2. Mit der Rüge, das FG habe den Bescheid vom 16. Januar 2002 trotz des fehlenden Antrags als wirksam angesehen, macht der Kläger keinen Verfahrensmangel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), sondern einen materiell-rechtlichen Fehler. Einwände gegen die materiell-rechtliche Richtigkeit führen jedoch grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision (z.B. BFH-Beschluss vom 29. Mai 2006 V B 159/05, BFH/NV 2006, 1892).
Fundstellen