Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für die Anordnung einer Außenprüfung
Leitsatz (NV)
Dem Erlaß einer Prüfungsanordnung steht nicht entgegen, daß die regelmäßige Verjährungsfrist für die zu prüfenden Steueransprüche bereits abgelaufen ist mit der Folge, daß geänderte Steuerbescheide nur bei Vorliegen einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit erlassen werden können.
Normenkette
AO 1977 § 193 Abs. 2 Nr. 2, § 194 Abs. 1, §§ 196, 199, 208, 393; BpO (St) § 4 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute. Sie werden zur Einkommensteuer und zur Vermögensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger ist Bauwerker, die Klägerin Montagearbeiterin. Beide beziehen Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit. Nach Eingang der Einkommensteuer-Erklärung 1981 stellte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) Nachforschungen an und ermittelte, daß der Klägerin im Jahre 1980 Zinsen aus Sparguthaben in Höhe von . . . DM zugeflossen waren. Außerdem wurde dem FA bekannt, daß die Klägerin Eigentümerin eines Mietwohngrundstücks in A ist. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung hatten die Kläger für dieses Grundstück zu keiner Zeit in ihren Einkommensteuer-Erklärungen angegeben. Daraufhin leitete das FA im Dezember 1982 gegen die Klägerin ein Steuerstrafverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung ein. Mit Verwaltungsakt vom 4. März 1983 ordnete es bei den Klägern eine Außenprüfung für Einkommensteuer 1978 bis 1980 gemäß § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 an. Mit zwei weiteren Verwaltungsakten vom 26. April 1983 erweiterte es die Außenprüfung hinsichtlich der Einkommensteuer auf die Jahre 1972 bis 1977 und ordnete hinsichtlich der Vermögensteuer die Außenprüfung für den Veranlagungszeitpunkt 1. Januar 1972 bis 1. Januar 1982 an. Zur Begründung führte das FA aus, es bestehe der Verdacht, daß die Kläger die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und aus Kapitalvermögen nicht nur in den Jahren ab 1978, sondern auch schon in den Vorjahren nicht vollständig erklärt hätten.
Die Beschwerde der Kläger gegen die Verwaltungsakte vom 26. April 1983 hatte nur hinsichtlich der Vermögensteuer Erfolg. Im übrigen wies die Oberfinanzdirektion (OFD) die Beschwerde zurück.
Mit der Klage gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD, mit der die Kläger beantragten, die Anordnung der Außenprüfung für die Einkommensteuer 1972 bis 1977 aufzuheben, hatte Erfolg.
Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1984, 592 veröffentlicht.
Das FG hat in seinem Urteil die Revision nicht zugelassen.
Das FA hat gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde und zugleich gegen das Urteil Revision eingelegt.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 193 AO 1977. Die Ansicht des FG, die Außenprüfung sei nur ein Instrument des ,,normalen" Steuerermittlungsverfahrens, finde im Gesetz keine Stütze. Die Vorschrift stelle nur darauf ab, ob für die Besteuerung erhebliche Verhältnisse der Aufklärung bedürften.
Das FA beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist zulässig. Die Revision war zwar ursprünglich nicht statthaft, weil die Voraussetzungen der §§ 115 Abs. 1, 116 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht erfüllt waren. Mit ihrer Zulassung durch den Beschluß des FG vom 23. August 1984 - zugestellt am 17. September 1984 - ist sie jedoch nachträglich (rückwirkend) statthaft geworden. Die Revision konnte wirksam auch schon vor der Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 5 FGO i. V. m. § 120 Abs. 1 FGO) eingelegt werden. Durch die Vorschriften über den Beginn der Revisionsfrist soll nur verhindert werden, daß die Revision nach Fristablauf (nicht aber, daß sie vor Fristbeginn) eingelegt wird (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. März 1979 I R 58-59/78, BFHE 128, 135, BStBl II 1979, 650).
2. Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Prüfungsanordnungen vom 26. April 1983 in Gestalt der Beschwerdeentscheidung vom 11. Oktober 1983 sind rechtmäßig.
a) Die Prüfungsanordnungen richteten sich gegen beide Kläger als zusammenveranlagte Eheleute. Da die Finanzverwaltung ein einheitliches Prüfungsverfahren durchführen wollte, konnte es die Prüfungsanordnungen gegen beide Eheleute zusammenfassen (BFH-Urteil vom 5. November 1981 IV R 179/79, BFHE 134, 395, BStBl II 1982, 208). Die Prüfungsanordnungen sind den Klägern auch wirksam bekanntgegeben worden (§ 122 AO 1977). Für die Wirksamkeit der Bekanntgabe ist es nicht erforderlich, daß jedem der Kläger je eine Ausfertigung der Verwaltungsakte vom 26. April 1983 übersandt wurde (vgl. BFHE 134, 395, BStBl II 1982, 208).
b) Als Rechtsgrundlage der Prüfungsanordnungen kommt im vorliegenden Fall nur § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann eine Außenprüfung auch bei anderen als den in § 193 Abs. 1 AO 1977 genannten Steuerpflichtigen durchgeführt werden, wenn die für die Besteuerung erheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen und wenn ferner die Prüfung an Amtsstelle nach Art und Umfang des zu prüfenden Sachverhalts nicht zweckmäßig ist. Wird eine Prüfungsanordnung auf § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 gestützt, so muß sie erkennen lassen, welche steuererheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen und warum eine Prüfung an Amtsstelle nicht zweckmäßig ist (BFH-Urteile vom 7. November 1985 IV R 6/85, BFHE 145, 23, 26, BStBl II 1986, 435, und vom 16. Dezember 1986 VIII R 123/86, BFHE 148, 426, BStBl II 1987, 248). Die Voraussetzungen des § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 sind für Eheleute, auch wenn sie zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden, getrennt festzustellen (BFHE 148, 426, 429, BStBl II 1987, 248).
aa) Ein Aufklärungsbedürfnis i. S. von § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 ist anzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Steuerpflichtige seine Steuererklärungen nicht, nicht vollständig oder mit unrichtigem Inhalt abgegeben hat (BFHE 134, 395, BStBl II 1982, 208; BFHE 145, 23, BStBl II 1986, 435). Ein solches Aufklärungsbedürfnis haben das FA und die OFD in den Prüfungsanordnungen und in der Beschwerdeentscheidung ausreichend dargetan durch den Hinweis, es bestünden gewichtige Anhaltspunkte dafür, daß die Kläger Einkünfte aus Kapitalvermögen (Sparzinsen) und aus der Vermietung eines Grundstücks in A nicht angegeben hätten.
bb) Ob eine Prüfung an Amtsstelle unzweckmäßig und deshalb eine Außenprüfung angezeigt ist, entscheidet die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen; sie muß dabei Art und Umfang des zu prüfenden Sachverhalts berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens ist auch zu beachten, daß die Außenprüfung für den Steuerpflichtigen eine erhebliche Belastung bedeutet. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muß die Behörde von einer Außenprüfung Abstand nehmen, wenn die gewünschte Aufklärung auch durch Maßnahmen der Einzelermittlung erreicht werden kann (BFHE 145, 23, BStBl II 1986, 435, m. w. N.). Die Gerichte können diese Entscheidung nur daraufhin prüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 FGO). Die angefochtenen Prüfungsanordnungen enthalten keine Angaben dazu, weshalb das FA eine Prüfung an Amtsstelle für unzweckmäßig hält. Der hierin liegende Mangel konnte gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 jedoch dadurch geheilt werden, daß die entsprechenden Angaben bis zum Abschluß des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens nachgeholt wurden (BFHE 134, 395, BStBl II 1982, 208; BFHE 145, 23, BStBl II 1986, 435; BFHE 148, 426, 431, BStBl II 1987, 248). Nach den Ausführungen der OFD in der Beschwerdeentscheidung ist die Außenprüfung bei den Klägern angeordnet worden, weil für die zu prüfenden Veranlagungszeiträume 1972 bis 1977 bereits bestandskräftige Steuerbescheide vorliegen und weil sich die aufklärungsbedürftigen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen besser durch eine Außenprüfung bei den Steuerpflichtigen oder ihrem Berater als an Amtsstelle ermitteln ließen. Diese Begründung läßt keinen Ermessensfehlgebrauch erkennen. Auch die Kläger haben insoweit gegen die Prüfungsanordnungen keine Einwendungen erhoben.
cc) Die Prüfungsanordnungen sind auch hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der angeordneten Prüfung nicht zu beanstanden.
Das FA konnte, ohne die ermessensbindende Vorschrift des § 4 Abs. 2 der Betriebsprüfungsordnung (Steuer) - BpO(St) - zu verletzen, den Prüfungszeitraum über die letzten drei Besteuerungszeiträume hinaus, für die vor Bekanntgabe der Prüfungsanordnung Steuererklärungen für die Ertragsteuern abgegeben worden waren, auf die Besteuerungszeiträume 1972 bis 1977 ausdehnen. Denn die Prüfungsbeschränkung des § 4 Abs. 2 BpO(St) entfällt gemäß Satz 2 dieser Vorschrift u. a. dann, wenn der Verdacht einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit besteht. Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt, da dem FA u. a. bekanntgeworden war, daß die Klägerin seit 1955 Eigentümern eines Mietwohngrundstücks in A ist, für das zu keiner Zeit Mieteinkünfte erklärt worden sind.
Entgegen der Ansicht des FG und der Kläger sind die angefochtenen Prüfungsanordnungen auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil sie sich auf Besteuerungszeiträume beziehen, für die bei Erlaß der Anordnungen bereits die regelmäßige Verjährungsfrist von vier (§ 169 Abs. 2 AO 1977) und fünf Jahren (§ 144 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung - AO -) abgelaufen war mit der Folge, daß geänderte Steuerbescheide nur bei Vorliegen einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit erlassen werden konnten.
Der erkennende Senat hat bereits mit Urteil vom 23. Juli 1985 VIII R 48/85 (BFHE 145, 3, BStBl II 1986, 433) entschieden, daß der Erlaß einer Prüfungsanordnung auch insoweit zulässig ist, als sie sich auf möglicherweise verjährte Steueransprüche erstreckt. Die abweichende Auffassung des FG beruht auf der unzutreffenden Annahme, die Verjährung eines Steueranspruchs enge das der Finanzbehörde in § 193 Abs. 2 AO 1977 eingeräumte Ermessen dahingehend ein, daß diese auf eine Außenprüfung verzichten müsse. Eine solche Einengung des Ermessens lassen die §§ 193 ff. AO 1977 jedoch nicht erkennen (BFHE 145, 3, BStBl II 1986, 433; BFH-Urteil vom 4. November 1987 II R 102/85, BFHE 151, 324, BStBl II 1988, 113; BFH-Beschluß vom 30. September 1987 IV B 177/86, nicht veröffentlicht). Vielmehr wird sich die Frage, ob Verjährung eingetreten ist oder ob andere Hindernisse dem Erlaß geänderter Steuerbescheide entgegenstehen, regelmäßig erst dann zuverlässig beurteilen lassen, wenn der Sachverhalt durch die Außenprüfung geklärt ist.
Der Senat teilt auch nicht die Ansicht des FG, die Anordnung einer Außenprüfung sei im Streitfall deshalb ermessensfehlerhaft, weil für Ermittlungen im Zusammenhang mit einer Steuerstraftat die Außenprüfung die falsche Institution und von ihrer Wesensart und Struktur her ungeeignet sei, die Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln. Diese Ansicht läßt außer acht, daß es bei dem Verdacht einer Steuerstraftat Aufgabe des FA ist, den Sachverhalt zu ermitteln (§ 386 AO 1977). Auf welche Weise das FA seiner Ermittlungspflicht beim Verdacht einer Steuerstraftat nachkommt, bestimmt sich nur nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und der Praktikabilität. Eine sich gegenseitig ausschließende Zuständigkeit von Außenprüfung und Steuerfahndung besteht nicht. Vielmehr hat der Außenprüfer neben seiner primären Aufgabe, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu prüfen, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgebend sind (§ 199 Abs. 1 AO 1977), auch die Pflicht, bei dem Verdacht einer Steuerstraftat die Strafverfolgung aufzunehmen und ein Verfahren einzuleiten (§§ 386 Abs. 1 und 2 AO 1977 i. V. m. 152 der Strafprozeßordnung). Da zum Tatbestand der Steuerhinterziehung u. a. die unterbliebene oder zu niedrige Festsetzung von Steuern gehört, ist Gegenstand auch der strafrechtlichen Ermittlungen die Feststellung der tatsächlichen Höhe des Steueranspruchs. Dies festzustellen gehört aber nach § 199 Abs. 1 AO 1977 zu den Aufgaben des Außenprüfers. Das gilt auch hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes einer begangenen Steuerstraftat. Der Außenprüfer hat jedoch bei seinen Ermittlungen § 9 BpO(St) zu beachten; er hat ferner zu berücksichtigen, daß der Finanzbehörde nach Einleitung des Steuerstrafverfahrens die ihr im Besteuerungsverfahren eingeräumten Zwangsmittel (§§ 328 ff. i. V. m. §§ 390 ff. AO 1977) nicht mehr zustehen (§ 393 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Darüber hinaus werden durch die Einleitung des Strafverfahrens die Befugnisse des FA nicht berührt (§ 393 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 208 Abs. 1 AO 1977. Vielmehr stellt § 208 Abs. 3 AO 1977 ausdrücklich klar, daß die Aufgaben und Befugnisse der Finanzbehörden von den in Absatz 1 der Vorschrift genannten Aufgaben der Steuerfahndung unberührt bleiben (Urteile in BFHE 151, 324, BStBl II 1988, 113, und in BFHE 145, 3, BStBl II 1986, 433).
Entgegen der Auffassung des FG bedurfte es auch keiner Einschränkung der streitigen Prüfungsanordnung dahingehend, daß die Außenprüfung auf hinterzogene oder leichtfertig verkürzte Steuerbeträge beschränkt werde. Wie oben dargelegt, läßt sich die Frage, ob Verjährung eingetreten ist, oft erst dann zuverlässig beurteilen, wenn der Sachverhalt durch die Außenprüfung geklärt ist. Es ist nicht sinnvoll, schon die Ermittlungstätigkeit der Außenprüfung mit Erwägungen zu erschwerden, die die Verwertung der erst zu findenden Ermittlungsergebnisse betreffen.
Fundstellen
Haufe-Index 415663 |
BFH/NV 1988, 550 |