Leitsatz (amtlich)
1. Das Leitungsnetz eines Versorgungsunternehmens kann entsprechend seinen Teilfunktionen (Antransport, Fern- und Zwischentransport, Abnehmergruppen) in mehrere Wirtschaftsgüter aufgeteilt werden.
2. Innerhalb des Gesamtnetzes eines Unternehmens, das Mineralölprodukte in Leitungen transportiert, bildet eine neu errichtete Leitung jedenfalls dann ein selbständiges Wirtschaftsgut, wenn sie den Anschluß an eine weitere Raffinerie herstellt, einen neuen Kundenkreis erschließt und infolge eines größeren Rohrdurchmessers eine größere Durchlaufkapazität als die vorhandenen Leitungen hat. In einem solchen Fall ist unerheblich, daß das Gesamtnetz zentral gesteuert wird.
Normenkette
UStG 1967 § 30 Abs. 2; EStG § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 7
Tatbestand
Streitig war, ob die Errichtung einer Produkten-Pipeline selbstverbrauchsteuerpflichtig ist.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein aus Mineralölgesellschaften gebildetes Konsortium (Gesellschaft bürgerlichen Rechts –GbR–), das Organträger einer Rohrleitungstransportgesellschaft mbH (GmbH) ist. Die Gesellschafter des Klägers sind auch Gesellschafter der GmbH.
Die GmbH transportiert Mineralölprodukte. Sie unterhält eine Produkten-Pipeline. Ende 1967 betrieb sie eine Rohrleitung von D über G bis L in zwei Abschnitten: die sog. Hauptleitung Nord von D nach G und die sog. Hauptleitung Süd von G nach L, jeweils mit einigen Abzweigungen. Das Gesamtnetz hatte eine Länge von ca. 428 km. Der Rohrdurchmesser der Hauptleitungen betrug 20 Zoll, derjenige der Abzweigungen 18 Zoll. Während des Baues dieser Leitungen wurde bekannt, daß ein niederländisches Rohrleitungstransportunternehmen seine Rohöl-Pipeline von Rotterdam zur deutsch-niederländischen Grenze –Länge 153 km, Rohrdurchmesser 24 Zoll– stillegen wollte, um für den gestiegenen Rohölbedarf eine neue Pipeline von 36 Zoll zu verlegen. Die GmbH kam mit dem niederländischen Unternehmen überein, daß das Letztgenannte seine bisherige Rohöl-Pipeline auf eine Produkten-Pipeline umstellte und in dieser nach den Anforderungen der GmbH Mineralölprodukte verpumpte.
Zur Verbindung zwischen D und der niederländischen Grenze wurde zwischen März und Juni 1968 die sog. Hauptleitung West (Länge 51 km, Rohrdurchmesser 24 Zoll) gebaut und am 1.Juli 1968 in Betrieb genommen. Ihre Fertigstellung ermöglichte der GmbH einen Mineralölprodukten-Transport vom Raffineriezentrum Rotterdam bis in das Rhein-Main-Gebiet. Pumpstationen an der Grenze, in D, G und R, sorgten für den nötigen Druck. Später kamen weitere Pumpstationen hinzu. Der für die Hauptleitung West erforderliche Druck wurde in den Streitjahren von der Pumpanlage des niederländischen Unternehmens an der Grenze erzeugt. Das Gesamtnetz wurde zentral von G aus gesteuert. Hier war ein Informations-, Fernsteuerungs- und Kontrollsystem (mit Großcomputer) installiert, von dem aus über eine Fernwirkanlage das Pumpenprogramm für das gesamte Leitungsnetz gelenkt wurde. Dieses System bewirkte, daß bis zu 35 unterschiedliche Mineralölprodukte gleichzeitig von und zu unterschiedlichen Eingabe- und Entnahmepunkten transportiert werden konnten, ohne daß eine Vermischung eintrat. Die mannigfaltigen technischen Abläufe wurden durch zahlreiche in den Leitungen befindliche Streckenschieber, Sende-, Empfangs-, Meß-, Fernwirk-, Steuer- und Kontrolleinrichtungen gelenkt, die mit der Zentrale in G über ein Fernwirkkabel verbunden waren.
Die Herstellungskosten der Hauptleitungen Süd und Nord hatten ca. 200 Mio DM betragen. Für die Herstellung der Hauptleitung West wurden folgende Beträge aufgewandt: 1968 20 589 137 DM, 1969 670 579 DM, 1970 21 775 DM (1969/70 nachträgliche Herstellungskosten).
Das bis 1985 für die Umsatzbesteuerung des Klägers zuständige Finanzamt –im folgenden FA– unterwarf die Beträge nach einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung der Selbstverbrauchsteuer gemäß § 30 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1967 (endgültige Bescheide für 1968 und 1969 und erstmaliger Bescheid für 1970 vom 11.Dezember 1973). Der Einspruch blieb im Streitpunkt erfolglos.
Das FA erließ nach Klagerhebung für 1968 einen gemäß § 172 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Bescheid vom 21.November 1980, in dem die Selbstverbrauchsteuer für die Rohrleitung West gemäß § 30 Abs.9 UStG 1967 um … DM gemindert wurde. Der Kläger machte den Änderungsbescheid gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte aus: Die Hauptleitung West sei eine nicht selbstverbrauchsteuerbare Erweiterung der Nord-Süd-Leitung. Beide Leitungen seien technisch vielfältig und dauerhaft miteinander verbunden. Die Rohrleitung West werde erst in ihrer Verbundenheit mit dem Gesamtsystem als Produkten-Transport-Anlage nutzbar.
Das FA hat Revision eingelegt, mit der es fehlerhafte Anwendung des § 30 UStG 1967 und Verstöße gegen den Inhalt der Akten rügt. Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Nach Anhängigkeit des Revisionsverfahrens ist das FA K für die Umsatzbesteuerung des Klägers zuständig geworden; es führt das Verfahren als Beklagter und Revisionskläger fort.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt aus materiellen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Auf die Verfahrensrügen kommt es nicht an.
Selbstverbrauch liegt vor, wenn ein Unternehmer unter weiteren –hier nicht streitigen– Voraussetzungen körperliche Wirtschaftsgüter der Verwendung oder Nutzung als Anlagevermögen zuführt (§ 30 Abs.2 Satz 1 UStG 1967). Es muß sich um eine Neuinvestition handeln. Wird ein vorhandenes Wirtschaftsgut lediglich erweitert (Erweiterungsinvestition), entfällt eine Selbstverbrauchsteuerpflicht (Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 19.August 1971 V R 18/71, BFHE 103, 282, BStBl II 1972, 75). Die Frage, ob Aufwand zu einem eigenständigen Wirtschaftsgut geführt oder ob mit ihm lediglich ein bereits vorhandenes Wirtschaftsgut erweitert wurde, ist nach einkommensteuerrechtlichen Grundsätzen zu entscheiden (BFH-Urteile vom 5.Dezember 1974 V R 30/74, BFHE 114, 295, BStBl II 1975, 344; vom 15.Dezember 1977 V R 59/77, BFHE 124, 250, BStBl II 1978, 246).
Die Rechtsprechung hat sich wiederholt zu der Frage geäußert, ob und inwieweit Leitungsnetze selbständige Wirtschaftsgüter darstellen und neue Netzteile lediglich als Erweiterungen des bisherigen Netzes anzusehen sind. Nach BFHE 103, 282, BStBl II 1972, 75 ist das Wasserrohrnetz einer Dorfgemeinde –einschließlich der Hausanschlüsse –als ein Wirtschaftsgut zu beurteilen. Der BFH ließ offen, ob unter städtischen Bedingungen die Aufteilung eines Wasserrohrnetzes nach Stadtteilen oder Bezirken in Betracht kommt (ebenso Urteil vom 16.Mai 1974 V R 109/72, Der Betrieb –DB– 1974, 2336, insoweit in BFHE 113, 72, BStBl II 1974, 649, nicht veröffentlicht). Das Schleswig-Holsteinische FG (rechtskräftiges Urteil vom 14.Dezember 1977 III 307/75 (IV), Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 1978, 246) hat das Rohrleitungsnetz eines ländlichen Wasserbeschaffungsverbands in ein gesondertes Wirtschaftsgut Durchgangsleitungen und in die Gemeindenetze als weitere Wirtschaftsgüter gegliedert. Werkanschlußleitungen für Großabnehmer von Ferngas hat der BFH als mit Hausanschlüssen vergleichbar und als unselbständig gegenüber den Haupt- und Nebenleitungen eines überregionalen Gasversorgungsunternehmens angesehen (Urteil vom 12.Dezember 1985 V R 126/80, Betriebs-Berater –BB– 1986, 1193, unter Bestätigung des Urteils des FG Düsseldorf vom 27.August 1980 VIII (V) 181/76 UM, EFG 1981, 261). Gleichermaßen sind Erweiterungen eines Ferngasnetzes beurteilt worden, die bereits bestehende Netze verstärken, um einem gestiegenen Bedarf gerecht zu werden (BFH-Urteil vom 9.Februar 1986 V R 119/81, BFH/NV 1986, 374, BB 1986, 1194). Diese Rechtsprechung, der sich der erkennende Senat anschließt, ist in ihren Grundzügen auch auf Produktenleitungen übertragbar.
Nach Auffassung des Senats ist entscheidend auf die Funktionen des Gesamtnetzes und seiner Teile abzustellen. Das Gesamtnetz dient regelmäßig einem Gesamtzweck: der Zuführung von flüssigen oder gasförmigen Verbrauchsgütern oder von Energien zu den Abnehmern eines Versorgungsgebiets. Innerhalb dieser übergeordneten Funktion lassen sich jedoch vielfach Einzelfunktionen ausmachen, die –treten sie verselbständigt in Erscheinung– einzelne Teile des Netzes als gesonderte Wirtschaftsgüter erscheinen lassen. Dies kann dann zutreffen, wenn Verbrauchsgüter oder Energien herangeführt, weitertransportiert (Fern- und Zwischentransport) und auf Abnehmergruppen verteilt werden. So hat die Finanzverwaltung Elektrizitätsleitungen nach Hochspannungs- und Mittelspannungsleitungen und im Niederspannungsbereich nach Ortsnetzen unterschieden (Schreiben des Bundesministers der Finanzen –BMF– vom 10.Juni 1974, Umsatzsteuerkartei S 7471 K 12). In ähnlicher Weise hat die Rechtsprechung bei Wasserrohrnetzen zwischen Durchgangsleitungen und Gemeindenetzen getrennt (EFG 1978, 246) und eine Unterscheidung nach Stadtteilnetzen in Betracht gezogen (BFHE 103, 282, BStBl II 1972, 75; DB 1974, 2336).
Lassen sich derartige Sonderfunktionen feststellen, ist unerheblich, daß die Leitungsteile technisch miteinander verbunden sind. Der Große Senat des BFH hat innerhalb eines Gebäudes mehrere Wirtschaftsgüter nach unterschiedlichen Nutzungs- und Funktionszusammenhängen unterschieden (Beschluß vom 26.November 1973 GrS 5/71, BFHE 111, 242, BStBl II 1974, 132), obwohl die bautechnische Verbindung der Gebäudeteile nur durch eine teilweise Substanzzerstörung aufgelöst werden kann. Um so mehr kann die bautechnische Verbindung von eigenständigen Netzteilen vernachlässigt werden, weil Netzteile nach ihrer Trennung in ihrer Brauchbarkeit regelmäßig nicht notwendig entscheidend beeinträchtigt sind. Fehlt es allerdings an einer Sonderfunktion, so sind Leitungsteile selbst dann zu einem einheitlichen Wirtschaftsgut zusammenzufassen, wenn sie durch technische Vorrichtungen oder Baulichkeiten unterbrochen sind. So bewirkt ein Pumpwerk, das zusätzlich in die Strecke eingefügt wird, damit ein Höhenunterschied überwunden wird, grundsätzlich keine Trennung. Eine bautechnische Gliederung kann ein Hinweiszeichen dafür sein, daß an diesen Stellen des Netzes unterschiedliche Nutzungen oder Funktionen voneinander abgegrenzt sind.
Nach den dargestellten Grundsätzen und dem festgestellten Sachverhalt war die Hauptleitung West ein Wirtschaftsgut, das gegenüber den vorhandenen Hauptleitungen Nord und Süd selbständig war. Die entgegenstehende Würdigung des FG ist keine Tatsachenfeststellung, die den Senat nach § 118 Abs.2 FGO binden würde. Die Frage, nach welchen Merkmalen zu entscheiden ist, ob ein Wirtschaftsgut oder mehrere Wirtschaftsgüter vorliegen, ist vielmehr eine Rechtsfrage, die der vollen Überprüfung des Revisionsgerichts unterliegt.
Die Rohrleitung West erfüllte im Zeitpunkt ihrer Inbetriebnahme innerhalb des Gesamtnetzes der GmbH eine eigenständige hervorgehobene Teilfunktion. Sie verschaffte der GmbH und ihren Gesellschaftern Anschluß an das Raffineriezentrum Rotterdam und damit den unmittelbaren Zugang zu den dort hergestellten Mineralölprodukten. Engpässe in der Bedienung von Kunden mit Mineralölprodukten aus den vorhandenen Raffinerien D und G waren kaum noch zu erwarten, der umständliche Transport von Mineralölprodukten über die Straße oder auf Rheinschiffen war überflüssig geworden. Die GmbH erschloß sich eine zusätzliche Möglichkeit der Einspeisung von Mineralölprodukten in ihr Netz. Wie ein Handelsunternehmen, das den Absatz seiner Waren durch ausreichende Bezugsquellen sichert, erhielt die GmbH die Möglichkeit, sich Mineralölprodukte zuzuführen, die sie in größeren Mengen und schneller zu ihren Abnehmern transportieren konnte.
Des weiteren wurde durch die Rohrleitung West eine Bedienung von Kunden im Gebiet von der holländischen Grenze bis nach D möglich. Damit war mit einem neuen Abnehmerkreis zu rechnen, wie die (spätere) Errichtung einer Abzweigung der Rohrleitung West zeigt. Da der Produktenfluß ausschließlich von West nach Ost ging, mußte der neue Kundenkreis von Rotterdam aus beliefert werden. Zu beachten ist auch, daß das Fassungsvermögen der Rohrleitung West dasjenige der bereits vorhandenen Rohrleitungen Nord und Süd überstieg. Die Rohrleitung West war stärker dimensioniert als die anderen Leitungen. Das unterschiedliche Fassungsvermögen wurde zwar vorerst dadurch ausgeglichen, daß das Pumpwerk in D nach Süden hin für zusätzlichen Druck sorgte. Das änderte jedoch nichts daran, daß die Rohrleitung West in ihrer Transportkapazität den anderen Leitungen überlegen war und steigenden Transportanforderungen besser gerecht werden konnte. Die technische und bauliche Gestaltung der Pumpstation D bestätigt, daß an dieser Stelle zwei selbständige Wirtschaftsgüter mit unterschiedlichen Funktionen aneinandergrenzten. In D waren technische Einrichtungen vorhanden, die es erlaubten, aus Rotterdam kommende Mineralölprodukte auszuspeisen; andererseits wurden hier Mineralölprodukte aus der Raffinerie D eingespeist, die nur den Weg nach Süden in die Rohrleitung Nord nehmen konnten. Das starke Pumpwerk war nicht nur imstande, die zugeführten Mineralölprodukte fortzudrücken, sondern konnte auch auf die von Rotterdam ankommenden Produkte erforderlichenfalls zusätzlichen Druck ausüben. Das Pumpwerk diente –anders als beispielsweise das höhenüberwindende Pumpwerk R– auch der Anpassung der höheren Transportkapazität der Rohrleitung West an die geringere Transportkapazität in den Rohrleitungen Nord und Süd.
Der Kläger und ihm folgend das FG heben demgegenüber besonders die zentrale Steuerung des Gesamtnetzes hervor. Das FG sieht in einer abgetrennten Hauptleitung West ein „mehr oder weniger nutzloses Rohr”. Es will auch nicht gelten lassen, was dahingestellt bleiben mag, daß eine auf sich gestellte Hauptleitung West wirtschaftlich sinnvoll mit einer eigenen Steuerungsanlage versehen oder einer Ersatzfunktion (z.B. als Rohöl-Pipeline) zugeführt werden könnte. Kläger und FG weisen einer zentralen Steuerung für die Abgrenzung körperlicher Wirtschaftsgüter eine zu große Bedeutung zu. Zwar faßte die zentrale Steuerung in G das Gesamtnetz der GmbH zu einer überregionalen Funktionseinheit „Ferntransport von Mineralölprodukten von der holländischen Grenze bis in das Rhein-Main-Gebiet” zusammen. Eine solche Steuerung kann, wovon der BFH in BFH/NV 1986, 374, BB 1986, 1194 ausgeht, ein Umstand sein, der vereinheitlichend wirkt. Es ist jedoch auch in diesen Fällen zu beachten, daß dieses Merkmal nicht für sich allein gesehen werden kann, sondern in Verbindung mit anderen Merkmalen zu würdigen ist. Eine solche Gesamtschau kann ergeben, daß die so gebildete Funktionseinheit in Funktionsbereiche mit ausgeprägten Teilfunktionen zu zerlegen ist.
Danach ist die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist abzuweisen.
Fundstellen
BStBl II 1988, 539 |
BFHE 152, 284 |
BFHE 1988, 284 |
HFR 1988, 456 (Leitsatz 1-2 und Gründe) |
WPg 1988, 455-455 |