Leitsatz (amtlich)
Ist ein Prozeßbevollmächtigter zu dem in der Ladung bezeichneten Zeitpunkt bei Gericht anwesend und beantragt er nach angemessener Wartezeit im Hinblick auf andere noch unerledigte, zeitlich vorgehende Termine des Gerichts die Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung wegen Wahrnehmung anderer eigener Termine, so stellt die Durchführung der mündlichen Verhandlung mehrere Stunden nach dem vorgesehenen Zeitpunkt in Abwesenheit des Prozeßbevollmächtigten eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 90 Abs. 1 S. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 155; ZPO § 227
Tatbestand
Der Kläger hat Erlaß einer Grunderwerbsteuerschuld beantragt. Der Beklagte (das FA) hat diesen Erlaß abgelehnt. Die gegen den ablehnenden Bescheid eingelegte Beschwerde hat die OFD als unbegründet zurückgewiesen. Auch die Klage ist erfolglos geblieben.
Mit der Revision beantragt der Kläger die Aufhebung der Vorentscheidung und die Zurückverweisung der Sache an das FG. Er rügt die Verletzung seines Rechts auf Gehör. Zur Begründung seiner Revision trägt er vor, die mündliche Verhandlung vor dem FG sei auf den 11. Dezember 1975, 12.15 Uhr, anberaumt gewesen, habe aber zu diesem Zeitpunkt nicht stattgefunden. Um 13.15 Uhr sei die Verhandlung einer auf 9.45 Uhr angesetzten Sache beendet und vom Gericht eine Mittagspause eingelegt worden. Die Verhandlungen der für 10.45 Uhr und 11.30 Uhr anstehenden Sachen seien zu dieser Zeit noch nicht begonnen worden, so daß mit der mündlichen Verhandlung in seiner - des Klägers - Sache nicht vor 16.00 Uhr habe gerechnet werden können. Da sein Prozeßbevollmächtigter an diesem Nachmittag andere Termine wahrzunehmen gehabt habe, habe dieser mündlich bei dem Berichterstatter die "Vertagung" (gemeint war "Verlegung") der Sache beantragt und den Vertreter des Beklagten gebeten, diesen Antrag bei Aufruf der Sache zu wiederholen. Zudem habe der Prozeßbevollmächtigte um 13.15 Uhr einen schriftlichen "Vertagungs" antrag bei der Geschäftsstelle zur Weitergabe an das Gericht eingereicht. Dieser Antrag sei im angefochtenen Urteil nicht erwähnt. Aus dem Schweigen sowohl des Urteils als auch der Sitzungsniederschrift zu diesem Antrag sei zu entnehmen, daß über ihn offenbar überhaupt nicht entschieden worden sei. Durch die im Urteil zur Sache vertretene Rechtsauffassung sei er - der Kläger -überrascht worden.
Auf Ersuchen des Vorsitzenden des II. Senats des BFH gaben die Berufsrichter des erkennenden Senats des FG dienstliche Stellungnahmen ab. Aus diesen ergibt sich, daß der Verlegungsantrag des Klägervertreters dem Senat des FG in der mündlichen Verhandlung vorlag, ein in der Sitzungsniederschrift protokollierter Beschluß über diesen Antrag jedoch nicht getroffen wurde.
Aus der Sitzungsniederschrift über die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 1975 geht hervor, daß für den Kläger niemand erschienen war, die ordnungsgemäße Ladung des Nichterschienenen festgestellt und die Sach- und Rechtslage eingehend erörtert wurde. Eine Aussage über die Stellung eines Verlegungsantrags und eine etwaige Entscheidung darüber enthält die Niederschrift nicht.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Das FG hat durch die Nichtverlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung dem Kläger das in Art. 103 Abs. 1 GG festgelegte Recht auf Gehör verweigert. Das angefochtene Urteil beruht deshalb auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 119 Nr. 3 FGO).
Es kann auf sich beruhen, ob das Fehlen eines in der Niederschrift protokollierten Beschlusses über den Verlegungsantrag auch ohne das Hinzutreten weiterer Umstände die Aufhebung der Vorentscheidung rechtfertigt. Denn auch wenn das FG den Verlegungsantrag durch einen in der Niederschrift protokollierten Beschluß abgelehnt hätte, wäre durch diese Ablehnung angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles das in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Recht des Klägers auf Gehör verletzt.
Nach § 155 FGO i. V. m. § 227 Abs. 1 und 3 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben oder verlegen. Liegen erhebliche Gründe i. S. des § 227 ZPO vor, verdichtet sich die in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessensfreiheit zu einer Rechtspflicht, d. h. der Termin muß in diesen Fällen zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits durch die Verlegung verzögert wird. Es kann daher beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von einem "Recht auf Vertagung" (hier: Verlegung) gesprochen werden (vgl. Urteil des BFH vom 14. Oktober 1975 VII R 150/71, BFHE 117, 19, BStBl II 1976, 48). Welche Gründe als erheblich i. S. des § 227 ZPO anzusehen sind, richtet sich je nach Lage des Einzelfalles nach dem Prozeßstoff und den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers bzw. seines Prozeßbevollmächtigten (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. Januar 1974 10 R V 375/73, HFR 1974, 465, mit weiteren Nachweisen).
Eine Terminverlegung ist nicht schon dann schlechthin geboten, wenn der Prozeßbevollmächtigte des Klägers vorträgt, zum angesetzten Verhandlungszeitpunkt anderen Gerichtsterminen nachkommen zu müssen (vgl. Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung 34. Aufl., § 227 Anm. 2 B). Auch ist es zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Geschäftsganges bei den Gerichten den Prozeßbeteiligten und deren Bevollmächtigten grundsätzlich zuzumuten, sich während einer angemessenen Zeit über den in der Ladung vorgesehenen Verhandlungsbeginn hinaus bei Gericht bereitzuhalten. Wie lange gewartet werden muß, bestimmt sich nach den Verhältnissen des einzelnen Falles. Unangemessenes darf das Gericht indes von den Beteiligten nicht verlangen (vgl. Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, § 214 Anm. B III b). Beträgt die Zeit zwischen dem vorgesehenen Verhandlungsbeginn und dem tatsächlichen Beginn mehrere Stunden, so bedarf der Verlegungsantrag eines Rechtsanwalts, den dieser auf andere Terminsverpflichtungen im voraussichtlichen - verspäteten - Verhandlungszeitpunkt stützt, einer sehr sorgfältigen Prüfung durch das Gericht. Wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die trotz der erheblichen Verspätung ein gewichtiges Interesse des Gerichts an der Durchführung der Verhandlung am angesetzten Terminstag begründen (z. B. beabsichtigte Vernehmung mehrerer bereits anwesender Zeugen oder sonstige aufwendige Verhandlungsvorbereitungen), so ist ein solcher Grund im allgemeinen "erheblich" i. S. § 227 ZPO. Zwar muß von einem Prozeßbevollmächtigten erwartet werden, daß er den durch die Ladung gekennzeichneten Verhandlungszeitraum nicht zu knapp berechnet und übliche Wartezeiten in seine Dispositionen einbezieht; es wäre aber unangemessen, von ihm zu verlangen, daß er sich wegen einer mündlichen Verhandlung von durchschnittlicher Dauer für den gesamten Rest des Tages von weiteren Terminsverpflichtungen freihält.
Der Anspruch des Klägers, die mündliche Verhandlung auf einen anderen Zeitpunkt zu verlegen, entfiel auch nicht dadurch, daß der Berichterstatter des FG die Sache mit dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers vorbesprochen hatte. Denn das FG entscheidet aufgrund mündlicher Verhandlung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 FGO) in der Besetzung mit drei Richtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 5 Abs. 3 FGO), sofern nicht auf die mündliche Verhandlung verzichtet worden ist oder gemäß § 90 Abs. 3 FGO ein Vorbescheid ergeht. In der mündlichen Verhandlung hat der Vorsitzende "die Streitsache mit den Beteiligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern (§ 93 Abs. 1 FGO). Deshalb bezieht sich das Recht auf Gehör auch darauf, in der mündlichen Verhandlung zu Rechtsausführungen der übrigen Beteiligten und (geäußerten oder erkennbaren) Rechtsmeinungen des Gerichts Stellung zu nehmen und selbst Rechtsausführungen machen zu dürfen.
Nach den Auflagen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung war nicht damit zu rechnen, daß das FG seine Entscheidung im wesentlichen auf die letztlich im Urteil angeführten Rechtsgründe stützen würde. Zu den damit zusammenhängenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen in ihrer Gesamtheit, wie sie sich aufgrund der "eingehenden Erörterung der Sach- und Rechtslage" in der mündlichen Verhandlung ergeben haben mögen, hat der Kläger nicht Stellung nehmen können.
Aus alledem folgt, daß die mündliche Verhandlung mit einer so erheblichen Verspätung bei Abwesenheit des Prozeßbevollmächtigten des Klägers nicht hätte stattfinden dürfen. Dadurch, daß dies gleichwohl geschah, wurde dem Kläger die Möglichkeit genommen, sich zu dem entscheidungserheblichen Gesamtergebnis des Verfahrens i. S. § 96 FGO zu äußern. Die Beschränkung dieses umfassenden Äußerungsrechts muß zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung an das FG führen (§§ 119 Nr. 3, 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Da die Revision nur auf einen Verfahrensmangel gestützt worden ist und nicht zugleich eine Voraussetzung des § 115 Abs. 2 FGO vorliegt, hatte der Senat nur über den geltend gemachten Verfahrensmangel zu entscheiden (§ 118 Abs. 3 FGO), ohne daß er in eine sachlichrechtliche Prüfung eintreten konnte.
Fundstellen
Haufe-Index 72235 |
BStBl II 1977, 293 |
BFHE 1977, 132 |
NJW 1977, 919 |