Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Nichtvertagung der mündlichen Verhandlung
Leitsatz (NV)
1. Liegen i. S. v. § 227 Abs. 1 ZPO erhebliche Gründe für eine Vertagung vor, so verdichtet sich das dem Gericht grundsätzlich eingeräumte Ermessen zu einer Rechtspflicht. Die Verhandlung muß zur Gewährung rechtlichen Gehörs vertagt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und sich die Erledigung des Rechtsstreits durch eine Vertagung verzögern würde.
2. Welche Gründe als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Sowohl der Prozeßstoff als auch die persönlichen Verhältnisse der betroffenen Beteiligten und gegebenenfalls des Prozeßbevollmächtigten sind bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ebenso wie der weitere Umstand, daß im finanzgerichtlichen Verfahren nur eine Tatsacheninstanz besteht und die Beteiligten ein Recht darauf haben, ihre Sache in mündlicher Verhandlung vorzutragen.
3. Eine kurzfristige, überraschende Erkrankung des Prozeßbevollmächtigten stellt regelmäßig einen erheblichen Grund dar. Ausnahmsweise kann die Änderung des Termins gleichwohl abgelehnt werden, wenn die Absicht einer Prozeßverschleppung offensichtlich ist oder wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten in anderer, schwerwiegender Weise verletzt hat.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3; ZPO § 227 Abs. 1
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) veranlagte den Kläger und Revisionskläger (Kläger) wegen Nichtabgabe der Einkommensteuererklärungen im Wege der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zur Einkommensteuer für die Jahre 1987 bis 1989.
Die trotz Aufforderung nicht näher begründeten Einsprüche wies das FA als unbegründet zurück. Die Klage begründete der anwaltschaftlich vertretene Kläger zunächst ebenfalls nicht. Das Finanzgericht (FG) vertagte die auf den 24. Januar 1992 angesetzte mündliche Verhandlung auf Antrag des Prozeß bevollmächtigten, weil dieser versicherte, die -- beim FG nicht auffindbaren -- Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre am 23. Dezember 1991 in den Briefkasten des Gerichts eingeworfen zu haben. Entgegen seiner mit Telefax vom 24. Januar 1992 erklärten Zusage reichte er jedoch die vollständigen Unterlagen dem FG nicht ein. Das FG beraumte daraufhin einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 13. März 1992, 12.10 Uhr, an. Mit Telefax vom 12. März 1992 an das FG übermittelte der Prozeßbevollmächtigte einen mit 20. Dezember 1991 datierten Schriftsatz an das FG. Darin wird unter Beweisangebot zum einen vorgetragen, die fraglichen Steuererklärungen seien bereits am 24. Februar 1990 beim FA eingeworfen worden, zum anderen sollen diese am 23. Dezember 1991 dem Gericht in Fotokopie übermittelt worden sein. Gleichzeitig erklärt der Prozeßbevollmächtigte, den Termin persönlich wahrnehmen und die ihm erst jetzt von dem Kläger übersandten Unterlagen zusammen mit den Einkommensteuererklärungen im Termin überreichen zu wollen.
Zur mündlichen Verhandlung am 13. März 1992, die laut Sitzungsniederschrift um 12.47 Uhr begann, erschien weder der ordnungsgemäß geladene Prozeßbevollmächtigte noch -- wie angekündigt -- ein Vertreter des FA.
Das FG wies die Klage nach Durchführung der mündlichen Verhandlung wegen fehlender Bezeichnung des Streitgegenstandes durch ein um 13.00 Uhr verkündetes Prozeßurteil als unzulässig ab.
Nach Verkündung des Urteils und Schluß der mündlichen Verhandlung wurde ausweislich eines Aktenvermerks des Senatsvorsitzenden diesem erst um 13.20 Uhr ein, beim FG bereits um 11.44 Uhr eingegangenes, als "eilige Nachricht" gekennzeichnetes Telefax nebst Anlage übergeben. Nach dem von der Flughafenklinik X aufgegebenen Telefax konnte der Prozeßbevollmächtigte den Flug wegen einer medizinischen Notfallsituation nicht antreten, weil er ausweislich eines beigefügten ärztlichen Attestes nicht flugtauglich gewesen sei.
Auf die Beschwerde des Klägers ließ das FG die Revision zu.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Der Prozeßbevollmächtigte sei unverschuldet verhindert gewesen, den Termin zur mündlichen Verhandlung wahrzunehmen und den klägerischen Rechtsstandpunkt darzulegen. Außerdem wiederholt der Kläger den mit der Nichtzulassungsbeschwerde vom 30. Juni 1992 gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für seinen Antrag auf Vertagung der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die Vorentscheidung ist nach § 119 Nr. 3, § 120 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufzuheben. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --; § 96 Abs. 2 FGO) dadurch verletzt, daß es den Termin zur mündlichen Verhandlung am 13. März 1992 nicht verlegt bzw. die begonnene mündliche Verhandlung nicht zumindest vertagt hat.
1. Der Kläger hat die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör ordnungsgemäß gerügt (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO). Die Revision hat innerhalb der bis zum 30. November 1992 verlängerten Revisionsbegründungsfrist erhebliche Gründe schlüssig vorgetragen, die eine Terminverlegung oder jedenfalls eine Vertagung der mündlichen Verhandlung vom 13. März 1992 geboten hätten.
Es ist grundsätzlich zulässig, das Klagebegehren durch Bezugnahme auf nachträglich beim FG eingereichte Steuererklärungen hinreichend zu bezeichnen (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 16. März 1988 I R 93/84, BFHE 153, 290, BStBl II 1988, 895, 896).
Unter diesen Umständen war es jedenfalls entbehrlich, daß der Kläger zusätzlich im Rahmen der Revisionsbegründung vortragen mußte, was er im einzelnen in der mündlichen Verhandlung noch geltend gemacht hätte.
Nach § 227 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. m. § 155 FGO kann das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen sowie -- nach Beginn der mündlichen Verhandlung -- eine Verhandlung vertagen.
Liegen erhebliche Gründe vor, so verdichtet sich die in dieser Vorschrift grundsätzlich eingeräumte Ermessensfreiheit zu einer Rechtspflicht. Der Termin muß zur Gewährung rechtlichen Gehörs verlegt oder die Verhandlung vertagt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits durch eine Vertagung verzögert würde (BFH-Urteile vom 4. Mai 1994 XI R 104/92, BFH/NV 1995, 46; vom 26. Mai 1992 VII R 26/91, BFH/NV 1993, 177, m. w. N.; Beschluß vom 26. April 1991 III R 87/89, BFH/NV 1991, 830). Welche Gründe i. S. von § 227 Abs. 1 ZPO als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Sowohl der Prozeßstoff als auch die persönlichen Verhältnisse der betroffenen Beteiligten und ggf. des Prozeßbevollmächtigten sind bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ebenso wie der weitere Umstand, daß im finanzgerichtlichen Verfahren nur eine Tatsacheninstanz besteht und die Beteiligten ein Recht darauf haben, ihre Sache in mündlicher Verhandlung vorzutragen (vgl. BFH/NV 1995, 46; BFH-Beschlüsse vom 26. November 1993 I B 63/93, BFH/NV 1994, 802, 803; BFH/NV 1993, 177; vom 21. November 1991 VII B 53-54/91, BFH/NV 1992, 526, 527; Urteil vom 14. Oktober 1975 VII R 150/71, BFHE 117, 19, BStBl II 1976, 48).
Eine kurzfristige, überraschende Erkrankung eines Prozeßbevollmächtigten stellt regelmäßig einen erheblichen Grund für eine Änderung des Termins dar (BFH/NV 1995, 46; BFH-Beschlüsse vom 1. Oktober 1992 I B 67-70/92, BFH/NV 1993, 186; vom 9. Januar 1992 VII B 81/91, BFH/NV 1993, 29; Urteil vom 10. August 1990 III R 31/86, BFH/NV 1991, 464, 466; Beschlüsse vom 30. Juni 1988 VI S 10/87, VI S 8-9/88, BFH/NV 1989, 234, 235; vom 7. Dezember 1990 III B 102/90, BFHE 163, 115, BStBl II 1991, 240, m. w. N.; Urteil des Bundessozialgerichts -- BSG -- vom 6. Dezember 1983 11 RA 30/83, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1984, 888). Ausnahmsweise kann die Änderung eines Termins gleichwohl abgelehnt werden, wenn die Absicht einer Prozeßverschleppung offensichtlich ist oder wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten in anderer Weise erheblich verletzt hat (BFH/NV 1995, 46; BFH-Beschluß vom 29. Juni 1992 V B 9/91, BFH/NV 1993, 180).
2. a) Im Streitfall war das FG verpflichtet, die mündliche Verhandlung wegen der kurzfristig eingetretenen und nicht vorhersehbaren Erkrankung des Prozeßbevollmächtigten von Amts wegen zu vertagen (BFH/NV 1995, 46; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl., § 102 Rz. 4, 7; Zöller, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 227 Rz. 8). Es kann dahingestellt bleiben, ob in dem Telefax vom 13. März 1992, das nicht ohne weiteres den Prozeßbevollmächtigten als Urheber erkennen läßt, ein stillschweigender Vertagungsantrag gesehen werden könnte und ob für einen erst nach Durchführung der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag überhaupt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werden kann (ablehnend BFH-Urteil vom 10. August 1988 III R 220/84, BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948, 951).
Sowohl das mit "eilige Nachricht" für den speziell angesprochenen Termin in der bezeichneten Streitsache um 11.44 Uhr beim FG eingegangene Telefax über die infolge einer medizinischen Notfallsituation auf dem Flughafen X eingetretene Fluguntauglichkeit des Prozeßbevollmächtigten als auch die beigefügte entsprechende ärztliche Bescheinigung der Notfallambulanz mußten das FG zur Vertagung veranlassen, um so mehr, als ein Vertreter des FA ohnehin nicht erschienen war. Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben und der ärztlichen Bescheinigung sind nicht ersichtlich (vgl. zur Glaubhaftmachung BFH/NV 1995, 46; BFH-Urteil vom 10. August 1990 III R 31/86, BFH/NV 1991, 464, 466).
Es sind auch keine Umstände erkennbar, die es objektiv unmöglich gemacht haben könnten, den entscheidenden Senat des FG von dem Telefax rechtzeitig in Kenntnis zu setzen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß bei einem normalen Geschehensablauf die Unterlagen den Senatsvorsitzenden noch vor Aufruf der Sache, auf jeden Fall aber noch vor Verkündung des Prozeßurteils um 13.00 Uhr erreicht hätten. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im übrigen unabhängig von einem Verschulden des Gerichts (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 7. Dezember 1982 2 BvR 1118/82, BVerfGE 62, 347, 352) bzw. wen innerhalb des Gerichts ggf. ein Verschulden trifft (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 29. November 1985 9 C 49/85, NJW 1986, 1125; Urteil des BSG vom 27. Februar 1985 12 RK 63/84, NJW 1987, 919; Urteil des BVerwG vom 9. Dezember 1983 4 C 44/83, NJW 1984, 882; Kopp, a.a.O., § 108 Rz. 22, 27, m. w. N.).
Gründe, die es ausnahmsweise trotz der unvorhergesehenen akuten Erkrankung des Prozeßbevollmächtigten gerechtfertigt hätten, auch in Abwesenheit des Prozeßbevollmächtigten zu verhandeln, sind nicht ersichtlich. Die überraschende Erkrankung des Prozeßvertreters schließt jedenfalls eine offensichtliche Prozeßverschleppungsabsicht aus. Dies kann anders zu beurteilen sein, wenn etwa neben längerer Säumigkeit im Veranlagungs- und im anschließenden Rechtsbehelfsverfahren zusätzlich trotz einer geraumen Zeit bestehenden Erkrankung keine prozessuale Vorsorge zur Wahrnehmung eines Termins getroffen wird (Beschluß des BFH vom 20. Juni 1974 IV B 55-56/73, BFHE 113, 4, BStBl II 1974, 637, 638). Ob der Kläger bzw. sein Prozeßbevollmächtigter ihre Mitwirkungspflichten in erheblicher Weise verletzt haben, ist nach dem schriftsätzlichen Vorbringen auf jeden Fall nicht zweifelsfrei. Zwar hatte der Vorsitzende des Senats den Prozeßbevollmächtigten (Verfügung vom 8. März 1991 und vom 4. Juni 1991) zu näheren Angaben aufgefordert. Auch war ein Termin zur mündlichen Verhandlung bereits aufgehoben worden (Sitzungsniederschrift vom 24. Januar 1992). Andererseits hatte der Klägervertreter gerade unter Beweisangebot die Einreichung der fraglichen Steuererklärungen beim FA und später nochmals beim FG geltend gemacht und schließlich sein persönliches Erscheinen in dem Termin am 13. März 1992 und die erneute Übergabe der Steuererklärungen (Schriftsatz vom 12. März 1992) angekündigt. Selbst wenn in dem säumigen Verhalten des Klägers und dessen Prozeßvertreters eine Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflichten gelegen haben sollte, darf dieser Verstoß im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die finanzgerichtliche Entscheidung nicht dazu führen, dem Kläger die Möglichkeit zu nehmen, die fraglichen Unterlagen in der mündlichen Verhandlung vorzulegen und die Streitsache unmittelbar mit dem Gericht zu erörtern (BFH/NV 1995, 46; BFH/NV 1993, 180; BFH- Urteil vom 21. Januar 1981 II R 91/79, BFHE 132, 394, BStBl II 1981, 401, 402; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 91 FGO Tz. 1; Koch/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 91 Rz. 3). Der Senat braucht nicht darüber zu befinden, ob das FG einer Verzögerung des Verfahrens dadurch hätte vorbeugen können, daß es Ausschlußfristen gesetzt hätte und ob von dieser Möglichkeit nunmehr nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO n. F. Gebrauch gemacht werden sollte.
Im Streitfall kommt hinzu, daß das FG aufgrund der innerorganisatorischen Verzögerungen keine vom BFH nachprüfbare Ermessensentscheidung getroffen hat. Der BFH könnte indessen eine eigene -- negative -- Entscheidung allenfalls im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null treffen, wenn nämlich die Verletzung der Mitwirkungspflichten unstreitig und so schwerwiegend wäre, daß eine Vertagung der mündlichen Verhandlung schlechthin ausgeschlossen gewesen wäre. Einen solchen Sachverhalt hat das FG, das die Revision zugelassen hat, freilich selbst nicht angenommen.
b) Nach § 119 Satz 1 Nr. 3 FGO ist das Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt. Wird einem Beteiligten, wie im Streitfall, die Möglichkeit verschlossen, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt -- dem Gesamtergebnis des Verfahrens i. S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO -- zu äußern, so kann das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf seine sachlich-rechtliche Richtigkeit nicht überprüfen. Das Gesamtergebnis des Verfahrens i. S. des § 96 Abs. 1 FGO ist verfahrensrechtlich fehlerhaft Grundlage der Entscheidung geworden. Die angefochtene Entscheidung ist gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (BFH/NV 1995, 46; BFH-Urteil vom 5. Dezember 1979 II R 56/76, BFHE 129, 297, BStBl II 1980, 208, 210).
Fundstellen
Haufe-Index 420552 |
BFH/NV 1996, 43 |