Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit einer Schätzung bei einem eingeleiteten Steuerstrafverfahren; kein Vorrang der strafrechtlichen Verfahrensvorschriften im Verhältnis zu den Verfahrensvorschriften im Besteuerungsverfahren; Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren während eines Steuerstrafverfahrens; Schätzungsbescheid ist kein Zwangsmittel
Leitsatz (NV)
1. Das FA kann die Besteuerungsgrundlagen auch dann gemäß § 162 AO 1977 schätzen, wenn gegen den Steuerpflichtigen ein Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat eingeleitet worden ist.
2. Die strafrechtlichen Verfahrensvorschriften haben keinen Vorrang vor den Verfahrensvorschriften im Besteuerungsverfahren. Das Steuerstrafverfahren und das Besteuerungsverfahren sind gemäß § 393 Abs. 1 Satz 1 AO voneinander unabhängig und stehen gleichrangig nebeneinander (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 15.10.1990 2 BvR 385/87; vom 15. Oktober 2004 2 BvR 1316/04).
3. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Mitwirkungspflichten eines Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren auch bei Einleitung eines Steuerstrafverfahrens gegen ihn bestehen bleiben.
4. Ein Steuerbescheid ist auch dann kein Zwangsmittel i.S. des § 328 AO, sondern eine Maßnahme des Steuerfestsetzungsverfahrens, wenn die Besteuerungsgrundlagen ganz oder teilweise geschätzt worden sind.
Normenkette
AO 1977 § 90 Abs. 2, §§ 158, 162, 328, 393 Abs. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, § 116 Abs. 3 S. 3; GG Art. 2
Verfahrensgang
FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 05.04.2005; Aktenzeichen 6 K 1357/04) |
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) entspricht nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an die Darlegung eines Zulassungsgrundes i.S. von § 115 Abs. 2 FGO.
Wird geltend gemacht, eine Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung, dann ist ausführlich darzustellen, aus welchen Gründen die Frage im allgemeinen Interesse der Klärung bedarf. Es ist darauf einzugehen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft und strittig ist. Hat der Bundesfinanzhof (BFH) bereits über die Rechtsfrage entschieden, dann ist darzulegen, inwiefern die höchstrichterlich beantwortete Frage weiterhin umstritten ist, insbesondere welche neuen und gewichtigen Argumente gegen die Auffassung des BFH vorgebracht worden sind, die der BFH noch nicht geprüft hat (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 116 Rz. 32 f.).
Daran fehlt es im Streitfall. Die Kläger haben sich in der Beschwerdebegründung, in der sie die Frage, ob der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) berechtigt ist, nach § 162 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) eine Schätzung durchzuführen, wenn der Steuerpflichtige in einem parallel laufenden Steuerstrafverfahren von seinem verfassungsrechtlich gesicherten Recht Gebrauch macht, Angaben zu verweigern ("nemo tenetur se ipsum accusare"), als grundsätzlich bedeutsam i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO bezeichnet haben, nicht mit der einschlägigen Rechtsprechung des BFH auseinander gesetzt (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 9. Dezember 2004 III B 83/04, BFH/NV 2005, 503, m.w.N.).
a) Die Finanzbehörde hat die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichende Aufklärung zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO 1977 verletzt. Das Gleiche gilt, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO 1977 zugrunde gelegt werden können (§ 162 Abs. 2 AO 1977).
Läuft parallel zum Besteuerungsverfahren ein Steuerstrafverfahren, gilt für das Besteuerungsverfahren nichts anderes.
b) Gemäß § 393 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 richten sich die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften; d.h. für das Besteuerungsverfahren gilt die AO 1977, für das Strafverfahren die Strafprozessordnung (StPO). Beide Verfahren stehen von Gesetzes wegen unabhängig und gleichrangig nebeneinander (Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 15. Oktober 1990 2 BvR 385/87, Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht --wistra-- 1991, 175; vom 15. Oktober 2004 2 BvR 1316/04, BFH/NV 2005, Beilage 2, 108; vgl. z.B. Klein/ Wisser, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 393 Rz. 1; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 393 AO 1977 Rz. 11; Wannemacher/Seipl in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 393 AO 1977 Rz. 3). Soweit in der Literatur ein Vorrang der strafrechtlichen Verfahrensvorschriften bejaht wird (vgl. z.B. Streck, Die Steuerfahndung, 3. Aufl., Rz. 467), steht dem nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 19. August 1998 XI R 37/97, BFHE 186, 506, BStBl II 1999, 7; Beschluss vom 19. September 2001 XI B 6/01, BFHE 196, 200, BStBl II 2002, 4) der eindeutige Wortlaut des § 393 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 entgegen.
c) Es ist auch höchstrichterlich geklärt, dass der (beschuldigte) Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren die von der AO 1977 vorgeschriebenen Mitwirkungspflichten zu erfüllen hat und jede andere Auffassung zu einer mit dem Gleichheitssatz (Prinzip der Belastungsgleichheit) unvereinbaren Privilegierung des in ein Strafverfahren verwickelten Steuerpflichtigen führen würde (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 28. April 1997 X B 123-124/95, BFH/NV 1997, 641). Diese Auffassung entspricht der des historischen Gesetzgebers (vgl. Bericht des Finanzausschusses BTDrucks 7/4292, S. 46 zu § 393; vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 12. April 1996 2 BvL 18/93, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1996, 597).
d) Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren während eines Steuerstrafverfahrens fortbestehen.
Der Grundsatz, dass niemand gehalten ist, sich selbst zu beschuldigen ("Nemo-Tenetur-Grundsatz") ist in erster Linie ein strafprozessuales Prinzip. Er sichert den aus Art. 2 des Grundgesetzes abzuleitenden Schutz vor Bestrafung (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 26. Mai 1981 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250; vom 28. März 1984 2 BvR 275/83, BVerfGE 66, 313). Er befreit aber nicht von gesetzlich normierten Mitwirkungspflichten im Übrigen.
e) Bleibt danach der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren rechtlich zur Mitwirkung verpflichtet, so folgt daraus die Zulässigkeit der Schätzung gemäß § 162 AO 1977. Dem steht auch das Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 nicht entgegen.
Nach eindeutigem Gesetzeswortlaut sind Zwangsmittel i.S. des § 328 AO 1977 unzulässig, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. Zu den Zwangsmitteln i.S. des § 328 AO 1977 gehören kraft Gesetzes Zwangsgeld, Ersatzvornahme und unmittelbarer Zwang. Es handelt sich insoweit um --fakultative-- Maßnahmen des Vollstreckungsverfahrens. Demgegenüber ist der Erlass eines Steuerbescheides, auch soweit Besteuerungsgrundlagen ganz oder teilweise zu schätzen sind, kein Zwangsmittel, sondern eine --unabdingbare-- Maßnahme des Steuerfestsetzungsverfahrens. Die durch § 393 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 geschützten Steuerpflichtigen "tragen lediglich das Risiko einer ungünstigen Tatsachenwürdigung" (so BVerfG-Beschluss vom 13. Januar 1981 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37; vgl. auch BFH-Beschluss vom 16. Juli 2001 VII B 203/00, BFH/NV 2002, 305). Im Übrigen sind Einwendungen des Steuerpflichtigen gegen eine möglicherweise materiell-rechtlich überhöhte Schätzung der Sache nach nicht darauf gerichtet, sich selbst einer Straftat zu bezichtigen, sondern die Steuerschuld zu mindern.
Fundstellen
BFH/NV 2006, 15 |
PStR 2006, 122 |