Entscheidungsstichwort (Thema)
§ 70 Abs. 2 EStG und § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nebeneinander anwendbar
Leitsatz (NV)
- Die Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG setzt voraus, dass die Änderung der Verhältnisse, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, nach dem 1. Januar 1996 eingetreten sind.
- § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 wird nicht durch § 70 Abs. 2 EStG verdrängt; die Vorschriften sind nebeneinander anwendbar.
- Die Entscheidung, mit der die zuständige Schweizer Dienststelle die Gewährung der Kinderzulage abgelehnt hat, ist für die Familienkasse nicht bindend, wenn die Ablehnung darauf beruht, dass der in der Schweiz beschäftigte Antragsteller in seinem Antrag angegeben hat, dass er weiterhin in Deutschland, wo er seinen Wohnsitz hat, Kindergeld bezieht.
Normenkette
EStG § 70 Abs. 2; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (EFG 2001, 1153) |
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) und seine Ehefrau haben drei Kinder, die 1970, 1974 und 1981 geboren sind. Seit dem 1. März 1990 ist der Kläger in der Schweiz als Arbeitnehmer beschäftigt. Er bezog auch danach weiterhin Kindergeld in Deutschland.
Durch ein Schreiben des Finanzamts X vom 12. Dezember 1997 erhielt der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) Kenntnis von dem Arbeitsverhältnis des Klägers in der Schweiz. Er hob mit Bescheid vom 24. Dezember 1997 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 1998 auf. Zur Begründung führte er an, der Kläger habe vorrangig Anspruch auf Kinderzulage nach den in der Schweiz geltenden Rechtsvorschriften.
Am 29. Oktober 1998 erließ der Beklagte zwei Bescheide, und zwar
1. den "Aufhebungs- und Erstattungsbescheid" für die Zeit von März 1990 bis Dezember 1995 über 21 420 DM (Rechtsbehelfsbelehrung: Widerspruch) sowie
2. den "Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung" für die Zeit von Januar 1996 bis Dezember 1997 mit einer Rückforderung von 10 080 DM (Rechtsbehelfsbelehrung: Einspruch).
Mit Schreiben vom 16. November 1998 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 29. Oktober 1998 "Einspruch" ein. Der Beklagte wertete dieses Schreiben als Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid über 21 420 DM und wies diesen Widerspruch als unbegründet zurück. Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht verständigten sich die Beteiligten darauf, dass den Kläger hinsichtlich der Verletzung der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit treffe (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ―SGB X― i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I). Deswegen erklärte sich der Beklagte bereit, die Rückforderung auf 11 420 DM zu reduzieren.
Mit Schreiben vom 2. und 24. Februar 2000 schlug der Kläger dem Beklagten vor, wegen der Rückforderung von 10 080 DM entsprechend zu verfahren und diesen Betrag auf die Hälfte zu reduzieren. Der Beklagte wertete dies als erstmaligen Einspruch gegen den Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für Januar 1996 bis Dezember 1997. Er verwarf den Einspruch wegen seiner Verspätung als unzulässig.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der der Kläger die Aufhebung des Aufhebungsbescheides für die Zeit von Januar 1996 bis Dezember 1997 begehrte, als unbegründet ab. Es entschied, dass der Einspruch zwar zulässig gewesen sei, aber die Kindergeldfestsetzung zu Recht gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aufgehoben worden sei, da sich die Verhältnisse für die Gewährung von Kindergeld durch die Aufnahme einer Beschäftigung in der Schweiz geändert hätten. Auf ein Verschulden komme es nach § 70 Abs. 2 EStG im Unterschied zur früheren sozialrechtlichen Regelung nicht mehr an. Soweit der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 12. Mai 2000 VI R 100/99 (BFH/NV 2001, 21) die Auffassung vertreten habe, dass die maßgeblichen Veränderungen nach dem 1. Januar 1996 eingetreten sein müssten, vermöge der Senat sich dem nicht anzuschließen. Außerdem habe die Änderung oder Aufhebung der Kindergeldfestsetzung auch auf eine sinngemäße Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützt werden können, da der Beklagte erst nachträglich von der Beschäftigung des Klägers in der Schweiz Kenntnis erlangt habe. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1153 veröffentlicht.
Der Kläger trägt zur Begründung der Revision vor, dass er tatsächlich in der Schweiz keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erhalten habe; vielmehr sei ihm durch einen "Entscheid der vorgesetzten Dienststelle" vom 9. März 1990 mitgeteilt worden, dass er keinen Anspruch auf die schweizerische Kinderzulage habe. Auf jeden Fall seien auch nach dem 1. Januar 1996 keine Änderungen i.S. des § 70 Abs. 2 EStG eingetreten, da er bereits seit dem 1. März 1990 in der Schweiz berufstätig gewesen sei.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und seiner Klage stattzugeben.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Zeit von Januar 1996 bis Dezember 1997 rechtmäßig war.
1. Zwar konnte die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach der Rechtsprechung des BFH nicht auf § 70 Abs. 2 EStG gestützt werden. Denn der VI. Senat des BFH hat mit dem vom FG zitierten Urteil in BFH/NV 2001, 21 und erneut mit Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 163/00 (BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174, unter 3. a. der Gründe) entschieden, die Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG setze voraus, dass die Änderung der Verhältnisse, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sei, nach dem 1. Januar 1996 eingetreten sein müsse. Im Streitfall kommt als i.S. des § 70 Abs. 2 EStG erhebliche Änderung der Verhältnisse allein die Aufnahme einer Beschäftigung in der Schweiz in Betracht. Diese Beschäftigung hat der Kläger jedoch bereits im Jahr 1990 und damit vor dem 1. Januar 1996 aufgenommen.
2. Der VI. Senat des BFH hat nach Ergehen des mit der vorliegenden Revision angefochtenen finanzgerichtlichen Urteils außerdem entschieden, dass § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht durch § 70 Abs. 2 und 3 EStG verdrängt werde, sondern dass diese Vorschriften nebeneinander anwendbar seien (Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2001, 81; in BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174). Wegen der Einzelheiten der Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt dieser Entscheidungen Bezug genommen.
Im Streitfall hat das FG sein Urteil hilfsweise auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt (unter Nr. 3 der Entscheidungsgründe), so dass es sich aus diesem Grund als zutreffend erweist. Eine sinngemäße Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 auf die Kindergeldfestsetzung als einer Steuervergütung (vgl. § 31 EStG i.V.m. § 155 Abs. 6 AO 1977, nunmehr: § 155 Abs. 4 AO 1977) bedeutet, dass die bisherige Festsetzung aufzuheben oder zu ändern ist, wenn Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer geringeren Festsetzung des Kindergeldes führen. Die Ausführungen, mit denen das FG das Vorliegen dieser Voraussetzungen bejaht hat, lassen keine Fehler erkennen. Der Umstand, dass der Kläger in der Schweiz beschäftigt war, hatte zur Folge, dass kein Kindergeld in Deutschland zu zahlen war. Denn nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das Leistungen im Ausland gewährt werden, die dem Kindergeld vergleichbar sind. Die kantonalrechtlichen Familienzulagen in der Schweiz sind mit dem deutschen Kindergeld vergleichbar (vgl. Schreiben des Bundesamts für Finanzen vom 26. Juni 2000, BStBl I 2000, 1128, 1133, 1143 f.; Beschluss des FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 27. Mai 1997 11 K 194/96, EFG 1997, 998).
Das FG hat festgestellt, dass der Kläger in der Schweiz nach dortigem Recht Anspruch auf Kinderzulagen hatte. Da ausländisches Recht nicht revisibel ist (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO), ist das Revisionsgericht an die Feststellungen des FG über Bestehen und Inhalt der Vorschriften des ausländischen Rechts wie an tatsächliche Feststellungen gebunden (vgl. § 155 FGO i.V.m. § 560 der Zivilprozessordnung ―ZPO― n.F. bzw. § 562 ZPO a.F.). Soweit ausnahmsweise eine Bindung dann nicht bestünde, wenn das FG bei der Ermittlung des ausländischen Rechts gegen § 293 ZPO i.V.m. § 155 FGO verstoßen (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 118 Rn. 61) oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze nicht beachtet hätte (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 15. März 1995 I R 14/94, BFHE 177, 263, BStBl II 1995, 502), hat der Kläger eine derartige Verfahrensrüge nicht erhoben und ist ein derartiger Fehler des FG auch nicht ersichtlich. Der Hinweis des Klägers, dass sein Antrag auf Kinderzulage im März 1990 abgelehnt worden sei, bedeutet nicht, dass er keinen Anspruch auf Kinderzulagen gehabt hätte, wenn er in seinem Antrag angegeben hätte, dass er in Deutschland aufgrund der Aufnahme seines Beschäftigungsverhältnisses in der Schweiz kein Kindergeld mehr erhält. Aus diesem Grund kann auch keine Bindung der deutschen Behörden an die ablehnende Entscheidung der vorgesetzten Dienststelle des Klägers in der Schweiz bestehen.
Fundstellen
Haufe-Index 780275 |
BFH/NV 2002, 1294 |