Leitsatz (amtlich)
Eine offenbare Unrichtigkeit i. S. des § 92 Abs. 2 AO kommt nur bei mechanischen Versehen in Betracht. Sie ist daher nicht nur ausgeschlossen bei Denkfehlern, die sich auf die unmittelbare Rechtsanwendung beziehen, sondern auch bei Fehlern, die auf mangelnder Sachaufklärung oder auf der Nichtbeachtung feststehender Tatsachen bei der Entscheidung beruhen.
Normenkette
AO § 92 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob der gegen die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) gerichtete einheitliche Gewerbesteuermeßbescheid 1967 nach § 92 Abs. 2 AO i. d. F. des Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung vom 6. Oktober 1965 (BGBl I 1965, 1477, BStBl I 1965, 564) berichtigt werden konnte.
Die Klägerin, eine GmbH & Co. KG, erwarb zum 1. Januar 1965 einen Druckereibetrieb gegen Gewährung von Leibrenten an die bisherigen Inhaber. In der nach einer entsprechenden Beanstandung durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (FA) berichtigten Eröffnungsbilanz auf den 1. Januar 1965 wies die Klägerin diese Rentenverpflichtung als Betriebsschuld mit einem Kapitalwert von 446 836 DM aus; in der Schlußbilanz zum 31. Dezember 1965 wurde der Kapitalwert der Rentenverpflichtung mit 431 813 DM, zum 31. Dezember 1966 mit 344 946 DM und zum 31. Dezember 1967 mit 320 531 DM angesetzt. Die Gewinn- und Verlustrechnungen wiesen die Rentenzahlungen als Aufwand aus, denen die jeweilige Minderung der Rentenverpflichtung als Ertrag gegenübergestellt wurde.
Bei der (endgültigen) Veranlagung des Gewerbesteuermeßbetrags 1965 rechnete das FA den Betrag, um den die von der Klägerin geleisteten Rentenzahlung den Auflösungsbetrag aus der Minderung der Rentenverpflichtung überstieg, nach § 8 Nr. 2 GewStG dem Gewinn aus Gewerbebetrieb hinzu. Bei der Ermittlung des Gewerbesteuermeßbetrags 1966 unterblieb eine Zurechnung, weil die Minderung der Rentenverpflichtung höher war als die Rentenzahlungen dieses Jahres; in der Gewerbesteuererklärung 1966 hatte die Klägerin die Spalte für Angaben über mit dem Betriebserwerb zusammenhängende Renten mit Strichen versehen. Auch die Gewerbesteuererklärung 1967 enthielt in der für die Hinzurechnungsbeträge für Renten vorgesehenen Zeile keinen Eintrag. Eine Hinzurechnung für Renten nahm das FA zunächst nicht vor. Erst nachdem der Gewerbesteuermeßbescheid 1967 vom 16. Juli 1969 unanfechtbar geworden war, erließ es am 4. Februar 1970 einen auf § 92 Abs. 2 AO gestützten Berichtigungsbescheid, in dem es die Differenz in Höhe von 37 885 DM zwischen der in 1967 geleisteten Rentenzahlung und dem Auflösungsbetrag aus der Minderung der Rentenverpflichtung zum 31. Dezember 1967 dem Gewinn aus Gewerbebetrieb der Klägerin zurechnete; der einheitliche Gewerbesteuermeßbetrag erhöhte sich dadurch von 1 186 DM auf 3 081 DM. In der Einspruchsentscheidung vom 6. Oktober 1970 schloß sich das FA zwar den Ausführungen der Klägerin in ihrem Einspruchsschreiben an, daß eine offenbare Unrichtigkeit i. S. des § 92 Abs. 2 AO nicht vorliege, stützte die Änderung jedoch auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FA, so führte das FG aus, habe zwar die Berichtigung des Gewerbesteuermeßbescheids 1967 nicht auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO stützen können. Insoweit fehle es angesichts der Ermittlungspflicht des FA an einer neuen Tatsache. Die Rentenzahlungen (Aufwand) und die Verringerung des Passivpostens Rentenverpflichtung (Ertrag) seien in der Verlust- und Gewinnrechnung 1967 nach Grund und Höhe ausdrücklich dargestellt gewesen. Die Berichtigung sei jedoch durch § 92 Abs. 2 AO gedeckt. Die Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen Veranlagung beruhe auf dem Übersehen des Hinzurechnungsbetrags, der sich eindeutig aus der Verlust- und Gewinnrechnung ergebe. Dieses Übersehen stelle sich als ein dem Schreib- oder Rechenfehler ähnliches mechanisches Versehen dar. Jegliche Möglichkeit eines Fehlers in der Tatsachenwürdigung oder Rechtsanwendung scheide aus. Das FA habe den Hinzurechnungsbetrag schon bei der Veranlagung 1965 zutreffend angesetzt; die Hinzurechnung als solche sei auch zwischen den Beteiligten weder damals noch später streitig gewesen. Daraus ergebe sich, daß das Unterlassen der Hinzurechnung im Streitjahr nicht auf einer rechtsfehlerhaften Beurteilung des Sachverhalts durch das FA beruhe. Die Unrichtigkeit sei auch offenbar gewesen, weil aufgrund der bisherigen, zwischen den Beteiligten einvernehmlichen Sachbehandlung für die Aufdeckung des Fehlers keine neuen rechtlichen Überlegungen anzustellen gewesen seien.
Mit der Revision beantragt die Klägerin, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung vom 6. Dezember 1970 sowie den Gewerbesteuermeßbescheid für 1967 vom 4. Februar 1970 ersatzlos aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Berichtigung des Gewerbesteuermeßbescheids 1967 vom 16. Juli 1969 war weder nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO - wie das FG zu Recht ausgeführt hat - noch, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, nach § 92 Abs. 2 AO zulässig.
Nach § 92 Abs. 2 AO können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten nach Bekanntgabe des Steuerbescheids berichtigt werden, auch wenn der Steuerbescheid bereits bestandskräftig geworden ist. Unter den Begriff der einem Schreib- oder Rechenfehler "ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit" fallen nach der Rechtsprechung des BFH nicht die unrichtige Tatsachenwürdigung und die Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsvorschrift. Besteht die Möglichkeit eines Rechtsirrtums, so ist § 92 Abs. 2 AO nicht anwendbar (BFH-Urteil vom 31. Juli 1975 V R 121/73, BFHE 116, 462, BStBl II 1975, 868, mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz berechtigt der Umstand, daß rechtliche Zweifel über den nach § 8 Nr. 2 GewStG gebotenen Ansatz der Rentenzahlungen ausgeschlossen waren, nicht zur Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit. Die Abgrenzung des Begriffs "offenbare Unrichtigkeit" durch den BFH (vgl. die zitierte Entscheidung V R 121/73) dahin, daß die Möglichkeit eines Rechtsirrtums die Anwendung des § 92 Abs. 2 AO ausschließe, besagt nicht, daß alle anderen Fehler unter § 92 Abs. 2 AO fielen. Wie sich aus den in § 92 Abs. 2 AO als Beispielsfälle der berichtigungsfähigen offenbaren Unrichtigkeiten angeführten Schreib- und Rechenfehler ergibt, muß es sich bei den offenbaren Unrichtigkeiten um Versehen handeln, die grundsätzlich nichts mit einem Überlegen und Prüfen zu tun haben; daraus ergibt sich nicht, daß nur Fehler bei der Beurteilung von Rechtsfragen von einer Berichtigung nach § 92 Abs. 2 AO ausgeschlossen seien. Offenbare Unrichtigkeiten liegen auch dann nicht vor, wenn Denkfehler unterlaufen, die sich nicht auf die unmittelbare Rechtsanwendung beziehen, oder wenn die Fehler auf mangelnder Sachaufklärung oder auf der Nichtberücksichtigung feststehender Tatsachen bei der Entscheidung beruhen. Derartige Fehler gehören in den Regelungsbereich des § 222 AO. Als "offenbare" Unrichtigkeiten kommen nur mechanische Versehen in Betracht, die ebenso "mechanisch", d. h. ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden können (vgl. BFH-Urteil V R 121/73); etwas anderes ist auch dem vom FG zitierten Urteil des BFH vom 25. Februar 1972 VIII R 141/71 (BFHE 105, 234, BStBl II 1972, 550) nicht zu entnehmen.
Im Streitfall liegt ein derartiger mechanischer Fehler nicht vor. Vielmehr ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen, daß das FA nicht lediglich übersehen hat, den Hinzurechnungsbetrag in den Gewerbesteuermeßbescheid aufzunehmen, sondern daß es den Ansatz unterlassen hat, weil es aufgrund mangelhafter Überprüfung der von der Klägerin eingereichten Unterlagen nicht erkannt hat, daß eine Hinzurechnung vorzunehmen gewesen wäre.
Nach § 8 Nr. 2 GewStG sind bei der Ermittlung des Gewerbeertrags die Renten hinzuzurechnen, soweit sie bei der Ermittlung des Gewinns (§ 7 GewStG) abgesetzt worden sind. Da sich die Verminderung des in der Bilanz zu passivierenden Kapitalwerts der Renten und die laufenden Rentenzahlungen zum Teil gegenseitig ausgleichen, kommt es nur dann und insoweit zu einer Hinzurechnung, als die laufende Rentenzahlung höher ist als die Verminderung des Passivpostens. Ist die Verminderung des Passivpostens ebenso hoch wie oder höher als die laufende Rentenzahlung, dann ist für eine Hinzurechnung kein Raum. Da dem FA bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags 1967 aufgrund der eingereichten Unterlagen und der Erklärungen 1965 und 1966 der Klägerin bekannt war oder zumindest hätte bekannt sein müssen (vgl. § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO), daß Renten i. S. des § 8 Nr. 2 GewStG vorlagen, die Bilanz bzw. die Verlust- und Gewinnrechnung der Klägerin zum 31. Dezember 1967 jedoch lediglich die Angabe des Auflösungsbetrags und der geleisteten Rentenzahlungen enthielt, hätte das FA diese Angaben der Klägerin dahin gehend überprüfen müssen, ob der Saldo aus den geleisteten Rentenzahlungen und dem Auflösungsbetrag zu einem Hinzurechnungsbetrag führt. Wenn diese Überprüfung aufgrund der vorliegenden Tatsachen auch ohne weiteres möglich gewesen wäre, so genügt dies nicht für die Annahme, der Nichtansatz des Hinzurechnungsbetrags beruhe auf einer offenbaren Unrichtigkeit i. S. eines mechanischen Versehens. Denn der Ansatz des Hinzurechnungsbetrags bedurfte eben der genannten Überprüfung der von der Klägerin eingereichten Unterlagen und der dargestellten Überlegungen durch den zuständigen Beamten. Auch die Tatsache, daß bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags für den Erhebungszeitraum 1966 ein Hinzurechnungsbetrag nicht angesetzt worden war, weil die Verminderung des Passivpostens die laufenden Rentenzahlungen überstiegen hatte, spricht gegen die Annahme eines bloßen Versehens bei der Veranlagung 1967. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, daß das FA von einer Prüfung aufgrund der (falschen) Überlegung abgesehen hat, gegenüber 1966 habe sich in 1967 nichts geändert. Die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung bestätigen dies. Danach hat das FA erst aufgrund der Steuererklärung 1968 und der Bilanz zum 31. Dezember 1968 sowie der dabei durchgeführten Rückrechnung des Bilanzpostens "Rentenverpflichtung" erkannt, daß der Gewinn 1967 um Renten gemindert worden war, ohne daß ein Hinzurechnungsbetrag in der Gewerbesteuererklärung enthalten war. Damit seien dem FA "neue Tatsachen" bekanntgeworden. Zu Recht hat das FG dazu ausgeführt, daß das FA sich auf die Neuheit dieser Tatsachen nicht berufen könne, weil es seine Ermittlungspflicht verletzt habe. Mangelte es aber an ausreichender Sachaufklärung, so kommt eine Berichtigung nach § 92 Abs. 2 AO nicht in Frage.
Fundstellen
Haufe-Index 72485 |
BStBl II 1977, 853 |
BFHE 1978, 393 |
NJW 1977, 2183 |