Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung für Umsatzsteuer; Grundsatz der anteiligen Tilgung
Leitsatz (NV)
1. Ein Geschäftsführer verletzt dann seine Pflichten aus §§ 103 Satz 1, 109 Abs. 1 AO, wenn er es versäumt, Umsatzsteuerschulden in etwa gleicher Weise zu tilgen wie die Forderungen anderer Gläubiger.
2. Zu den Anforderungen an die diesbezüglichen Feststellungen im FG-Urteil unter Berücksichtigung der Rechtsgrundsätze über die prozessuale Mitwirkungspflicht des Klägers und die objektive Beweislast (Feststellungslast).
3. Der Geschäftsführer kann nicht für Steuerschulden in Haftung genommen werden, die der Steuerschuldner selbst wegen Rückgängigmachung von Geschäftsvorfällen nicht schuldet (Anschluß an BFH-Urteil vom 2. April 1981 V R 39/79, BFHE 133, 121, 126, BStBl II 1981, 627).
Normenkette
AO § 103 S. 1, § 109 Abs. 1; FGO § 76
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war ab dem 30. September 1975 alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der W-GmbH, die Komplementärin der W-KG war.
Durch Bescheid vom 15. November 1976 nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Kläger u.a. wegen der Zahlung der von der W-KG geschuldeten Umsatzsteuer für die Voranmeldungszeiträume 8, 10, und 11/1975 in Höhe von insgesamt 65 192,40 DM in Haftung. Zur Begründung führte das FA aus, der Kläger habe es als Geschäftsführer der W-GmbH pflichtwidrig unterlassen, für die rechtzeitige Entrichtung dieser in der Zeit seiner Geschäftsführertätigkeit fällig gewordenen Steuern zu sorgen. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb insoweit ohne Erfolg. Einspruch und Klage begründete der Kläger u.a. mit dem Hinweis darauf, die Umsatzsteuerschulden für die Voranmeldungszeiträume 8 und 10/1975 rührten ,,zu über 90 Prozent" aus Erlösen aus der Veräußerung eines Geschäftslokals in K gegen einen in monatlichen Raten von 4 000 DM zu zahlenden Kaufpreis. Dieser Kaufvertrag sei später rückgängig gemacht worden, so daß auch die Umsatzsteuer hierauf entfalle. Während seiner Tätigkeit als Geschäftsführer habe er aus den von ihm verwalteten Mitteln regelmäßige Zahlungen in Höhe von insgesamt 33 120 DM an das FA geleistet. Er habe davon ausgehen können, daß hierdurch die Steuern des laufenden Jahres 1975 beglichen würden. Das FA sei gegenüber anderen Gläubigern nicht benachteiligt worden. Zudem sei er nur als Strohmann für den Hauptgesellschafter der W-KG, A, tätig gewesen. Er selbst habe der Steuerschuldnerin 60 000 DM eigene Mittel zur Begleichung der Steuerschulden zur Verfügung gestellt.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen.
Mit der Revision rügt der Kläger fehlerhafte Anwendung der §§ 103, 109 der Reichsabgabenordnung (AO) und der Rechtsgrundsätze über die Verteilung der Beweislast.
Er beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie den Haftungsbescheid vom 15. November 1976 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober 1977 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils reichen nicht aus, die Haftung des Klägers dem Grunde nach und in Höhe der festgesetzten Haftungsbeträge zu bejahen. Es ist nicht festgestellt, inwieweit dem Kläger Mittel zur Tilgung der Steuerschulden zur Verfügung gestanden haben. Ferner hat das FG zu Unrecht nicht geprüft, ob die Geschäftsvorfälle, die zu den Umsatzsteuervorauszahlungen für die Voranmeldungszeiträume 8 und 10/1975 geführt haben, zu einem späteren Zeitpunkt rückgängig gemacht worden sind.
1. Der Kläger hatte als gesetzlicher Vertreter der geschäftsführenden W-GmbH dafür zu sorgen, daß die Steuern der W-KG aus den Mitteln, die er verwaltete, entrichtet wurden (§§ 103 Satz 1, 109 Abs. 1 AO). Ihm ist eine schuldhafte Verletzung seiner Geschäftsführerpflichten nur vorzuwerfen, wenn er es versäumt hat, die Umsatzsteuerrückstände in etwa (d.h. überschlägig gerechnet) gleicher Weise zu tilgen wie die Forderungen anderer Gläubiger (Grundsatz der anteiligen Tilgung; vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, 449 f., BStBl II 1984, 776). Zur Begründung eines solchen Schuldvorwurfes wäre es notwendig gewesen, Feststellungen zu treffen zur Höhe der im Haftungszeitraum verfügbaren Zahlungsmittel sowie der Gesamtverbindlichkeiten einschließlich der Steuerschulden und zu den im Haftungszeitraum auf diese geleisteten Zahlungen. Wurden bei eingeschränkter Zahlungsfähigkeit die Steuerschulden nicht in demselben Verhältnis beglichen wie die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern, so haftet der Kläger im Umfang des unterschreitenden Fehlbetrages (vgl. BFH-Urteile vom 26. März 1985 VII R 139/81, BFHE 143, 488, 490 f., BStBl II 1985, 539; vom 12. Juni 1986 VII R 192/83, BFHE 146, 511, 512 f., BStBl II 1986, 657).
Die in sich nicht widerspruchsfreien Feststellungen im angefochtenen Urteil tragen den Vorwurf nicht, der Kläger habe seine Pflicht, die Umsatzsteuerschulden für die Voranmeldungszeiträume 8, 10 und 11/1975 zu zahlen, schuldhaft verletzt. Ohne rechtliche Bedeutung ist der Hinweis des FG, der Kläger habe ,,mit dem Beklagten eine Vereinbarung über Tilgung und Absicherung dieser Rückstände treffen können und müssen" (Urteil S. 7). Denn es fehlt die erforderliche tatsächliche Feststellung, daß Mittel zur Tilgung und Sicherheiten vorhanden gewesen wären. Das FG erläutert nicht, aus welchen laufenden Zahlungseingängen die noch nicht vereinnahmte, auf die Veräußerung des Geschäftslokals entfallende Umsatzsteuer hätte finanziert werden können. Ausweislich der Feststellungen im angefochtenen Urteil hat der Kläger vor dem FG vorgetragen, es sei ,,kein Geld vorhanden gewesen"; er habe ,,einen großen Teil der Steuerschulden privat bezahlt und dafür einen Kredit aufgenommen". Das FG geht davon aus, daß die W-KG i.S. des § 102 der Konkursordnung (KO) konkursreif war, ,,weil eine Zahlungsfähigkeit nicht mehr gegeben war. Denn die W-KG war auf Dauer nicht mehr in der Lage, ihre sofort zu erfüllenden Geldschulden noch im wesentlichen zu berichtigen". Gleichwohl hat das FG nicht festgestellt, welche liquiden Mittel vorhanden waren und in welchem anteiligen Verhältnis zu den übrigen Verbindlichkeiten der Kläger diese Mittel zur Begleichung der Steuerschulden verwendet hat.
Für die tatsächlichen Voraussetzungen einer Haftung nach §§ 103, 109 AO trägt das FA die objektive Beweislast (Feststellungslast), wenn eine weitere Aufklärung des Sachverhalts aus tatsächlichen Gründen nicht möglich oder aus rechtlichen Gründen nicht erforderlich ist. Dem in Anspruch genommenen gesetzlichen Vertreter obliegt es, die in seinen Wissensbereich fallenden Angaben zu machen (Urteil in BFHE 141, 443, 448, BStBl II 1984, 776). Das FG zieht dem Kläger nachteilige Schlußfolgerungen daraus, daß dieser ,,keine konkreten und substantiierten, mit Zahlen belegten Aussagen" darüber gemacht habe, was mit den Geldeingängen zur Zeit seiner Geschäftsführung im einzelnen geschehen sei. Indes sind keine Anhaltspunkte dafür festgestellt, daß das FG im Hinblick auf eine Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflicht durch den Kläger von dem im Haftungsbescheid geschilderten Sachverhalt hätte ausgehen können. Dies hätte vorausgesetzt, daß der Kläger trotz besonderer Aufforderung durch das FG keine Auskünfte über die allein in seinem Wissensbereich liegenden tatsächlichen Verhältnisse der Gesellschaft gegeben hätte (vgl. hierzu BFHUrteil vom 9. Oktober 1985 I R 154/82, BFH/NV 1986, 321). Hierzu hat das FG weder festgestellt, daß der Kläger aufgefordert worden wäre, die Höhe der liquiden Mittel und deren Verwendung im einzelnen zu belegen, noch daß der Kläger - nach Beendigung seiner Geschäftsführertätigkeit - in der Lage gewesen wäre, einen solchen Nachweis zu führen. Gerade zum letztgenannten Gesichtspunkt wären besonders eingehende Feststellungen erforderlich gewesen, denn es spricht einiges dafür, daß dem Kläger die Geschäftsunterlagen der W-KG nicht mehr ohne weiteres zugänglich waren.
2. Die Prüfung, ob in die streitigen Voranmeldungszeiträume fallende Geschäftsvorfälle zu einem späteren Zeitpunkt rückgängig gemacht worden sind, ist deshalb erforderlich, weil der Kläger nicht für Umsatzsteuer haftbar gemacht werden kann, welche die W-KG selbst letztlich nicht schuldet. Auf die Frage, ob die Rückgängigmachung des Verkaufs der Gaststätte die Steuerschuld gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 des Steueranpassungsgesetzes rückwirkend entfallen ließ, kommt es nicht an. Die als Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens gedachte Vorschrift des § 17 Abs. 1 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes 1973 steht dem nicht entgegen (Urteil des BFH vom 2. April 1981 V R 39/79, BFHE 133, 121, 126, BStBl II 1981, 62).
3. Da das FA bislang keine Ermittlungen zur anteiligen Tilgung der Umsatzsteuerschulden getroffen hat und die insoweit erforderliche Aufklärung durch das FG selbst einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordern würde, sind - ohne Entscheidung in der Sache selbst - der Haftungsbescheid, die Einspruchsentscheidung, soweit sie nicht bereits eine Haftung des Klägers für Verspätungszuschläge verneint hat, und das Urteil des FG aufzuheben (§ 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -; vgl. BFH-Urteil vom 8. Juli 1982 V R 7/76, BFHE 137, 1, 3, BStBl II 1983, 249).
Fundstellen
Haufe-Index 415322 |
BFH/NV 1988, 283 |