Leitsatz (amtlich)
Wird die Vollziehung eines angefochtenen Feststellungsbescheids oder Steuermeßbescheids (hier eines Bescheids nach § 212c Abs. 1 AO) ausgesetzt, so ist die Behörde oder das Gericht, das die Aussetzung der Vollziehung anordnet, nicht berechtigt, eine Sicherheitsleistung zu verlangen.
Normenkette
AO §§ 212c, 242; FGO § 69
Tatbestand
Die Stadt H. hat gegen die Antragsteller und Beschwerdeführerin (Antragsteller) einen Haftungsbescheid für Gewerbesteuer der C-GmbH (GmbH) in H. erlassen. Auf Einspruch der Antragsteller beantragte die Stadt beim Antragsgegner und Beschwerdegegner (FA) den Erlaß eines Bescheids nach § 212c Abs. 1 AO. Dem entsprach das FA. Sein Bescheid nach § 212c Abs. 1 AO enthält im Verfügungssatz die Feststellung, daß die Antragsteller persönlich der hebeberechtigten Stadt H. für Gewerbesteuerschulden der GmbH neben der Steuerschuldnerin hafteten. Die Haftung ergebe sich aufgrund § 108 in Verbindung mit § 103 und § 109 AO. Einen Ausspruch über die Höhe der Haftungssumme enthält der Bescheid des FA nicht. Die Stadt erließ einen geänderten Haftungsbescheid über die ursprüngliche Haftungssumme von 34 766 DM.
Die Antragsteller legten gegen den Bescheid des FA (Bescheid nach § 212c Abs. 1 AO) Einspruch ein und begehrten Aussetzung der Vollziehung. Das FA entsprach diesem Antrag nur insofern, als es die Vollziehung des Bescheids nach § 212c Abs. 1 AO gegen Sicherheitsleistung in Höhe der Haftungssumme aussetzte (Verfügung vom 15. Dezember 1972). Die Antragsteller begehrten daraufhin beim FG die Vollziehung des Bescheids ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. Das FG lehnte den Antrag im wesentlichen mit folgender Begründung ab:
Das FG halte es für zumutbar, daß die Antragsteller eine Sicherheit in Höhe der Gewerbesteuerschulden leisteten. Sie hätten ihren Wohnsitz nach Italien verlegt und nicht unerhebliche Teile ihres Vermögens nach Liechtenstein verbracht. Diese beiden Umstände reichten aus, um Steuerausfälle nicht unmöglich erscheinen zu lassen, da Zugriffsmöglichkeiten erschwert oder überhaupt nicht möglich seien.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsteller mit dem Antrag, unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Beschlusses die begehrte Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung anzuordnen. Zur Begründung führten sie im wesentlichen aus, das FG habe sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, ist begründet.
1. Dem FG ist darin beizutreten, daß der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheides nach § 212c AO ohne Sicherheitsleistung zulässig ist.
Die Vorentscheidung hat zu Recht dargelegt, daß für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des FA nach § 212c AO der Finanzrechtsweg gegeben sei (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO). Zutreffend ist die Vorinstanz auch davon ausgegangen, daß der Antrag, die Vollziehung des Bescheides ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, beim FG als dem Gericht der Hauptsache gestellt werden durfte (§ 69 Abs. 3 FGO). Der Antrag geht über die vom FG gegen Sicherheitsleistung - somit unter einer Bedingung - verfügte Aussetzung der Vollziehung des Bescheids hinaus.
2. Im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung eines Bescheids nach § 212c AO darf indes keine Sicherheitsleistung angeordnet werden.
a) Nach § 212c Abs. 1 AO hat das FA auf Antrag durch schriftlichen Bescheid zu entscheiden, wenn Streit darüber besteht, ob und inwieweit eine Person oder eine Sache für eine Realsteuer haftet. Der Bescheid nach § 212c Abs. 1 AO ist ein Feststellungsbescheid, kein Haftungsbescheid. Gleichgültig, wie weit im einzelnen Fall die Wirkung des Bescheids nach § 212c Abs. 1 AO reicht, bleibt es Sache der Gemeinde, den Haftungsanspruch geltend zu machen (vgl. Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1517; Rogoschik, FR 1958, 299). Der Bescheid nach § 212c Abs. 1 AO löst, auch wenn er den Haftungsbescheid der Gemeinde bestätigt, keine unmittelbare Folgewirkung in dem Sinne aus, daß die Gemeinde nun auch verpflichtet wäre, einen Haftungsbescheid zu erlassen. Vielmehr kann die Gemeinde gleichwohl auf die Geltendmachung des Haftungsanspruchs verzichten. Dafür kann sie verschiedene Gründe haben, sei es etwa, daß ihr dies dem Haftungsschuldner gegenüber wenig Aussicht auf Erfolg zu bieten scheint, sei es, daß sie es für zweckmäßig hält, sich an einen anderen Haftungsschuldner zu halten. Erläßt die Gemeinde indes aufgrund der Entscheidung des FA nach § 212c Abs. 1 AO einen Haftungsbescheid oder hält sie einen bereits früher ergangenen Haftungsbescheid aufrecht, so ist sie an die Entscheidung des FA nach § 212c Abs. 1 AO gebunden. In diesem Rahmen besteht im Verhältnis des Haftungsbescheids zum Bescheid des FA nach § 212c Abs. 1 AO eine ähnliche Bindungswirkung wie im Verhältnis des Realsteuerbescheids zum Realsteuermeßbescheid (§§ 212 a, 212b AO).
b) Wird die Vollziehung eines angefochtenen Feststellungs- oder Steuermeßbescheids (im folgenden Grundlagenbescheid) ausgesetzt, so ist auch die Vollziehung eines aufgrund dieses Bescheids etwa ergangenen Bescheids (Folgebescheid) auszusetzen (§ 242 Abs. 2 Satz 3 AO, § 69 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 FGO). Die Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheids löst mithin nicht automatisch auch die Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheids aus. Sie begründet aber eine Verpflichtung der für den Erlaß des Folgebescheids zuständigen Behörde, die Vollziehung dieses Bescheids entsprechend auszusetzen (vgl. dazu v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Anm. 11; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 69 FGO Anm. 10). Diese Regelung geht allerdings - soweit eine Gemeinde zum Erlaß des Folgebescheids über Realsteuern berechtigt ist - ins Leere. Denn für die Aussetzung der Vollziehung eines solchen Bescheids der Gemeinde greift weder § 242 AO noch § 69 FGO ein. Die Vorschrift des § 242 AO gilt nicht, weil die Vorschriften über die Rechtsbehelfe der Reichsabgabenordnung (§§ 228 bis 249) auf die Realsteuern nicht anwendbar sind (Umkehrbeschluß aus § 3 Abs. 3 AO). Die Vorschrift des § 69 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 3 FGO kommt deshalb nicht zum Zuge, weil der Finanzrechtsweg nach § 33 FGO wegen der Verwaltungskompetenz der Gemeindebehörden in der Regel nicht eröffnet ist. Dagegen ergibt sich aus § 242 Abs. 2 Satz 3 AO und § 69 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 3 FGO jedenfalls, daß FA und FG nicht befugt sind, im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheids die Vollziehung des Folgebescheids der Gemeinde auszusetzen.
c) Gemäß § 242 Abs. 2 Satz 4 AO und § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO kann die Aussetzung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden. Soll die Vollziehung eines Grundlagenbescheids ausgesetzt werden, so fragt es sich, ob in diesem Verfahren die Aussetzung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden darf. Dem Wortlaut des Gesetzes ist für die Beurteilung dieser Frage nichts Entscheidendes zu entnehmen. Zwar könnte der unmittelbare Anschluß des die Sicherheitsleistung betreffenden § 242 Abs. 2 Satz 4 AO und § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO an die in den vorausgegangenen Sätzen dieser Vorschriften getroffene Regelung über die Aussetzung der Vollziehung von Grundlagenund Folgebescheiden darauf hindeuten, daß sowohl im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheids als auch in demjenigen der Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheids eine Sicherheitsleistung verlangt werden kann. Das würde indes zur Folge haben, daß in zwei verschiedenen Verfahren durch jeweils verschiedene Behörden oder Gerichte - möglicherweise divergierend - über Grund und Höhe der Sicherheitsleistung befunden würde. Dies müßte insbesondere dann, wenn - wie im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Feststellung von Einkünften - der Grundlagenbescheid mehrere Personen betrifft, zu Unzuträglichkeiten führen. Daß der Gesetzgeber eine so wenig sachgerechte Regelung gewollt habe, kann ihm nicht unterstellt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß über die Anordnung der Sicherheitsleistung nur entweder im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheids oder im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheids zu befinden ist.
Welches dieser Verfahren für die Entscheidung über Grund und Höhe der Sicherheitsleistung den Vorrang haben soll, hat das Gesetz nicht geregelt (ebenso Grimm, FR 1970, 108). Es liegt eine Gesetzeslücke vor (vgl. Tipke-Kruse, a. a. O., § 69 FGO Anm. 10 am Ende). Denn wenn schon das Gesetz einerseits eine jeweils gesonderte Aussetzung der Vollziehung des Grundlagen- und des Folgebescheids und andererseits die Anordnung einer Sicherheitsleistung vorsieht, so hätte in einer nach dieser Zielsetzung angelegten Regelung auch bestimmt werden müssen, in welchem von den vorgesehenen mehreren Verfahren die Entscheidung über die Sicherheitsleistung zu treffen sei (über den Begriff der Gesetzeslücke vgl. Urteil des BFH vom 19. Juli 1972 I R 164/68, BFHE 106, 441, BStBl II 1972, 858).
d) Die Gesetzeslücke ist so auszufüllen, wie der Gesetzgeber nach dem Sinnzusammenhang des Gesetzes und nach seinem sonst erkennbaren Willen die zu entscheidende Frage wahrscheinlich geregelt hätte, wenn sie in seinen Gesichtskreis getreten wäre (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 1966 VI 296/63, BFHE 85, 25, BStBl III 1966, 222). Dabei kommt es für die hier zu beurteilende Frage entscheidend auf den Zweck an, den die Sicherheitsleistung nach § 242 Abs. 2 Satz 4 AO und § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO zu erfüllen hat. Sie dient dazu, einer möglichen Gefährdung des Steueranspruchs vorzubeugen (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 22. Juni 1967 I B 7/67, BFHE 89, 24, BStBl III 1967, 512). Die Entscheidung über die Sicherheitsleistung erfordert somit eine Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Verhältnissen des Abgabenschuldners und ein Abschätzen der Zugriffsmöglichkeiten und Risiken im Falle einer zwangsweisen Durchsetzung des Abgabenanspruchs. Daraus folgt, daß die Anordnung der Sicherheitsleistung im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung derjenigen Behörde zukommt, die dem Sachverhalt, der im Einzelfall die Gefährdung des Abgabenanspruchs ergibt, am nächsten steht. Das ist nach der Natur der Sache diejenige Behörde, die den Steuerbescheid erläßt und erforderlichenfalls die Steuerschuld zwangsweise beizutreiben hat. Dem FA, das den Grundlagenbescheid erlassen hat, steht eine Entscheidungsbefugnis über die Sicherheitsleistung mithin nicht zu. Das gilt sinngemäß für das zur Entscheidung im Verfahren über den Grundlagenbescheid zuständige Gericht der Hauptsache (§ 69 Abs. 3 FGO).
3. Da auch der Bescheid nach § 212c Abs. 1 AO im Verhältnis zum Haftungsbescheid der Gemeinde den Charakter eines Grundlagenbescheids hat, kann das diesen Bescheid erlassende FA ebensowenig wie das FG als das Gericht der Hauptsache eine Entscheidung über die Sicherheitsleistung treffen. Damit hat die Beschwerde der Antragsteller im Ergebnis Erfolg. Die Vorentscheidung ist aufzuheben und auszusprechen, daß die Anordnung einer Sicherheitsleistung in der Verfügung des FA vom 15. Dezember 1972 entfällt. Damit ist nicht entschieden, ob die Stadt oder das zuständige Verwaltungsgericht berechtigt ist, eine Sicherheitsleistung zu verlangen.
Fundstellen
Haufe-Index 70208 |
BStBl II 1973, 782 |
BFHE 1974, 3 |