Leitsatz (amtlich)
1. Die Frage, ob durch den Bescheid einer Finanzbehörde ein Steueranspruch oder ein Haftungsanspruch geltend gemacht wird, ist nur nach dem Willen zu entscheiden, den die Finanzbehörde unter Berücksichtigung der Umstände durch den Bescheid selbst bekundet hat (Abkehr von dem Urteil vom 12. Mai 1970 VII R 34/68, BFHE 99, 178, BStBl II 1970, 606).
2. Ein Steuerpflichtiger, der eine Abgabe als Steuerschuldner zu entrichten hat, kann für diese selbe Abgabe nicht zugleich auf Grund des § 111 Abs. 1 AO haften.
Normenkette
AO § 97 Abs. 1-2, § 111 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) handelt mit Mineralöl. Der steuerliche Betriebsleiter ihrer Zweigniederlassung veräußerte in den Jahren 1967 und 1968 ohne Wissen der Komplementäre der Klägerin aus deren Beständen steuerbegünstigtes Heizöl als Dieselkraftstoff an nicht empfangsberechtigte Personen, ohne dies dem zuständigen Zollamt anzuzeigen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (HZA) erließ am 19. Juli 1972 gegen den Betriebsleiter einen Haftungsbescheid und gegen die Klägerin einen Steuerbescheid über die auf dem Heizöl ruhende Mineralölsteuer. Mit Schreiben vom 3. August 1972 hat die Klägerin, von der Vollstreckung aus dem Steuerbescheid vorläufig abzusehen, da die Steuerforderung vermutlich verjährt sei. Das HZA nahm daraufhin mit Schreiben vom 9. August 1972 den Steuerbescheid gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO zurück. Am 17. August 1972 erließ es gegen die Klägerin auf Grund desselben Sachverhaltes in Höhe desselben Betrages einen auf § 111 Abs. 1 AO gestützten "Haftungsbescheid" mit der Begründung, die Haftungsschuld sei noch nicht verjährt, da es sich um hinterzogene Beträge handele.
Mit der nach erfolglosem Einspruch gegen diesen Bescheid gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, der Haftungsbescheid sei rechtswidrig, da sie Steuerschuldnerin sei und nicht für die eigene Schuld haften könne.
Das FG wies die Klage ab und führte aus: Die Klägerin sei durch den Bescheid zu Recht, und zwar als Steuerschuldnerin, in Anspruch genommen worden. Die mit der Entfernung des Mineralöls aus dem Herstellungsbetrieb entstandene bedingte Steuerschuld sei mit der Übertragung des Besitzes an dem Mineralöl auf die Klägerin als Erlaubnisscheinnehmerin übergegangen und durch die bestimmungswidrige Verfügung über das Mineralöl in der Person der Klägerin unbedingt geworden (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 der Verordnung zur Durchführung des Mineralölsteuergesetzes). Die Steuerschuld sei auch im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Klägerin durch den angefochtenen Bescheid nicht verjährt gewesen. Denn die Hinterziehungshandlung des Vertreters der Klägerin habe zur Folge, daß die 10jährige Verjährung auch ihr gegenüber gelte. Die unzutreffende Bezeichnung des angefochtenen Bescheids als Haftungsbescheid habe keinen Einfluß auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides. Das Gericht folge hierin dem Urteil des BFH vom 12. Mai 1970 VII R 34/68 (BFHE 99, 178, BStBl II 1970, 606). Danach bedürfe es keiner Umdeutung eines Haftungsbescheides in einen Steuerbescheid, wenn eindeutig erkennbar sei, daß der Steuerpflichtige selbst die Steuer schulde und nicht lediglich für eine fremde Steuerschuld einstehen solle. Der angefochtene Bescheid sei auch nicht deshalb rechtswidrig, weil er acht Tage nach Rücknahme des Steuerbescheides vom 19. Juli 1972 erlassen worden sei, ohne daß sich der maßgebende Sachverhalt geändert habe. Insbesondere verstoße die Inanspruchnahme der Klägerin nicht gegen die Grundsätze von Treu und Glauben.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend: Das FG sei zu Unrecht von der Annahme ausgegangen, daß sie mit dem angefochtenen Haftungsbescheid nicht als Haftungs-, sondern als Steuerschuldnerin habe in Anspruch genommen werden sollen. Das FG verkenne bei dieser Auslegung, daß das HZA It. Vermerk vom 9. August 1972, der dem FG vorgelegen habe, den ursprünglich ergangenen Steuerbescheid wegen eingetretener Verjährung zurückgenommen habe, um ihn durch einen Haftungsbescheid (§ 111 AO) zu ersetzen. Das HZA habe demnach von der Geltendmachung der Steuerschuld absehen und etwas anderes, nämlich die Haftungsschuld, geltend machen wollen. Das ergebe sich auch eindeutig aus dem Wortlaut des Haftungsbescheides selbst. Der Vermerk vom 9. August 1972 zeige, daß das HZA sich bewußt gewesen sei, eine Haftungsschuld gegen sie, die Klägerin, als eigentliche Steuerschuldnerin geltend zu machen. Demgegenüber gehe die Bezugnahme auf das BHF-Urteil VII R 34/68 fehl, denn eine Umdeutung des ergangenen Haftungsbescheides verbiete sich schon deshalb, weil ein Steuerbescheid vorausgegangen sei und das HZA nach Rücknahme desselben die Inanspruchnahme als Haftungsschuldner ausdrücklich gewollt habe. Gebe man dem Bescheid demnach zutreffenderweise die Bedeutung eines Haftungsbescheides, so stelle sich die Frage, ob ein Haftungsbescheid auch gegen den Steuerschuldner selbst ergeben könne. Diese Frage sei mit der BFH-Entscheidung VII R 34/68 zu verneinen.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und den Haftungsbescheid vom 17. August 1972 aufzuheben, hilfsweise, das angefochtene Urteil in vollem Umfang einschließlich der tatsächlichen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des FG zurückzuverweisen.
Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Es macht geltend:
Der Aktenvermerk vom 9. August 1972 zeige, daß es unter allen denkbaren Gesichtspunkten die Klägerin zur Zahlung habe heranziehen wollen. Deshalb sei es unter Umständen gerechtfertigt, den Haftungsbescheid vom 17. August 1972 in einen Steuerbescheid umzudeuten. Der Haftungsbescheid sei auch als solcher rechtmäßig, da die Klägerin gemäß § 111 Abs. 1 AO für die Steuereinnahmen hafte, die durch die Steuerhinterziehung ihres Bevollmächtigten verkürzt worden seien. Die Reichsabgabenordnung schließe nicht ausdrücklich aus, daß derjenige, der eine Steuer schulde, zugleich für sie hafte. § 97 Abs. 2 AO zeige das Bestreben der Reichsabgabenordnung, einen möglichst großen Personenkreis für die Erfüllung einer Steuerpflicht in Anspruch zu nehmen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet.
In dem der FG-Entscheidung zugrunde gelegten Urteil VII R 34/68 hat der erkennende Senat in einem Verwaltungsakt, den das HZA gegen die Steuerschuldnerin nach der Zurücknahme eines an sie gerichteten Steuerbescheides als "Haftungsbescheid" erlassen hatte, einen Steuerbescheid gesehen. Er hat sich dabei von der Auffassung leiten lassen, es komme in einem solchen Falle auf Art und Umfang der geforderten Leistung an, nicht aber darauf, ob die Behörde diese Leistung rechtlich zutreffend als Schuld oder Haftung qualifiziert habe. An dieser Auffassung hält der Senat nicht mehr fest, weil sie das Recht der Behörde beeinträchtigt, selbst zu entscheiden, ob auf Grund eines gegebenen Sachverhalts ein Steuer- oder ein Haftungsanspruch geltend zu machen ist. Die Rechtsprechung hat das Verhalten der Verwaltungsbehörden nur auf seine Rechtmäßigkeit hin nachzuprüfen, nicht aber Willensäußerungen der Verwaltungsbehörden zu korrigieren. Deshalb ist die Frage, ob durch den Bescheid einer Finanzbehörde ein Steueranspruch oder ein Haftungsanspruch geltend gemacht wird, nur nach dem Willen zu entscheiden. den die Finanzbehörde unter Berücksichtigung der Umstände durch den Bescheid selbst bekundet hat.
Im vorliegenden Falle hat das HZA die Klägerin eindeutig nicht als Steuerschuldnerin, sondern als Haftungsschuldnerin in Anspruch nehmen wollen. Es hat seinen Bescheid ausdrücklich als Haftungsbescheid bezeichnet. Wenn auch aus der Bezeichnung eines Bescheids allein nicht immer volle Klarheit über den wirklichen Willen der Behörde gewonnen werden kann, so ist sie doch ein nicht unwesentliches Anzeichen für diesen Willen. Es kommt aber hinzu, daß das HZA in dem Bescheid ausdrücklich auf § 111 AO Bezug genommen hat, wonach die Klägerin als Vertretene für die Hinterziehungshandlungen, die ihr steuerlicher Betriebsleiter in Ausübung seiner Obliegenheiten begangen habe, hafte. Dieser Hinweis auf die Haftungsbestimmungen läßt den Willen des HZA, die Klägerin als Haftende und nicht als Steuerschuldnerin in Anspruch zu nehmen, eindeutig hervortreten. Dasselbe ergibt sich auch, wie die Klägerin zutreffend geltend macht, aus den besonderen Umständen, die dem Erlaß des Bescheides vorausgegangen sind. Denn der Erlaß des Haftungsbescheides kann nicht ohne Beziehung zu der acht Tage vorher erfolgten Rücknahme des Steuerbescheides gesehen werden. Wenn auch das HZA die Rücknahme des Bescheides nicht begründet hat, so war sie doch eine unmittelbare Folge des Schreibens des Bevollmächtigten der Klägerin, in dem dieser sich auf die Verjährung der Steuerforderung berufen hatte. Wenn das HZA daraufhin den Steuerbescheid zurücknahm und diesen acht Tage später durch einen Haftungsbescheid über denselben Betrag ersetzte, kann dieses Verhalten der Behörde in seinem Zusammenhang nur so verstanden werden, daß das HZA die Steuerforderung als verjährt ansah, die Klägerin nunmehr aber als Haftungsschuldnerin in Anspruch nehmen wollte.
Der Haftungsbescheid des HZA vom 17. August 1972 war rechtswidrig und daher aufzuheben.
Für den Fall, daß ein Bevollmächtigter im Sinne des § 108 AO bei der Ausübung seiner Obliegenheiten eine Steuerhinterziehung begeht, schreibt der dem Haftungsbescheid zugrunde gelegte § 111 Abs. 1 AO vor, daß der Vertretene für die verkürzten Steuereinnahmen haftet. Auch wenn der steuerliche Betriebsleiter der Zweigniederlassung der Klägerin deren Bevollmächtigter im Sinne des § 108 AO war und als solcher eine Steuerhinterziehung begangen hatte, kann die Klägerin nicht nach § 111 Abs. 1 AO als Haftende herangezogen werden, da - wie das FG zutreffend ausgeführt hat - die bereits bei der Entfernung des Heizöls aus dem Herstellungsbetrieb bedingt entstandene Mineralölsteuerschuld auf sie übergegangen war und durch die bestimmungswidrige Verfügung des Bevollmächtigten in ihrer Person unbedingt wurde, sie also Steuerschuldnerin war. Denn wer die von seinem Bevollmächtigten verkürzten Steuereinnahmen selbst schuldet, kann nicht mehr durch § 111 Abs. 1 AO verpflichtet werden, für sie zu haften.
Unter "haften" im Sinne des § 111 Abs. 1 AO kann nur die Pflicht verstanden werden, für eine fremde Steuerschuld einzustehen. Das ergibt sich aus § 97 Abs. 1 und 2 AO. Gemäß dem Wesen der Steuer als einer durch Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes geschuldeten Geldleistung (vgl. § 1 AO, § 3 Abs. 1 StAnpG) bezeichnet § 97 Abs. 1 AO als Steuerpflichtigen im Sinne der AO denjenigen, der nach den Steuergesetzen eine Steuer als Steuer schuldner zu entrichten hat. Nach § 97 Abs. 2 AO gelten die Vorschriften für den Steuerpflichtigen, also für den Steuer schuldner (§ 97 Abs. 1 AO) nur sinngemäß auch für denjenigen, der nach den Steuergesetzen neben dem Steuerschuldner oder an dessen Stelle haftet. Durch § 97 Abs. 1 und 2 AO kommt somit zum Ausdruck, daß im Steuerrecht die Auferlegung der von einem Steuer schuldner zu erbringenden Geldleistung im Vordergrund steht, daß die Haftung für diese Geldleistung gegenüber der Steuerschuld nur eine Hilfsfunktion hat und daß die Haftung nur solchen Personen obliegen kann, die die Geldleistung nicht selbst als Steuerschuldner zu erbringen haben. Die gegenüber der Steuerschuld zurücktretende Bedeutung der steuerrechtlichen Haftung und die Unvereinbarkeit der Stellung des Steuerschuldners mit der des Haftenden ergibt sich auch aus § 149 AO, der für den Fall der Verjährung des Anspruchs gegen den Abgabenpflichtigen (= Steuerschuldner) bestimmt, daß der neben diesem Haftende nur noch in Anspruch genommen werden kann, wenn die Haftung ihm gegenüber durch Haftungsbescheid geltend gemacht worden ist oder ihm selbst eine Steuerhinterziehung oder -hehlerei zur Last fällt.
Das vom Gesetzgeber durch die §§ 97 und 149 AO bestimmte Verhältnis zwischen der Steuerschuld und der Haftung kann nicht mit dem Hinweis auf den Wortlaut des § 112 AO in Zweifel gezogen werden. Diese Vorschrift bestimmt, daß derjenige, der eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht, für den Betrag, in dessen Höhe Steuereinnahmen verkürzt oder Steuervergünstigungen zu Unrecht gewährt oder belassen werden, "haftet, auch wenn er nicht Steuerschuldner ist". Diese Ausdrucksweise beruht nur dem Scheine nach auf der Vorstellung, der Steuerschuldner könne zugleich auch Haftender sein. Sie ist in Wirklichkeit darauf zurückzuführen, daß die ursprüngliche Fassung dieser durch das Gesetz zur Änderung des Tabaksteuergesetzes (Art. VII Nr. 3) vom 22. Dezember 1929 (RGBl I 1929, 234) in die AO eingefügten Vorschrift:" . . . haftet, soweit er nicht Steuerschuldner ist ...", zu der Forderung des RFH im Urteil vom 25. Januar 1933 IV A 70/32 (Mrozek-Kartei, Reichsabgabenordnung 1931, § 112, Rechtssprüche 5, 6) geführt hatte, es müsse festgestellt werden, daß der Hinterzieher nicht Steuerschuldner sei (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. - 6. Aufl., § 112 AO Rdnr. 1). Im übrigen gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, daß die erst nachträglich in die Reichsabgabenordnung eingefügte Vorschrift des § 112, die bereits durch §§ 97 und 111 geschaffene Rechtslage ändern wollte.
Der erkennende Senat hält damit an seiner bereits im Urteil VII R 34/68 vertretenen Auffassung fest, daß ein Steuerpflichtiger, der eine Abgabe als Steuerschuldner zu entrichten hat, für diese selbe Abgabe nicht zugleich auf Grund des § 111 Abs. 1 AO haften kann.
Fundstellen
Haufe-Index 72216 |
BStBl II 1977, 255 |
BFHE 1977, 329 |