Leitsatz (amtlich)
Prozeßzinsen sind im Fall einer erfolglosen Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid vom Zeitpunkt der Rechtshängigkeit an auch dann zu entrichten, wenn die Vollziehung des Bescheids im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren gemäß § 242 Abs. 2 AO ausgesetzt worden war.
Normenkette
FGO § 112 Abs. 1-2, § 69; AO § 242 Abs. 2
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) forderte mit Bescheid vom 24. April 1975 von der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) Zinsen gemäß § 112 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für Abschöpfungsbeträge, deren Vollziehung ausgesetzt war, ab Rechtshängigkeit bis zum wirksamen Widerruf. Das Zollamt (ZA) B hatte mit vier Steuerbescheiden aus dem Jahre 1969 von der Klägerin Abschöpfung erhoben und, nachdem die Klägerin Einsprüche eingelegt hatte, die Vollziehung der Bescheide am 5. März und 11. Juni 1969 unter dem Vorbehalt des Widerrufs ausgesetzt. Diese Maßnahme war vom HZA am 29. Januar 1973 aufgehoben worden. Das HZA wies die Einsprüche als unbegründet zurück. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit rechtskräftigem Urteil vom 29. Januar 1975 ab.
Nach erfolglosem Einspruch wies das FG Bremen die Klage gegen den Zinsbescheid durch Urteil vom 15. Januar 1976 II 99/75 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1976 S. 243 - EFG 1976, 243 -) ab. Es führte aus, es genüge für die Zinspflicht, wenn die Vollziehung ausgesetzt worden sei, gleich ob durch das Gericht oder die Behörde, ob vor oder nach Klageerhebung, ob auf Antrag oder von Amts wegen. Die Aussetzung der Vollziehung im Rahmen eines außergerichtlichen Rechtsbehelfs nach § 242 der Reichsabgabenordnung (AO) reiche aus, wenn sie noch während der Rechtshängigkeit wirksam gewesen und der Abgabenbetrag während dieser Aussetzung nicht entrichtet worden sei. Da es im außergerichtlichen Verfahren keine dem § 112 FGO vergleichbare Bestimmung gebe, müsse allerdings zwischen der Aussetzung der Vollziehung und der Anfechtungsklage ein Zusammenhang bestehen. Dies sei der Fall, wenn eine im Vorverfahren bewilligte Aussetzung der Vollziehung darüber hinaus auch während des Klageverfahrens fortwirke. Setze die Behörde im Einspruchsverfahren die Vollziehung unbefristet widerruflich aus, so bringe sie damit zum Ausdruck, daß diese Maßnahme nicht nur für die Dauer des Einspruchsverfahrens gelten solle, sondern auch für ein folgendes Klageverfahren. § 112 FGO setze keine Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO im Zusammenhang mit einer Anfechtungsklage voraus, sondern verlange nur die Tatsache der Aussetzung der Vollziehung, nicht aber eine bestimmte Art der Vollziehungsaussetzung. § 112 Abs. 1 FGO enthalte nur die Tatbestandsvoraussetzungen für das Entstehen einer Aussetzungszinsschuld. Damit habe aber der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit nichts zu tun. Folge man der Ansicht der Klägerin, so müßte die Behörde nach der unbefristet bewilligten Aussetzung der Vollziehung nach § 242 AO diese bei erhobener Anfechtungsklage widerrufen und gleichzeitig nach § 69 FGO erneut gewähren. In jedem Fall blieben die rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen (hinausgeschobene Fälligkeit der Steuerschuld, daraus entspringender Zinsvorteil für den Schuldner und Zinsverlust für den Fiskus) die gleichen.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend, die Vorentscheidung widerspreche der herrschenden Meinung. Zwischen dem Verfahren nach § 242 AO, das die Aussetzung vollziehbarer Verwaltungsakte betreffe, und dem Verfahren nach § 69 FGO, das die Aussetzung angefochtener vollziehbarer Verwaltungsakte betreffe, müsse streng unterschieden werden, da nur für das letztgenannte Verfahren eine Zinsregelung getroffen sei. Der Steuerpflichtige könne daher gemäß § 112 FGO nur dann zur Zahlung von Aussetzungszinsen herangezogen werden, wenn ihm die Aussetzung der Vollziehung für das finanzgerichtliche Verfahren gewährt worden sei. Der Tatbestand des § 112 FGO setze daher denknotwendig eine entsprechende Aussetzungsverfügung voraus. Er könne nicht auf die Fälle angewendet werden, in denen dem Steuerpflichtigen die Aussetzung der Vollziehung nach § 242 AO gewährt worden sei. Wirke diese noch während des Klageverfahrens tatsächlich fort, so sei ihm nicht die "Wohltat" des § 69 Abs. 2 und 3 FGO für das Klageverfahren gewährt worden.
Sie habe zwar seinerzeit beantragt, die Vollziehung bis zum rechtskräftigen Abschluß des Rechtsmittelverfahrens ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. Da aber im Zeitpunkt der Einsprüche noch nicht zu übersehen gewesen sei, ob es zu einem Klageverfahren kommen werde, ergebe sich aus dieser Formulierung lediglich, daß sie die Aussetzung der Vollziehung für die Dauer des außergerichtlichen Verfahrens begehrt habe. Aber auch wenn man die Anträge dahin verstehe, daß die Aussetzung der Vollziehung sich auf das möglicherweise anschließende Klageverfahren habe erstrecken sollen, ändere dies nichts daran, daß das ZA den so verstandenen Anträgen gerade nicht stattgegeben und die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zum rechtskräftigen Abschluß des Klageverfahrens gewährt habe. Das ZA habe vielmehr die Vollziehung lediglich unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs ausgesetzt und damit nicht einmal die beantragte Aussetzung der Vollziehung für die Dauer des außergerichtlichen Verfahrens vollen Umfangs gewährt. Es habe ihr auch nicht eine einer Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 2 FGO entsprechende Position eingeräumt.
Die Klägerin beantragt, unter Abänderung der Vorentscheidung den Zinsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das HZA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Nach dem hier noch maßgeblichen § 112 Abs. 1 und 2 FGO sind für den geschuldeten Abgabenbetrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung ausgesetzt wurde, vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Ende der Aussetzung der Vollziehung Prozeßzinsen nach § 5 des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG) zu entrichten, soweit eine Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt der in § 229 AO bezeichneten Art oder eine Einspruchsentscheidung rechtskräftig abgewiesen worden ist. Aus diesem Wortlaut kann nicht entnommen werden, daß die Vollziehung des Abgabenbetrags nur auf der Rechtsgrundlage des § 69 Abs. 2 oder 3 FGO ausgesetzt worden sein müsse. Vielmehr wird die Zinspflicht lediglich an die Tatsache geknüpft, daß die Vollziehung während des Klageverfahrens, und zwar frühestens ab Rechtshängigkeit, ausgesetzt worden ist. Demnach kommt es nicht darauf an, ob das FG die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 FGO oder die Behörde die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 242 Abs. 2 AO oder nach § 69 Abs. 2 FGO bewilligt hat, wie das FG zutreffend entschieden hat.
Insbesondere kann aus der gesonderten Regelung der Aussetzung der Vollziehung in § 242 Abs. 2 AO und in § 69 Abs. 2 und 3 FGO nicht hergeleitet werden, daß der Steuerpflichtige nur dann zur Zahlung von Aussetzungszinsen herangezogen werden könnte, wenn ihm die Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO gewährt worden ist. Denn in der Zinsvorschrift des § 112 FGO wurde lediglich die materiell-rechtliche Folge einer Aussetzung für die Zeit zwischen der Rechtshängigkeit der Anfechtungsklage und dem Ende der Aussetzung der Vollziehung geregelt. Als materiell-rechtliche Vorschrift hätte sie systemgerecht von vornherein in das Steuersäumnisgesetz gehört, wie die vergleichbare Vorschrift für die Prozeßzinsen des Zivilprozesses in § 291 BGB enthalten ist (s. Teichner, Finanz-Rundschau 1966 S. 303 - FR 1966, 303 -, Fußnote 9). Sie ist erst durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes (3. StBerÄndG) vom 24. Juni 1975 (BGBl I, 1509 [1532, 1533]) in das Steuersäumnisgesetz als § 4 c inhaltlich aus der Finanzgerichtsordnung übernommen worden. Der ursprünglich nicht systemgerechte Standort der Zinsvorschrift in der Finanzgerichtsordnung kann an ihrer materiell-rechtlichen Natur nichts ändern, also auch nicht etwa - wie die Klägerin meint - eine Wechselbeziehung zwischen § 69 und § 112 FGO mit der Folge begründen, daß nur die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO eine Zinspflicht nach § 112 FGO auslösen könnte. Denn § 112 FGO stellt nicht darauf ab, aus welchem Grund und auf Grund welcher Vorschrift die Aussetzung der Vollziehung gewährt wurde. Es handelt sich um eine Sonderregelung für Prozeßzinsen, die lediglich insoweit an die Aussetzung der Vollziehung - unabhängig von ihrem Rechtsgrund - anknüpft, als die Vollziehung der mit der Anfechtungsklage angegriffenen Abgabenforderung (auch) für die Zeit ab Rechtshängigkeit - und nicht etwa nur für das Einspruchsverfahren gemäß § 242 Abs. 2 AO - ausgesetzt worden ist.
Diese Auslegung des § 112 FGO nach dem Wortlaut entspricht auch dem mit der Verzinsung verfolgten Gesetzeszweck. Im Falle der Aussetzung der Vollziehung eines Abgabenbescheides erhält der Steuergläubiger den Abgabenbetrag nicht schon bei Fälligkeit, sondern erst nach Ablauf der Aussetzung der Vollziehung. Durch die Verzinsung sollen die dadurch entstehenden Zinsvorteile des Steuerpflichtigen und der Zinsverlust des Steuergläubigers ausgeglichen werden (s. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., StSäumG § 4 c Anm. 1). Mit anderen Worten soll die Zahlung der Abgaben nicht zinslos dadurch hinausgeschoben werden, daß eine Anfechtungsklage ohne ernsthafte Erfolgsaussichten erhoben wird (s. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., FGO § 112 Anm. 1, StSäumG § 4 c Anm. 1). Umgekehrt war durch § 111 FGO bzw. § 4 b StSäumG gewährleistet, daß Prozeßzinsen auch zugunsten des Steuerschuldners gezahlt werden, soweit eine festgesetzte und bezahlte Abgabenschuld durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt wird. Tatsächlich wirkt sich eine Aussetzung der Vollziehung nach § 242 Abs. 2 AO, die für das Klageverfahren aufrechterhalten wird, und eine auf § 69 FGO gestützte Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich des Zinsvorteils des Steuerpflichtigen und des Zinsnachteils des Steuergläubigers in gleicher Weise aus. Eine unterschiedliche Behandlung der Prozeßzinsen würde gerade dem Zweck der oben angeführten gesetzlichen Regelung, einen Zinsausgleich herbeizuführen und die zinslose Hinausschiebung der Fälligkeit im Falle eines erfolglosen Prozesses zu verhindern, entgegenlaufen. Die Gleichbehandlung kann daher nur sichergestellt werden, wenn lediglich auf objektive Merkmale der Zinspflicht, nämlich die tatsächlich gewährte Aussetzung der Vollziehung ab Rechtshängigkeit bis zum Ende der Aussetzung der Vollziehung (§ 112 Abs. 2 FGO), abgestellt wird.
Im übrigen wäre es ein unsinniges Verlangen, die Behörde, welche die Aussetzung der Vollziehung nach § 242 Abs. 2 AO unbefristet gewährt hat, im Augenblick der Klageerhebung zu zwingen, die gewährte Aussetzung der Vollziehung aufzuheben und im gleichen Zuge die Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO zu bewilligen, um eine Rechtsgrundlage für die Erhebung von Prozeßzinsen zu schaffen.
Der hier vertretenen Ansicht sind auch das FG Hamburg (Beschluß vom 18. Juli 1978 IV 97/78 H, EFG 1978, 607; Urteil vom 15. Februar 1979 IV 96/77 S-H, EFG 1979, 318), Tipke/Kruse (a. a. O., StSäumG § 4 c Anm. 3), Teichner (a. a. O.), Brockhoff/Groh (Finanzgerichtsordnung, § 112 Anm. 2) und Ziemer/Harmann, (Einspruch, Beschwerde und Klage in Steuersachen, 2. Aufl., Bd. I, Rdnr. 1577).
Die von der Klägerin angeführten Kommentarstellen in Becker/Riewald/Koch (Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., Bd. III, § 112 FGO Anm. 3), Hübschmann/Hepp/Spitaler (a. a. O., § 242 Anm. 2), Kühn/Kutter (Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., AO § 242 Anm. 8 und FGO § 112 Anm. 2), Maeder/Mittelsteiner (Finanzgerichtsordnung, § 112 Anm. 2) und Ziemer/Birkholz (Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 112 Anm. 5) halten demgegenüber zwar eine Zinspflicht nur bei einer Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO für gegeben; sie setzen sich aber mit dem Problem nicht auseinander und geben für ihre Meinung keine Begründung.
Im Streitfall war die Aussetzung der Vollziehung vom ZA widerruflich unbefristet bewilligt worden. Sie wirkte auch nach der Erhebung der Anfechtungsklage durch die Klägerin fort und wurde erst vom HZA am 29. Januar 1973 aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie zugunsten der Klägerin auch ab Rechtshängigkeit tatsächlich fortgewirkt und die Zinspflicht automatisch bis zum Ende der Aussetzung der Vollziehung ausgelöst.
Fundstellen
Haufe-Index 73245 |
BStBl II 1979, 712 |
BFHE 1979, 331 |
NJW 1980, 312 |