Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgrenzung der Regelungsbereiche von Steuerverwaltungsakten
Leitsatz (NV)
Die an keine besonderen Voraussetzungen geknüpfte Befugnis des Finanzamts, einen Einkommensteuerbescheid nach § 164 Abs. 2 AO 1977 zu korrigieren, wird (durch § 173 Abs. 2 AO 1977) nicht dadurch eingeschränkt, daß derselbe Sachverhaltskomplex (hier ein Ehegattenarbeitsverhältnis) zuvor schon Gegenstand einer Lohnsteueraußenprüfung war, und zwar mit der Folge, daß das Finanzamt den Vorbehalt der Nachprüfung für die zum Prüfungszeitraum abgegebenen Lohnsteueranmeldungen aufgehoben hatte.
Normenkette
AO 1977 §§ 164, 168 S. 1, § 172 Abs. 1 S. 1, § 173 Abs. 2, § 193; EStG § 36 Abs. 2, § 38 ff., §§ 41a, 42f
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) erließ am 11. April 1989 unter Berufung auf § 193 der Abgabenordnung (AO 1977) i. V. m. § 42 f des Einkommensteuergesetzes (EStG) dem Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) gegenüber, der ein Einzelunternehmen betreibt, eine Anordnung zur Durchführung einer Lohnsteueraußenprüfung für die Zeit vom 1. Januar 1985 bis 31. Dezember 1988, die keine Beanstandungen und keine Nachforderungen ergab. Das FA hob mit Bescheid vom 15. Juni 1989 unter Bezugnahme auf die am 31. Mai 1989 durchgeführte Prüfung den Vorbehalt der Nachprüfung für die in der Zeit vom 1. Januar 1985 bis 31. Dezember 1988 abgegebenen Lohnsteueranmeldungen auf.
Mit Verfügung vom 15. Februar 1991 ordnete das FA unter Berufung auf § 193 Abs. 1 AO 1977 eine allgemeine Außenprüfung für die Jahre 1986 bis 1988 beim Kläger an, die Einkommensteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer umfaßte und u. a. (vgl. Tz. 33 g des Prüfungsberichts vom 4. Februar 1992) zu folgender Feststellung des Prüfers führte:
"Das Ehegatten-Arbeitsverhältnis kann steuerrechtlich nicht anerkannt werden. Nach den Feststellungen der Bp ist trotz Bestehens eines eigenen Kontos der Ehefrau der Aushilfslohn auf ein Konto überwiesen worden, über das jeder der beiden Ehegatten verfügungsberechtigt ist."
Das FA schloß sich dieser Ansicht an und änderte unter Berufung auf § 164 Abs. 2 AO 1977 die gegenüber dem Kläger und seiner mit ihm zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Ehefrau, der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), erlassenen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 1986 bis 1988 entsprechend ab. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde gemäß § 164 Abs. 3 AO 1977 aufgehoben.
Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte nur insoweit Erfolg, als die für die Klägerin angemeldeten und abgeführten Lohnsteuer- und Kirchensteuerbeträge als Betriebsausgaben anerkannt wurden. Im übrigen wurde der Rechtsbehelf als unbegründet zurückgewiesen.
Der darauf erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt. Es war der Meinung, die vom Bundesfinanzhof (BFH) im Urteil vom 15. Mai 1992 VI R 183/88 (BFHE 168, 505, BStBl II 1993, 829) entwickelten Grundsätze seien "trotz gewisser Unterschiede im Sachverhalt" auf den Streitfall anwendbar (vgl. zu den Einzelheiten die in Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1995, 2 veröffentlichte Urteilsbegründung).
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts. Es ist weiterhin der Meinung, die Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO 1977 greife im Streitfall nicht ein.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kläger halten an ihrer Ansicht fest, die Lohnsteuer-Außenprüfung habe den nämlichen Sachverhalt betroffen und sich auch auf das Ehegatten-Arbeitsverhältnis in den Streitjahren erstreckt, wie sich auch durch die Beweisaufnahme vor dem FG bestätigt habe.
Beide Seiten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Zu Unrecht hat das FG die Korrekturbefugnis des FA verneint.
Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide waren ausnahmslos mit dem Vorbehalt der Nachprüfung versehen und daher gemäß § 164 Abs. 2 AO 1977 grundsätzlich ohne Einschränkungen änderbar (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., 1996, § 164 AO 1977 Rdnr. 8, m. w. N.). Insbesondere war das FA bei Erlaß der angefochtenen Bescheide nicht den einschränkenden Anforderungen des § 173 Abs. 2 AO 1977 unterworfen (vgl. zunächst allgemein Tipke/Kruse, a.a.O., § 173 AO 1977 Rdnr. 34, m. w. N.).
a) Gemäß § 164 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 können die Steuern, solange der Steuerfall nicht abschließend geprüft ist, allgemein oder im Einzelfall unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden, ohne daß dies einer Begründung bedarf. Eine solche Steuerfestsetzung erwächst nicht in Bestandskraft (vgl. § 172 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) und kann demgemäß, solange der Nachprüfungsvorbehalt wirksam ist, nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 aufgehoben oder geändert werden, ohne daß hierzu besondere weitere Voraussetzungen erforderlich wären.
b) Der durch § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 eröffneten, prinzipiell unbegrenzten Befugnis des FA zur Änderung der für die Streitjahre ursprünglich erlassenen Einkommensteuerbescheide (Erstbescheide) stand § 173 Abs. 2 AO 1977 nicht entgegen. Unmittelbar gilt diese Vorschrift -- wie sich aus § 172 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ergibt -- für die Änderung von Bescheiden i. S. des § 164 AO 1977 nicht. Eine Anwendung des § 173 Abs. 2 AO 1977 im Wege der extensiven Auslegung oder Analogie scheitert am begrenzten Regelungsbereich dieser Norm: Die darin angeordnete Änderungssperre gilt nur für die in § 173 Abs. 1 AO 1977 geregelten Korrekturtatbestände (vgl. BFH-Urteile vom 29. April 1987 I R 118/83, BFHE 149, 508, BStBl II 1988, 168; vom 28. November 1989 VIII R 83/86, BFHE 159, 418, BStBl II 1990, 458; vom 13. Dezember 1995 XI R 43-45/89, BFHE 179, 353, BStBl II 1996, 232).
c) Zu Unrecht beruft sich das FG für seine gegenteilige Ansicht auf die BFH-Urteile in BFHE 168, 505, BStBl II 1993, 829 und vom 15. Mai 1992 VI R 106/88 (BFHE 168, 532, BStBl II 1993, 840). Diese Entscheidungen enthalten keine auf den Streitfall übertragbare Rechtserkenntnis. Sie betreffen ausschließlich Sachverhaltskomplexe des Lohnsteuerrechts (s. auch BFH-Urteil vom 17. Februar 1995 VI R 52/94, BFHE 177, 253, BStBl II 1995, 555): Dort war Gegenstand der Außenprüfungen, der diesen zugrundeliegenden Prüfungsanordnungen (§§ 193 AO 1977, 42 f EStG), der sie auswertenden Steuerverwaltungsakte (Lohnsteuerhaftungs- bzw. Lohnsteuerpauschalierungsbescheide) ebenso wie der geänderten Bescheide (Lohnsteueranmeldungen -- §§ 41 a EStG, 168 Satz 1, 164 AO 1977) allein das Lohnsteuerrechtsverhältnis, d. h. die hinsichtlich dieser besonderen Erhebungsform der Einkommensteuer (Schmidt/Drenseck, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, 15. Aufl., 1996, § 38 Tz. 1 ff.; Trzaskalik in Kirchhof/Söhn, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 38 Rdnr. A 3 und A 20 -- jeweils m. w. N.) den Arbeitgeber im konkreten Fall gemäß den §§ 38 ff. EStG treffenden Pflichten, vor allem der Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer (§ 42 f Abs. 1 i. V. m. § 38 Abs. 3 Satz 1 und § 41 a EStG).
Hier dagegen ging und geht es ausschließlich um das durch die Steuerfestsetzung konkretisierte Einkommensteuerschuldverhältnis der Kläger. Hierfür konnte die 1989 durchgeführte Lohnsteueraußenprüfung rechtlich nicht relevant sein: Selbst wenn sie sich auf die Arbeitgebereigenschaft des Klägers und auf die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin erstreckte (vgl. BFH- Urteil vom 1. August 1986 VI R 26/85, BFH/NV 1987, 77; wozu sich im übrigen aus der insoweit allein maßgeblichen Prüfungsanordnung -- Schmidt/Drenseck, a.a.O., § 42 f Tz. 7, m. w. N. -- nichts ergibt), geschah dies, auch für die Betroffenen erkennbar, immer nur im Hinblick auf die zutreffende lohnsteuerrechtliche, bezogen auf Einkommensteuerschuld und Einkommensteuerfestsetzung also in jedem Falle vorläufige Behandlung dieses Sachverhaltskomplexes (vgl. § 36 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG und dazu näher Ruban in Hübsch mann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 171 AO 1977 Tz. 61; Schmidt/Drenseck, a.a.O., § 38 Tz. 1 ff.; Trzaskalik, a.a.O., § 38 Rdnr. A 3 und A 20).
In Übereinstimmung mit dieser Ausgangslage zog das FA aus der Lohnsteueraußenprüfung Konsequenzen nur für das Lohnsteuerrechtsverhältnis, indem es im Bescheid vom 15. Juni 1989 den Nachprüfungsvorbehalt für die Lohnsteueranmeldungen aufhob. Auch aus der Sicht der Adressaten waren daher die den streitigen Zeitraum betreffenden Einkommensteuerbescheide (der Sache nach, unabhängig von der tatsächlichen zeitlichen Abfolge) i. S. des § 173 Abs. 2 AO 1977 nicht die "auf Grund" der Lohnsteueraußenprüfung ergangenen Steuerverwaltungsakte (vgl. auch Gosch, Die steuerliche Betriebsprüfung 1995, 91; von Groll in Stolterfoht, Grundfragen des Lohnsteuerrechts, 1986, 431, 440 ff.; zum entsprechenden Problem bei der Umsatzsteuer: erkennender Senat, Urteil vom 11. November 1987 X R 54/82, BFHE 152, 166, BStBl II 1988, 307; bei der Körperschaftsteuer: BFH-Beschluß vom 21. Juli 1995 I B 214/94, BFH/NV 1996, 103).
2. Der Senat kann nicht durcherkennen. Das FG hat -- von seinem Standpunkt aus zu Recht -- die inhaltliche Richtigkeit der angefochtenen Änderungsbescheide nicht geprüft. Dies wird nunmehr im zweiten Rechtsgang unter Berücksichtigung der zum sogenannten Fremdvergleich entwikelten Rechtsgrundsätze (vgl. BFH-Urteile vom 13. November 1986 IV R 322/84, BFHE 148, 168, BStBl II 1987, 121; vom 25. Juli 1991 XI R 30, 31/89, BFHE 165, 89, BStBl II 1991, 842; weitere Nachweise bei Schmidt/Heinicke, a.a.O., § 4 Rdnr. 520, Stichwort "Angehörige"; speziell zur Bedeutung des Kontos, auf das in solchen Fällen gezahlt wird: Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 7. November 1995 2 BvR 802/90, Deutsches Steuerrecht 1995, 1908; vom 19. Dezember 1995 2 BvR 1791/92, Deutsche Steuer-Zeitung 1996, 117; vom 9. Januar 1996 2 BvR 1451/90, Wertpapier-Mitteilungen/Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht IV 1996, 648 sowie 2 BvR 1293/90, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1996, 599) nachzuholen sein.
Fundstellen