Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler bei Nichtbeachtung des Grundsatzes der Mündlichkeit im Urteilsverfahren
Leitsatz (NV)
- Erlässt das FG ein Urteil ohne vorausgehende mündliche Verhandlung, obwohl einer der Prozessbeteiligten nicht auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte, so liegt darin grundsätzlich sowohl eine Verletzung des Rechts auf Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO) als auch ein Verstoß gegen § 119 Nr. 4 FGO.
- Zwar führt die Verletzung des Rechts auf Gehör dann nicht zur Zurückverweisung der Sache an das FG, wenn dieser Verfahrensfehler nur einzelne tatsächliche Feststellungen betrifft, auf die es aus revisionsrechtlicher Sicht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt. Wird einem Beteiligten jedoch die Möglichkeit entzogen, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt insgesamt in einer gebotenen mündlichen Verhandlung zu äußern, so kann das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf seine sachlich-rechtliche Richtigkeit nicht überprüfen, weil das Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. von § 96 Abs. 1 FGO verfahrensrechtlich fehlerhaft zur Grundlage der Entscheidung geworden ist.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 90 Abs. 2, § 96 Abs. 2, § 119 Nrn. 3-4
Verfahrensgang
FG des Landes Brandenburg (EFG 2001, 418) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt eine Tischlerei. Für die im finanzgerichtlichen Verfahren streitigen Jahre 1992 bis 1995 machte er Vermögensverluste im Zusammenhang mit dem Ausfall einer Darlehensforderung sowie Aufwendungen zur Realisierung seines Rückzahlungsanspruchs gegen die insolvente Darlehensschuldnerin als Betriebsausgaben geltend. Im Anschluss an eine Außenprüfung erkannte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) diesen Aufwand nicht mehr an, weil das streitige Darlehen nach seiner Ansicht weder dem notwendigen noch dem gewillkürten Betriebsvermögen zuzuordnen, sondern vielmehr privat veranlasst gewesen sei. Demgemäß erließ das FA auf § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) bzw. auf § 164 Abs. 2 AO 1977 gestützte Einkommensteueränderungsbescheide für die Jahre 1992 bis 1994, in denen es die Gewinne aus Gewerbebetrieb für 1992 um 120 000 DM, für 1993 um 130 000 DM und für 1994 um 161 170 DM erhöhte. Den vom Kläger für 1995 erklärten Gewinn erhöhte das FA um 6 114,52 DM. Die einheitlichen Gewerbesteuermessbeträge setzte es in den auf § 35b des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) bzw. § 164 Abs. 2 AO 1977 gestützten Änderungsbescheiden für die Erhebungszeiträume 1992 bis 1994 sowie im erstmaligen Gewerbesteuermessbescheid für den Erhebungszeitraum 1995 unter Zugrundelegung eines entsprechend höheren Gewerbeertrages fest. Trotz dieser Erhöhungen des Gewinns und des Gewerbeertrages weisen die Änderungsbescheide für das Jahr 1994 die festzusetzende Einkommensteuer und den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag mit jeweils 0 DM aus.
Die dagegen nach erfolglosen Einsprüchen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) bezüglich der Einkommensteuer 1994 und des Gewerbesteuermessbetrages 1994 im Hinblick auf die erfolgten "Null-Festsetzungen" mangels Beschwer als unzulässig und hinsichtlich der Streitjahre 1992, 1993 und 1995 als unbegründet ab (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 2001, 418).
Das Urteil vom 14. Juni 2000 erging ―obwohl der Kläger zu keiner Zeit auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte― infolge eines Versehens des FG ohne mündliche Verhandlung.
Der dagegen erhobenen, mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―, § 96 Abs. 2 i.V.m. § 119 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) begründeten Nichtzulassungsbeschwerde hat das FG mit Beschluss vom 22. August 2000 abgeholfen und die Revision zugelassen.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht neben seinen materiell-rechtlichen Einwänden gegen die Vorentscheidung insbesondere geltend, dass ihm das FG das Recht auf Gehör versagt habe.
Der Kläger beantragt (teilweise sinngemäß), die Vorentscheidung insoweit aufzuheben, als sie die Streitjahre 1992, 1993 und 1995 betrifft, sowie
"unter Änderung des Einkommensteuerbescheids 1992 und des Bescheids über den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag 1992 vom 11. Juni 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 12. Juni 1998 die Einkommensteuer 1992 und den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag 1992 auf (der) Grundlage eines um 120 000 DM geminderten Gewinns aus Gewerbebetrieb festzusetzen,"
"unter Änderung des Einkommensteuerbescheids 1993 und des Bescheids über den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag 1993 vom 11. Juni 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 12. Juni 1998 die Einkommensteuer 1993 und den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag 1993 auf (der) Grundlage eines um 130 000 DM geminderten Gewinns aus Gewerbebetrieb festzusetzen,"
"unter Änderung des Einkommensteuerbescheids 1995 vom 8. August 1997 und des Bescheids über den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag 1995 vom 23. Juli 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 12. Juni 1998 die Einkommensteuer 1995 und den einheitlichen Gewerbesteuermessbetrag 1995 auf der Grundlage eines um 6 114,52 DM geminderten Gewinns aus Gewerbebetrieb festzusetzen."
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit diese die Einkommensteuer und Gewerbesteuermessbeträge für die Streitjahre 1992, 1993 und 1995 betrifft. In diesem gegenständlichen Umfang ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die Rüge des Klägers, das FG habe ihm das Recht auf Gehör versagt, ist begründet (unten 1.). Außerdem ist dem FG ein Verfahrensfehler i.S. von § 119 Nr. 4 FGO unterlaufen (unten 2.).
1. Das FG hat dem Kläger das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) verweigert, indem es entgegen § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat.
a) Zwar setzt das Recht auf Gehör nicht zwingend auch die Mündlichkeit der Verhandlung voraus; vielmehr kann das Gesetz auch ein schriftliches Verfahren als genügend erachten. Sieht das Gesetz aber ―wie in § 90 FGO für das Urteilsverfahren― grundsätzlich die Gewährung des rechtlichen Gehörs in mündlicher Verhandlung vor, so ist dieses Recht verletzt, wenn die Mündlichkeit nicht gewahrt wird (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 5. Oktober 1976 2 BvR 558/75, BVerfGE 42, 364, 370; Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 5. November 1991 VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425, unter II. 2.; zur Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die Gewährung des rechtlichen Gehörs im Urteilsverfahren vgl. ausführlich BFH-Beschluss vom 3. September 2001 GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802, unter C. III. 1. b bb (2)).
Die Beteiligten können zwar auf mündliche Verhandlung verzichten (§ 90 Abs. 2 FGO). Einen solchen Verzicht hatte der Kläger indessen entgegen der (irrtümlichen) Annahme des FG im erstinstanzlichen Verfahren nicht erklärt. In der Klageschrift vom 8. Juli 1998 hatte der Kläger vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er auf mündliche Verhandlung nicht verzichte, und außerdem angekündigt, dass er in der mündlichen Verhandlung bestimmte Anträge stellen werde. Auch im weiteren Verlauf des FG-Verfahrens brachte der Kläger zu keiner Zeit sein Einverständnis mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung zum Ausdruck.
b) Wegen der Versagung des rechtlichen Gehörs sind die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Zwar führt die Verletzung des Rechts auf Gehör dann nicht zur Zurückverweisung der Sache an das FG, wenn dieser Verfahrensfehler nur einzelne tatsächliche Feststellungen betrifft, auf die es aus revisionsrechtlicher Sicht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 5. Dezember 1979 II R 56/76, BFHE 129, 297, BStBl II 1980, 208, sowie die Nachweise bei Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 119 Rz. 11, m.w.N.). Wird einem Beteiligten jedoch ―wie im Streitfall― die Möglichkeit entzogen, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt insgesamt ―dem Gesamtergebnis des Verfahrens i.S. von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO― in einer gebotenen mündlichen Verhandlung zu äußern, so kann das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf seine sachlich-rechtliche Richtigkeit nicht überprüfen, weil das Gesamtergebnis i.S. von § 96 Abs. 1 FGO verfahrensrechtlich fehlerhaft zur Grundlage der Entscheidung geworden ist (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425, unter II. 2. der Gründe).
In diesem Fall kommt es auch nicht darauf an, ob der Kläger im Einzelnen ausgeführt hat, was er in einer mündlichen Verhandlung noch vorgetragen hätte und dass dieser Vortrag die Entscheidung des FG hätte beeinflussen können (vgl. insbesondere BFH-Beschluss in BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802, unter C. III. der Gründe; ferner z.B. BFH-Urteil in BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425, unter II. 2.; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 14, m.w.N.).
2. Unabhängig davon sind die Aufhebung der Vorentscheidung und die Zurückverweisung der Sache an das FG aber auch deswegen geboten, weil der dem FG unterlaufene Fehler zugleich dazu geführt hat, dass der Kläger "im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war" und deshalb ein absoluter Revisionsgrund i.S. von § 119 Nr. 4 FGO vorliegt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 1. Oktober 1970 V R 115/67, BFHE 100, 432, BStBl II 1971, 113; vom 25. August 1982 I R 120/82, BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46; vom 5. Mai 1999 XI R 44/98, BFH/NV 1999, 1485; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 19, m.w.N. aus der Rechtsprechung). Auch in diesem Zusammenhang erübrigt sich eine Prüfung der Frage, ob das angefochtene Urteil (tatsächlich) auf einer Verletzung von Bundesrecht beruht (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46, unter 2. letzter Absatz der Gründe).
3. Die Sache geht deshalb an das FG zurück, damit dieses die vom Kläger begehrte mündliche Verhandlung durchführen und ggf. den von ihm beantragten Zeugenbeweis erheben kann.
Fundstellen