Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen den Inhalt der Akten als Verfahrensfehler
Leitsatz (NV)
Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten stellt dann einen Verfahrensfehler dar, wenn das Finanzgericht seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der schriftlich festgehaltenem Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Mit Bescheid vom 27. November 1996 erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) Einkommensteuerbeträge und Nebenabgaben in Höhe von insgesamt … DM aus persönlichen Billigkeitsgründen. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war in den Jahren 1982 bis 1986 (Streitjahre) als selbständiger Unternehmer tätig. Seine Ehefrau betrieb während dieser Zeit ein Einzelhandelsgeschäft. Aus diesen Tätigkeiten resultierten im November 1996 Umsatzsteuerrückstände (einschließlich Nebenabgaben) in Höhe von insgesamt … DM. Außerdem bestanden Einkommensteuerrückstände der Eheleute.
Anläßlich einer Vorsprache am 14. November 1996 informierte die Ehefrau des Klägers das FA darüber, daß ihr Ehemann seit Anfang des Jahres arbeitslos sei und auch sie keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehe. Da ihrem Haushalt zudem fünf Kinder angehörten, sei eine Tilgung der Steuerrückstände nicht möglich. Sie bat um den Erlaß oder einen Teilerlaß der bestehenden Rückstände. Das FA sagte den Erlaß der Rückstände für den Fall zu, daß die Eheleute auf die Gesamtrückstände eine Zahlung von … DM leisteten. Der von dem steuerlichen Berater des Klägers zur Verfügung gestellte Betrag wurde verabredungsgemäß auf die Steuerrückstände des Klägers und auf die der Ehefrau des Klägers verbucht. Das FA sprach daraufhin den Erlaß aus.
Gemeinsam mit seiner Ehefrau erwarb der Kläger durch notariellen Vertrag vom 15. November 1996 das Eigentum an einem Hausgrundstück in B zum Kaufpreis von … DM. Die Finanzierung sollte durch Bankdarlehen erfolgen. Einen Teil des Geldes sollte der Vater der Ehefrau zur Verfügung stellen. Der Vater beantragte einen Kredit bei der Kreissparkasse.
Nachdem das FA von dem Grundstückserwerb Kenntnis erlangt hatte, widerrief es mit Verfügung vom 8. Januar 1997 den ausgesprochenen Erlaß gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO 1977). Zur Begründung ―auch der Zurückweisung des Einspruchs― verwies das FA auf den Kauf des Grundstücks.
Der Klage, zu deren Begründung der Kläger darauf hingewiesen hatte, daß der Kaufvertrag erst nach der Vorsprache an Amtsstelle abgeschlossen und dessen Abschluß überhaupt nur durch den vom FA ausgesprochenen Teilverzicht ermöglicht worden sei, gab das Finanzgericht (FG) statt. Es war der Auffassung, das FA sei zum Widerruf des ausgesprochenen Erlasses nicht befugt gewesen. Nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 könne ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründe, nur dann zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben bewirkt habe, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gewesen seien. Daß die Ehefrau des Klägers bei der Vorsprache an Amtsstelle unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht habe, sei nicht ersichtlich. Die fehlende Mitteilung über den bevorstehenden Grundstückskauf rechtfertige keine Zurücknahme. Der Steuererlaß sei aus persönlichen Billigkeitsgründen erfolgt. Bei der Frage, ob ein Steuererlaß aus persönlichen Gründen zu erfolgen habe, sei auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse desjenigen, der den Erlaß begehre, abzustellen. Dies habe das FA seinerzeit auch getan. Durch den Hauserwerb sei keine Änderung der Vermögenssituation des Klägers bzw. seiner Familie eingetreten; denn er sei durch Aufnahme von Fremdmitteln ermöglicht worden. Der Grundstückserwerb sei für die Frage der Erlaßsituation nicht entscheidungserheblich.
Ebenfalls nicht entscheidungserheblich sei, ob der Kläger im Anschluß an den Erwerb die steuerliche Förderung nach dem Eigenheimzulagengesetz (EigZulG) in Anspruch nehme. Einerseits sei diese Inanspruchnahme nicht zwingend. Zum anderen diene die Eigenheimzulage der Förderung familiengerechten Wohnens im eigenen Wohneigentum. Dieser Förderungszweck würde tangiert, wenn ein in die Zukunft gerichteter Anspruch auf die Eigenheimzulage dem Erlaß von Steuern aus persönlichen Gründen entgegenstünde. Mithin sei die Frage, ob der Kläger in Zukunft die Eigenheimzulage beantrage, nicht wesentlich i.S. von § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977.
Hiergegen richtet sich die Revision des FA, zu deren Begründung es u.a. vorträgt: Das FG habe unter Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten entschieden und damit § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verletzt. Entgegen den Ausführungen des FG seien die Angaben des Klägers, die zum Erlaß der Steuerschulden geführt hätten, unrichtig und unvollständig gewesen. Das FG halte das Verschweigen des bei der Antragstellung unmittelbar bevorstehenden Grundstückserwerbs nicht für wesentlich, da sich die Vermögenslage aufgrund des Hauserwerbs nach dem erfolgten Erlaß nicht von der vor dem Erlaß unterscheide, weil die erworbene Immobilie zu 100 v.H. fremdfinanziert worden sei. Das FG gehe dabei davon aus, daß neben einem Kredit der X-Bank dem Kläger von dessen Schwiegervater … DM darlehensweise überlassen worden seien. Das könne den Akten nicht entnommen werden. Vielmehr habe nach Lage der Dinge der Schwiegervater des Klägers seinerseits ein Darlehen über … DM bei der Kreissparkasse aufgenommen und dieses Geld dem Kläger und seiner Ehefrau für die Anzahlung auf den Kaufpreis zur Verfügung gestellt. Daß dies darlehensweise geschehen sei, habe der Kläger weder vorgetragen noch nachgewiesen. Da Angaben über eine Darlehensvereinbarung nicht vorlägen, könne ebenso angenommen werden, daß insoweit eine Schenkung gegeben sei, was eine Vermögensmehrung bedeute. Dieser für die Vermögenslage des Klägers und seiner Ehefrau bedeutsame Sachverhalt sei vom FG nicht genau ermittelt worden. Das Unterlassen der Sachaufklärung stelle einen Verfahrensmangel dar, auf dem das Urteil beruhe. Die Tatsache, daß der Kläger im Zeitpunkt des Erlaßantrages eine Schenkung von seinem Schwiegervater erwarten durfte, hätte ausgereicht, seine Erlaßbedürftigkeit zu verneinen.
Unabhängig davon führe auch die Inanspruchnahme der Eigenheimzulage zu einer Veränderung der Vermögensverhältnisse des Klägers, da er in dieser Höhe eine Forderung erhalte, die mit Steuerrückständen aufgerechnet werden könnte. Die Erlaßbedürftigkeit, Voraussetzung für einen Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen, bestehe regelmäßig darin, daß im Fall der Versagung eines Erlasses die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet sei. Mit Hilfe einer als Steuergutschrift ausgezahlten Eigenheimzulage werde jedoch die wirtschaftliche Existenz umgehend durch öffentliche Mittel erheblich verbessert.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Der vom FA gerügte Verfahrensmangel liegt vor.
Die in den Einwand des Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten gekleidete Rüge des FA ist als Rüge der Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO zu werten (Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 17. Februar 1966 V 220/63, BFHE 85, 60, BStBl III 1966, 233; vom 9. Oktober 1985 I R 163/82, BFH/NV 1986, 288, und vom 6. Dezember 1978 I R 131/75, BFHE 126, 379, BStBl II 1979, 162). Danach hat das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten.
Die Vorentscheidung beruht auf der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung des FG, die fehlende Mitteilung über den bevorstehenden Grundstückskauf rechtfertige die Rücknahme der Erlaßverfügung vom 27. November 1996 nicht. Denn die bei Stellung des Erlaßantrages unterlassenen Angaben seien für die Frage nach der Einkommens- und Vermögenslage des Klägers und seiner Familie für den aus persönlichen Billigkeitsgründen ausgesprochenen Erlaß nicht erheblich gewesen, da der Erwerb des Grundstücks vollständig fremdfinanziert worden sei und so zu keiner Änderung der Vermögenssituation des Klägers geführt habe. Das FG ist dabei davon ausgegangen, daß der Schwiegervater des Klägers die zur Verfügung gestellten Gelder nur darlehensweise hingegeben habe. Wie jedoch das FA zutreffend vorgetragen hat, ist ein derartiger Sachverhalt den Akten nicht zu entnehmen und ―da keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat― auch sonst nicht angesprochen worden. Möglich ist nämlich auch, daß der Schwiegervater dem Kläger und seiner Familie den Geldbetrag geschenkt und somit zu einer Verbesserung der damaligen Vermögenssituation beigetragen hat. Die Art der Hingabe dieses Geldes hätte einer weiteren Aufklärung durch das FG bedurft, da anzunehmen ist, daß das FA im Falle der Schenkung des Geldbetrages bei vollständiger Kenntnis der damaligen finanziellen Situation des Klägers die Steuerrückstände des Klägers nicht oder nicht in der erfolgten Höhe erlassen hätte.
Wegen dieses Verfahrensmangels geht die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Als Revisionsgericht ist der BFH auf die Prüfung des Verfahrensfehlers beschränkt, wenn ein solcher geltend gemacht wird und durchgreift (BFH-Urteil vom 17. Oktober 1990 I R 118/88, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242).
Sollte die Sachaufklärung im 2. Rechtsgang ergeben, daß die … DM dem Kläger und seiner Ehefrau vom Vater der Ehefrau nur darlehensweise zur Verfügung gestellt worden sind, könnte für die Erlaßsituation der durch den Hauskauf begründete Anspruch auf Eigenheimzulage ausschlaggebend sein. Hierzu weist der Senat ohne Bindungswirkung vorsorglich darauf hin, daß der in die Zukunft gerichtete Anspruch auf Eigenheimzulage entgegen der Auffassung des FG nicht generell unerheblich für die Erlaßsituation ist. Dies zeigt sich schon darin, daß kein allgemeines Aufrechnungsverbot mit Steuerrückständen besteht (§ 15 EigZulG i.V.m. §§ 37 Abs. 1 und 226 AO 1977).
In Anlehnung an die Grundsätze des Sozialrechts und unter Berücksichtigung des § 88 Abs. 2 Nr. 7 des Bundessozialhilfegesetzes steht der Anspruch auf die Eigenheimzulage allerdings dann dem Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen nicht entgegen, wenn die Aufrechnung mit Steuerrückständen dazu führen würde, daß ein angemessenes Eigenheim des oder der Anspruchsberechtigten nicht mehr gehalten werden könnte, sondern aufgegeben werden müßte.
Fundstellen
Haufe-Index 302327 |
BFH/NV 1999, 1465 |