Entscheidungsstichwort (Thema)
Divergenz, qualifizierter Rechtsanwendungsfehler; Unzulässigkeit bedingter Rügen; Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO 1977; Verletzung materiellen Rechts kein Zulassungsgrund
Leitsatz (NV)
1. Die schlüssige Darlegung einer Divergenzrüge erfordert eine hinreichend genaue Bezeichnung der vermeintlichen Divergenzentscheidung sowie die Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus der behaupteten Divergenzentscheidung andererseits, um eine Abweichung erkennbar zu machen. Insbesondere ist auszuführen, dass es sich im Streitfall um einen vergleichbaren Sachverhalt und um eine identische Rechtsfrage handelt.
2. Nach der Rechtsprechung des BFH erfordert die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO 1977 eine positive Kenntnis der (zuständigen) Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewissheit. Das bloße Kennen müssen von Tatsachen reicht nicht aus. Vielmehr muss das FA die Tatbestandsmerkmale für die endgültige Steuerfestsetzung feststellen können.
3. Wird die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage für den Fall begehrt, dass der BFH eine Divergenz verneint, so ist diese Rüge bereits wegen ihrer nur bedingten Erhebung unzulässig.
4. Mit dem bloßen Hinweis auf eine fehlende Entscheidung des BFH wird kein Klärungsbedarf einer Rechtsfrage dargetan.
5. Nach der Rechtsprechung des BFH sieht § 165 AO 1977 in zeitlicher Hinsicht keine Begrenzung der Vorläufigkeit vor. Ist die Ungewissheit im Sinne des § 165 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO 1977 entfallen, so kann der Steuerpflichtige beantragen, den Steuerbescheid für endgültig zu erklären und gegebenenfalls dieses Begehren durch Verpflichtungseinspruch und Verpflichtungsklage durchsetzen.
6. Die zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 entwickelten Grundsätze, wonach nachträglich bekannt gewordene Tatsachen nach Treu und Glauben dann nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, wenn die Behörde sie bei gehöriger Erfüllung ihrer Ermittlungspflichten schon vorher hätte feststellen können, sind nicht auf § 171 Abs. 8 AO 1977 zu übertragen.
7. Bei neu gegründeten Gewerbebetrieben spricht der Beweis des ersten Anscheins grundsätzlich für das Vorliegen der Gewinnerzielungsabsicht, es sei denn, die Art des Betriebes bzw. seine Bewirtschaftung sprechen von vornherein dagegen, weil das Unternehmen nach der Lebenserfahrung typischerweise dazu bestimmt und geeignet ist, persönlichen Neigungen des Steuerpflichtigen oder der Erlangung wirtschaftlicher Vorteile außerhalb der Einkommenssphäre zu dienen.
8. Ausnahmsweise sind Anlaufverluste dann steuerrechtlich nicht anzuerkennen, wenn aufgrund der bekannten Entwicklung des Betriebes eindeutig feststeht, dass er, so wie ihn der Steuerpflichtige betrieben hat, von vornherein nicht in der Lage gewesen ist, nachhaltig Gewinne zu erzielen und deshalb nach objektiver Beurteilung von Anfang an keine Einkommensquelle im Sinne des Einkommensteuerrechts dargestellt.
Normenkette
AO 1977 § 165 Abs. 1 Sätze 1-2, § 171 Abs. 8 S. 1, § 173 Abs. 1 Nr. 1 S. 1; EStG § 15 Abs. 2; FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 116 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
FG Münster (Urteil vom 05.07.2005; Aktenzeichen 15 K 5915/99 F) |
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 132 FGO).
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat die geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 2. Alternative FGO nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargetan.
1. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
Der Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO umfasst zum einen die Divergenzrüge, zum anderen die Behauptung eines sog. qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers.
a) Zur schlüssigen Darlegung einer Divergenzrüge i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO gehört u.a. eine hinreichend genaue Bezeichnung der vermeintlichen Divergenzentscheidung sowie die Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des Finanzgerichts (FG) einerseits und aus der behaupteten Divergenzentscheidung andererseits, um eine Abweichung erkennbar zu machen. Insbesondere ist auszuführen, dass es sich im Streitfall um einen vergleichbaren Sachverhalt und um eine identische Rechtsfrage handelt (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. Januar 2006 VIII B 172/05, BFH/NV 2006, 799).
Das FG hat im angefochtenen Urteil die Voraussetzungen der zur Ablaufhemmung der Feststellungsfrist führenden Regelung in § 171 Abs. 8 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) als erfüllt angesehen, weil der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) nach den gesamten Umständen frühestens nach Ausfertigung des Betriebsprüfungsberichts vom 5. Mai 1998 die "absolute" Gewissheit hinsichtlich der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht erlangt habe.
Nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO 1977 endet die Festsetzungsfrist, wenn die Steuer vorläufig festgesetzt worden ist, nicht vor Ablauf eines Jahres, nach dem die Ungewissheit beseitigt ist und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erlangt hat. Die erforderliche positive Kenntnis bezieht sich auf Tatsachen.
Das FG hat indes nicht --auch nicht stillschweigend-- einen von der ständigen Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569) abweichenden Tatsachenbegriff zugrunde gelegt und etwa das nur durch Schlussfolgerungen aus objektiven äußeren Umständen feststellbare Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht (vgl. dazu BFH-Urteil vom 25. Juni 1996 VIII R 28/94, BFHE 181, 133, BStBl II 1997, 202, 205) als solches einer Tatsache gleichgesetzt, sondern (vgl. FG-Urteil S. 8) ausdrücklich ausgeführt, die Ungewissheit der Gewinnerzielungsabsicht sei erst in dem Zeitpunkt beseitigt gewesen, in dem das FA unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände dies habe beurteilen können.
b) Es liegt auch kein sog. qualifizierter Rechtsanwendungsfehler vor, der ausnahmsweise die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO erfordert. Hierfür kommen nur offensichtliche materielle und formelle Fehler des FG im Sinne einer willkürlichen Entscheidung in Betracht. Hierzu reicht indes nicht eine bloß fehlerhafte Umsetzung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalles aus (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 799).
Nach diesen Maßstäben liegen Anhaltspunkte für einen derart schwerwiegenden Rechtsanwendungsfehler offensichtlich nicht vor.
c) Soweit die Klägerin für den Fall, dass der BFH eine Divergenz verneint, die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage begehrt, weil ein höchstrichterliches Urteil zu der Frage, wann die Ungewissheit über eine innere Tatsache beseitigt ist, nicht bekannt sei, ist diese Rüge bereits wegen der nur bedingten Erhebung unzulässig (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26. November 2004 XI S 19/02, juris; vom 18. Oktober 1994 VIII S 11/93, BFH/NV 1995, 540).
Im Übrigen wird mit dem bloßen Hinweis auf eine fehlende Entscheidung des BFH auch noch kein Klärungsbedarf einer Rechtsfrage dargetan (BFH-Beschlüsse vom 16. September 2005 III B 82/04, BFH/NV 2006, 130; vom 8. Dezember 1999 III B 72/99, BFH/NV 2000, 704).
Schließlich hat der BFH in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO 1977 eine positive Kenntnis der (zuständigen) Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewissheit erfordere und das bloße Kennen müssen von Tatsachen nicht ausreiche.
Das FA müsse die Tatbestandsmerkmale für die endgültige Steuerfestsetzung feststellen können (vgl. BFH-Urteile vom 26. August 1992 II R 107/90, BFHE 169, 9, BStBl II 1993, 5; vom 17. April 1996 II R 4/94, BFH/NV 1996, 929; vom 26. Oktober 2005 II R 9/01, BFH/NV 2006, 478).
2. Verstoß gegen Treu und Glauben
Mit der Behauptung, das FG habe es unterlassen, die Voraussetzungen von Treu und Glauben zu prüfen und deshalb sei die Revision zuzulassen, weil das Urteil zu einer "abweichenden Rechtsprechung" führe, wird gleichfalls kein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FGO dargetan, sondern allenfalls ein materiell-rechtlicher Mangel des Urteils behauptet. Von vornherein unbeachtlich sind Einwände gegen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils, die nur im Rahmen einer Revisionsbegründung relevant sein können; denn das prozessuale Rechtsinstitut der Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht dazu, allgemein die Richtigkeit finanzgerichtlicher Urteile zu gewährleisten (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 799).
Der BFH hat überdies klargestellt, dass § 165 AO 1977 in zeitlicher Hinsicht keine Begrenzung der Vorläufigkeit vorsehe und der Steuerpflichtige bei entfallender Ungewissheit i.S. des § 165 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO 1977 die Endgültigkeitserklärung des Steuerbescheides beantragen und dieses Begehren ggf. durch Verpflichtungseinspruch und -klage durchsetzen könne (BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 478).
Andererseits könnten die zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 entwickelten Grundsätze, wonach nachträglich bekannt gewordene Tatsachen nach Treu und Glauben dann nicht mehr berücksichtigt werden dürften, wenn die Behörde sie bei gehöriger Erfüllung ihrer Ermittlungspflichten schon vorher hätte feststellen können, nicht auf § 171 Abs. 8 AO 1977 übertragen werden.
Die Besonderheit der vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 AO 1977 liege gerade darin, dass dem Steuerpflichtigen die für das FA bestehende Ungewissheit bekannt sei und daher für ihn keine Situation bestehe, die zu seinen Gunsten einen Vertrauensschutz erzeugen könnte (BFH-Urteile in BFH/NV 2006, 478, und in BFHE 169, 9, BStBl II 1993, 5).
3. Verstoß gegen materielles Recht
Wie bereits unter 2. ausgeführt ist, wird mit der Behauptung, das FG habe das Tatbestandsmerkmal der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht fehlerhaft gewürdigt, grundsätzlich kein Zulassungsgrund dargetan.
Im Übrigen hat der Senat im Urteil in BFHE 181, 133, BStBl II 1997, 202, 206, ferner BFH-Beschluss vom 6. Oktober 2003 X B 22/02, juris, ausgeführt, bei neu gegründeten Gewebebetrieben spreche der Beweis des ersten Anscheins grundsätzlich für eine Gewinnerzielungsabsicht, es sei denn, die Art des Betriebes bzw. seine Bewirtschaftung sprächen von vornherein dagegen, weil das Unternehmen nach der Lebenserfahrung typischerweise dazu bestimmt und geeignet sei, persönlichen Neigungen der Steuerpflichtigen oder der Erlangung wirtschaftlicher Vorteile außerhalb der Einkommenssphäre zu dienen. Verluste der Anlaufzeit könnten freilich nur dann steuerrechtlich nicht anerkannt werden, wenn aufgrund der bekannten Entwicklung des Betriebes eindeutig feststehe, dass der Betrieb, so wie ihn der Steuerpflichtige betrieben habe, von vornherein nicht in der Lage gewesen sei, nachhaltige Gewinne zu erzielen und deshalb nach objektiver Beurteilung von Anfang an keine Einkunftsquelle im Sinne des Einkommensteuerrechts dargestellt habe.
Das FG hat (S. 9 des Urteils) aufgrund einer Gesamtwürdigung einen derartigen Ausnahmefall, wonach Verluste bereits in der Anlaufphase steuerlich nicht anzuerkennen seien, angenommen.
Fundstellen
Haufe-Index 1534874 |
BFH/NV 2006, 1477 |