Leitsatz (amtlich)
a) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.
b) Unangemessen i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insb. an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.
c) Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungsrechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht unberücksichtigt bleiben. Dem Gericht muss in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1-2, 6 Nr. 1, § 201 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 23. Zivilsenats des OLG Celle vom 24.10.2012 wird zurückgewiesen.
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Beklagten erkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das OLG zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger macht gegen das beklagte Land einen Anspruch auf Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens geltend.
Rz. 2
In einem gegen andere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft H. wurde der Kläger am 4.7.2007 als Zeuge staatsanwaltschaftlich zu der Frage vernommen, wann er ein bestimmtes Gutachten über altersgerechtes Wohnen erstellt habe. Der ermittelnde Staatsanwalt äußerte in einem Vermerk vom 24.10.2007 den "dringenden Verdacht", dass der Kläger die Unwahrheit gesagt habe, und forderte für diesen einen Bundeszentralregisterauszug an. Darüber hinaus veranlasste er, dass der Kläger am 28.11.2007 richterlich als Zeuge vernommen und vereidigt wurde. Ob ihm bei dieser Gelegenheit von Seiten des ermittelnden Staatsanwalts mitgeteilt worden ist, dass gegen ihn wegen Meineides ermittelt werde, ist zwischen den Parteien streitig.
Rz. 3
Am 4.11.2009 wurde der Kläger als Beschuldigter eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung und des Meineids förmlich eingetragen und zu den Tatvorwürfen angehört. Am 5.2.2010 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum AG H. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 9.4.2010 eine umfassende Einlassung abgegeben und die Staatsanwaltschaft hierzu am 29.4.2010 Stellung genommen hatte, beantragte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 12.5.2010 die Gewährung einer (weiteren) Einlassungsfrist bis Ende Juni 2010. Die angekündigte Erklärung des Verteidigers erfolgte nicht. Mit Beschluss vom 23.6.2011, rechtskräftig seit 1.7.2011, lehnte das AG die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. In einem dem Kläger am 1.9.2011 zugegangenen gerichtlichen Schreiben wurde er über den Eintritt der Rechtskraft des Nichteröffnungsbeschlusses informiert.
Rz. 4
Das OLG hat das beklagte Land unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger eine immaterielle Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer i.H.v. 3.000 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Gleichzeitig hat es die Revision zugelassen "wegen der grundsätzlichen Bedeutung im Hinblick auf die Anforderungen an die Darlegungslast des Klägers in Strafverfahren und die Frage, ob und inwieweit sich Fehler der Strafverfolgungsbehörden auf die Höhe der Entschädigung auswirken können".
Rz. 5
Gegen dieses Urteil richten sich die Rechtsmittel beider Parteien. Der Kläger verfolgt mit der Revision seinen auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung von mindestens 4.000 EUR gerichteten Klageantrag weiter. Der Beklagte erstrebt mit Revision und (inhaltlich identischer) Anschlussrevision die vollständige Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Revision des Beklagten führt dagegen zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.
I.
Rz. 7
Die Revisionen sind zulässig.
Rz. 8
Im Tenor des angefochtenen Urteils wurde die Revisionszulassung uneingeschränkt ausgesprochen. Den Entscheidungsgründen lässt sich nicht mit der notwendigen Klarheit und Eindeutigkeit entnehmen, dass das OLG die Revision nur eingeschränkt zulassen, insb. nur dem Kläger Gelegenheit zur Überprüfung des Urteils geben wollte (vgl. BGH, Urt. v. 8.5.2012 - XI ZR 261/10, NJW 2012, 2446 Rz. 6; vom 26.9.2012 - IV ZR 108/12, VersR 2013, 120 Rz. 7; v. 19.4.2013 - V ZR 113/12, NJW 2013, 1948 Rz. 10). Im Übrigen wäre angesichts der (zusätzlich) eingelegten Anschlussrevision das angefochtene Urteil auch dann auf Rechtsfehler zum Nachteil des Beklagten zu überprüfen, wenn man den Gründen eine Beschränkung der Revisionszulassung für eine einzelne Prozesspartei entnehmen wollte.
II.
Rz. 9
Das OLG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 10
Der maßgebliche Zeitraum für die Beurteilung, ob das gegen den Kläger geführte Strafverfahren übermäßig lang gewesen sei, erstrecke sich von November 2007 bis zum 1.9.2011 (Mitteilung über den Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses vom 23.6.2011). Die Einschätzung des ermittelnden Staatsanwalts in dem Vermerk vom 24.10.2007, es liege der "dringende Verdacht" einer unwahren Aussage vor, und der Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörde einen Auszug aus dem Bundeszentralregister angefordert habe, hätten dazu geführt, dass der Kläger von da an der Sache nach als Beschuldigter behandelt worden sei. Spätestens seit der richterlichen Zeugenvernehmung vom 28.11.2007, in der ihm vermeintliche Unwahrheiten in seiner Aussage vorgehalten worden seien und nach der er auf Antrag des anwesenden Staatsanwalts vereidigt worden sei, habe er davon ausgehen müssen, dass er als Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren behandelt werde. Ermittlungshandlungen seien von November 2007 bis zur förmlichen Eintragung als Beschuldigter im November 2009 nicht erfolgt. Das Verfahren sei mehr als zwei Jahre überhaupt nicht betrieben worden, so dass dem Kläger für mindestens 24 Monate eine Entschädigung gem. § 198 Abs. 1 i.V.m. § 199 GVG zustehe. Nach Anklageerhebung habe ab Juni 2010 keine nennenswerte Verfahrensförderung mehr stattgefunden. Es sei weder dargelegt noch erkennbar, warum das - allerdings recht umfangreiche - Verfahren nahezu ein Jahr lang nicht mit dem Ziel einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bearbeitet worden sei. Davon sei ein Zeitraum von sechs Monaten als unangemessen verzögerte Verfahrensdauer anzusehen. Nach allem ergebe sich im Rahmen der abschließend vorzunehmenden Gesamtwürdigung eine von den Behörden des beklagten Landes zu verantwortende Verzögerung von zwei Jahren und sechs Monaten. Bei Zugrundelegung des Regelsatzes der Entschädigung für immaterielle Nachteile von 1.200 EUR pro Jahr der Verzögerung (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) stehe dem Kläger ein Entschädigungsanspruch i.H.v. 3.000 EUR zu. Dieser Betrag sei nach den Umständen des Einzelfalls nicht als unbillig anzusehen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG). Schuldhafte Verstöße der Strafverfolgungsbehörden gegen die Vorgaben der Strafprozessordnung - der Kläger sei trotz bestehenden Anfangsverdachts und entgegen § 62 StPO zur Erlangung einer wahrheitsgemäßen Aussage vereidigt worden - rechtfertigten jedenfalls im Regelfall keine Abweichung von der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG vorgesehenen Pauschale.
III. Die Revision des Beklagten
Rz. 11
Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Ersturteils und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG, soweit zum Nachteil des beklagten Landes entschieden worden ist.
Rz. 12
1. Zutreffend und von der Revision nicht beanstandet geht das OLG davon aus, dass die verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Regelungen der §§ 198-201 GVG nach der Übergangsvorschrift des Art. 23 Satz 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24.11.2011 (BGBl. I, 2302) auf den Streitfall Anwendung finden. Danach gilt dieses Gesetz auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten am 3.12.2011 (gemäß Art. 24 ÜGRG) bereits anhängig waren, sowie für abgeschlossene Verfahren, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ist oder noch werden kann. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Das vom Kläger als unangemessen lang angesehene Strafverfahren wurde durch den Beschluss des AG vom 23.6.2011, rechtskräftig seit 1.7.2011, beendet und war damit bei Inkrafttreten des ÜGRG abgeschlossen. Die sechsmonatige, mit der Bekanntmachung der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung beginnende Frist für eine Individualbeschwerde zum EGMR nach Art. 35 Abs. 1 EMRK war zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Entschädigungsgesetzes noch nicht abgelaufen. Die Dauer des Verfahrens hätte somit noch Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR werden können. Einer Anrufung des EGMR bedurfte es nicht (Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl., § 198 Rz. 57).
Rz. 13
Durch die am 17.2.2012 eingereichte und am 3.4.2012 zugestellte Klageschrift wurde die Ausschlussfrist des Art. 23 Satz 6 ÜGRG (3.6.2012) gewahrt.
Rz. 14
2. Die Auffassung des OLG, dass in die Beurteilung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 199 GVG auch der Zeitraum von November 2007 bis November 2009 einzubeziehen sei, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 15
a) Mit rechtsfehlerhafter Begründung hat das Gericht angenommen, dass der Kläger bereits seit dem 24.10.2007, dem Tag der Anfertigung des Vermerks des zuständigen Staatsanwalts, "als Beschuldigter behandelt worden" sei.
Rz. 16
aa) Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. In zeitlicher Hinsicht erfasst der Begriff des Gerichtsverfahrens nach der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG alle Verfahrensstadien von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. Der Begriff "Einleitung" meint alle Formen, mit denen ein Verfahren in Gang gesetzt wird, unabhängig davon, ob dies durch Antrag oder Klageerhebung oder, wie im Strafverfahren, von Amts wegen geschieht (BT-Drucks. 17/3802, 22; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rz. 51, 53 und § 199 GVG Rz. 6; Kissel/Mayer, a.a.O., § 198 Rz. 7). § 199 Abs. 1 GVG erstreckt den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren. Dieses ist eingeleitet, sobald die Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 1 StPO) oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes (§ 163 StPO) eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen (Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., Einl. Rz. 60). Dabei ist Beschuldigter derjenige, gegen den polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung geführt werden. Die Beschuldigteneigenschaft kann nur durch einen Willensakt der zuständigen Strafverfolgungsbehörde begründet werden, der regelmäßig in der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens liegt. Ausreichend ist es aber auch, wenn gegen den Betroffenen faktische Maßnahmen ergriffen werden, die erkennbar zum Ziel haben, ihn als Täter einer Straftat zu überführen (HK-StPO-Zöller, 5. Aufl., § 157 Rz. 1 und § 160 Rz. 6; KK-Griesbaum, StPO, 7. Aufl., § 160 Rz. 14; Meyer-Goßner, a.a.O., Rz. 76).
Rz. 17
bb) Nach diesem Maßstab ist nach Aktenlage gegen den Kläger erstmals mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 4.11.2009 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung und des Meineids eingeleitet worden. Zu diesem Zeitpunkt wurde er als Beschuldigter förmlich eingetragen und anschließend zu den Tatvorwürfen angehört. Demgegenüber kann der (bloße) Vermerk des den Kläger als Zeugen vernehmenden Staatsanwalts vom 24.10.2007, es bestehe der "dringende Verdacht" unwahrer Angaben, noch nicht als förmliche Einleitung eines Ermittlungsverfahren angesehen werden, zumal in der Folgezeit keine Maßnahmen ergriffen wurden, die erkennbar darauf abzielten, den Kläger einer Straftat zu überführen. Die bloße Anforderung eines Bundeszentralregisterauszugs kann ebenso wenig als eine solche Maßnahme angesehen werden wie der Antrag, den Kläger ermittlungsrichterlich als Zeugen zu vernehmen.
Rz. 18
b) Die Entscheidung des OLG erweist sich aber auch unter einem weiteren Gesichtspunkt als rechtsfehlerhaft.
Rz. 19
aa) In Strafsachen beginnt der nach § 198 Abs. 1 GVG zu beurteilende Zeitraum für den Beschuldigten nicht bereits mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, sondern - der förmlichen Einleitung regelmäßig nachfolgend - erst mit der Eröffnung der Beschuldigung oder mit einer die Person ernsthaft beeinträchtigenden Ermittlungsmaßnahme (BT-Drucks. 17/3802, 24; Kissel/Mayer, a.a.O., § 198 Rz. 13; Ott, a.a.O., § 199 GVG Rz. 6; vgl. auch BVerfG, NJW 1993, 3254, 3256; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., Art. 6 Rz. 196 jeweils zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK).
Rz. 20
bb) Entgegen der Auffassung des OLG musste der Kläger deshalb, weil ihm im Rahmen seiner Zeugenvernehmung vermeintliche Unwahrheiten seiner Aussage vorgehalten wurden und er auf Antrag der Staatsanwaltschaft vereidigt wurde, nicht davon ausgehen, dass er nunmehr als Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren behandelt werde; erst recht kann hierin nicht die "offizielle Mitteilung" der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gesehen werden.
Rz. 21
Bei Vorhalten handelt es sich um übliche Vernehmungsbehelfe, die allein für die Prüfung der Glaubwürdigkeit und die Auffrischung des Gedächtnisses des Zeugen von Bedeutung sind (Meyer-Goßner, a.a.O., § 69 Rz. 7). Nach § 59 Abs. 1 StPO kann die Vereidigung erfolgen, wenn dies vom Gericht nach dessen Ermessen aufgrund der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage für erforderlich gehalten wird. Demgemäß enthalten weder der Antrag auf Vereidigung noch die Vereidigung selbst die (konkludente) Mitteilung oder auch nur einen Hinweis darauf, dass gegen den Zeugen wegen des konkreten Verdachts einer strafbaren Handlung ermittelt wird. Dies ist nicht deshalb anders zu beurteilen, weil außerhalb der Hauptverhandlung im vorbereitenden Verfahren die Vereidigung eines Zeugen nur bei Vorliegen weiterer - vorliegend nicht gegebener - Voraussetzungen (Gefahr im Verzug; voraussichtliche Verhinderung am Erscheinen in der Hauptverhandlung, vgl. § 62 StPO) zulässig ist. Der Umstand, dass die Vernehmung eines Zeugen unter Verletzung strafprozessualer Vorschriften erfolgt, kann nicht zu einer Änderung der Zielrichtung dieses Vorgangs dergestalt führen, dass die Vernehmung nunmehr als Maßnahme gegen einen Beschuldigten zu bewerten ist.
Rz. 22
Dass der Kläger durch eine sonstige konkrete Maßnahme der Strafverfolgung, die wegen eines Verdachts gegen ihn getroffen wurden, ernsthaft beeinträchtigt wurde (z.B. Haftbefehl, Festnahme, Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnung), hat das OLG nicht festgestellt.
Rz. 23
c) Der Beklagte hat den Vortrag des Klägers, im Zusammenhang mit der richterlichen Vernehmung vom 28.11.2007 sei ihm durch den ermittelnden Staatsanwalt mitgeteilt worden, gegen ihn werde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Meineids geführt, bestritten. Da das OLG die Richtigkeit dieses Vorbringens - das sowohl für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens als auch für die Kundgabe der Verfahrenseinleitung von Bedeutung sein könnte - ausdrücklich offen gelassen hat, ist bei der revisionsgerichtlichen Nachprüfung zugunsten der Revision des Beklagten zu unterstellen, dass der Staatsanwalt eine derartige Äußerung nicht getan hat.
Rz. 24
3. Soweit das OLG angenommen hat, dass die Entscheidung des AG über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff. StPO) um sechs Monate verzögert ergangen sei, hält dies rechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand, da für die diesbezügliche Beurteilung wesentliche Umstände unberücksichtigt geblieben sind.
Rz. 25
a) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insb. nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benennt die Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind, nur beispielhaft ("insbesondere") und ohne abschließenden Charakter (BT-Drucks. 17/3702, 18). Ein weiteres bedeutsames Kriterium zur Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer ist die Verfahrensführung durch das Gericht, die unter Berücksichtigung des den Gerichten zukommenden Gestaltungsspielraums zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien in Bezug zu setzen ist (vgl. BVerwG, Urteile jeweils vom 11.7.2013 - 5 C 23.12 D, BeckRS 2013, 55758 Rz. 40 f und 5 C 27.12 D, BeckRS 2013, 56027 Rz. 32 f.; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 128).
Rz. 26
Eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, ist nicht möglich und würde im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit bereits an der Vielgestaltigkeit der Verfahren und prozessualen Situationen scheitern. Mit der Entscheidung des Gesetzgebers, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), wurde bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen. Die Ausrichtung auf den Einzelfall ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut des Gesetzes, wird durch dessen Entstehungsgeschichte bestätigt (dazu Steinbeiß-Winkelmann, a.a.O., Einführung Rz. 236 ff.) und entspricht dem in den Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers (BT-Drucks. 17/3802, 18). Der Verzicht auf allgemeingültige Zeitvorgaben schließt es regelmäßig aus, die Angemessenheit der Verfahrensdauer allein anhand statistischer Durchschnittswerte zu ermitteln (vgl. BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 28 ff. und 5 C 27/12 D Rz. 20 ff.; s. auch BSG, Urt. v. 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL, juris Rz. 25 ff. zu dem Sonderfall des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde nach dem SGG: statistische Zahlen als "hilfreicher Maßstab"). Ebenso wenig kommt ein Evidenzkriterium in dem Sinne in Betracht, dass eine bestimmte Verfahrensdauer schon für sich genommen ohne Einzelfallprüfung als unangemessen eingestuft werden müsste (vgl. Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 88).
Rz. 27
Feste Zeitvorgaben können auch der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht entnommen werden (s. dazu die Übersicht bei Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 6 Rz. 199 ff., insb. Rz. 207 f.). Auch das BVerfG hat keine festen Zeitgrenzen aufgestellt und beurteilt die Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles (vgl. BVerfG NJW 1997, 2811, 2812; Beschl. v. 22.8.2013 - 1 BvR 1067/12, juris Rz. 30, 32 m.w.N.).
Rz. 28
b) Unangemessen i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insb. an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist (vgl. BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 37 und 5 C 27.12 D Rz. 29).
Rz. 29
Der unbestimmte Rechtsbegriff der "unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens" (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) und die ihn ausfüllenden Merkmale i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG müssen unter Rückgriff auf die Grundsätze näher bestimmt werden, die der EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und das BVerfG zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und zum Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelt haben, zumal diese gefestigte Rechtsprechung dem Gesetzgeber bei der Textfassung des § 198 Abs. 1 GVG zum Vorbild diente (vgl. BT-Drucks. 17/3802, 18; BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 38 und 5 C 27.12 D Rz. 30).
Rz. 30
Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist als maßgeblicher Zeitraum die Gesamtverfahrensdauer, wie sie § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definiert (vgl. Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 78). Dies hat zur Konsequenz, dass Verzögerungen, die in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten eingetreten sind, nicht zwingend die Unangemessenheit der Verfahrensdauer bewirken. Es ist vielmehr im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung zu überprüfen, ob Verzögerungen innerhalb einer späteren Phase des Verfahrens kompensiert wurden (vgl. BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 44; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 79, 100 f.). Hierbei muss auch in den Blick genommen werden, dass die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, mit zunehmender Verfahrensdauer sich verdichtet (vgl. nur BGH, Urt. v. 4.11.2010 - III ZR 32/10, BGHZ 187, 286 Rz. 11 m.w.N.).
Rz. 31
Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs gem. § 198 GVG an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG) wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss. Es reicht nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus. Vielmehr muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt (vgl. BVerfG, NVwZ 2013, 789, 791 f.; BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 39 und 5 C 27.12 D Rz. 31; s. auch BSG, a.a.O., Rz. 26: "deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen").
Rz. 32
c) Wie bereits dargelegt, ist ein bedeutsames Kriterium zur Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines Gerichtsverfahrens auch die Verfahrensführung durch das Gericht. Zu prüfen ist, ob Verzögerungen, die mit der Verfahrensführung im Zusammenhang stehen, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind. Dabei kann die Verfahrensführung nicht isoliert für sich betrachtet werden. Sie muss vielmehr zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien in Bezug gesetzt werden. Maßgebend ist, ob das Gericht gerade in Relation zu jenen Gesichtspunkten den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer in jedenfalls vertretbarer Weise gerecht geworden ist, wobei das Ausgangsgericht die Sach- und Rechtslage aus seiner Sicht ex ante einschätzen durfte (vgl. BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 41 und 5 C 27.12 D Rz. 33).
Rz. 33
Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungsrechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht unberücksichtigt bleiben. Da die zügige Erledigung eines Rechtsstreits kein Selbstzweck ist und das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht verlangt (Senatsurteil vom 4.11.2010, a.a.O., Rz. 14), muss dem Gericht in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind. Erst wenn die Verfahrenslaufzeit in Abwägung mit den weiteren Kriterien i.S.v. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG auch bei Berücksichtigung dieses Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor (vgl. Senatsurteil vom 4.11.2010, a.a.O., Rz. 14; BSG, a.a.O., Rz. 27; BVerwG, a.a.O., 5 C 23.12 D Rz. 42 und 5 C 27.12 D Rz. 34; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 81, 127 f.; Stahnecker, Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren, Rz. 97).
Rz. 34
d) Die Überprüfung der Verfahrensführung im Ausgangsprozess obliegt grundsätzlich dem Tatrichter, der über die Entschädigungsklage entscheidet. Bei der Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit der Verfahrensdauer hat das Revisionsgericht den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren und ist in seiner Prüfung darauf beschränkt, ob der rechtliche Rahmen verkannt, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und angemessen abgewogen worden sind (vgl. Senatsurteil vom 4.11.2010, a.a.O., Rz. 18; Musielak/Ball, ZPO, 10. Aufl., § 546 Rz. 12).
Rz. 35
Unter Berücksichtigung dieses Prüfungsmaßstabs und der zuvor erörterten Grundsätze erweist sich die Auffassung des OLG, das gerichtliche Verfahren sei seit Juni 2010 um sechs Monate unangemessen verzögert worden, als rechtsfehlerhaft, da das Gericht, wie die Revision zu Recht beanstandet, nicht alle für die Abwägungsentscheidung nach § 198 Abs. 1 GVG maßgeblichen Umstände gewürdigt hat.
Rz. 36
Das OLG beschränkt sich auf die Feststellung, dass seit Juni 2010 eine nennenswerte Verfahrensförderung nicht mehr stattgefunden habe und der Verfahrensinhalt im Wesentlichen aus zwei Anfragen des Klägers vom 27.9. und 31.10.2010 sowie einem (richterlichen) Vermerk aus dem Februar 2011 bestehe, der nahelege, dass eine Einlassung des Klägers nicht mehr erfolgen werde. In die an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls hätte das OLG jedoch - unter Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums - noch weitere Gesichtspunkte einbeziehen müssen.
Rz. 37
aa) Es fehlt eine nähere Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit des Verfahrens, die sich insb. daraus ergab, dass es für ein amtsgerichtliches Verfahren einen überdurchschnittlichen Umfang hatte (fünf Aktenbände und vier zum Teil sehr umfangreiche Sonderhefte), ein ebenso umfangreiches Parallelverfahren gegen Dritte (Az.: 5524 Js 46572/07) auszuwerten war und die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens eine komplexe Beweiswürdigung zahlreicher Indizien erforderlich machte.
Rz. 38
bb) Was das Verhalten des Klägers betrifft, hätte das Gericht in seine Abwägung einbeziehen müssen, dass dieser mit Schreiben vom 2.2.2011 den (unzutreffenden) Eindruck erweckte, sein Verteidiger verfüge über zusätzliche Informationen, die in einer (weiteren) schriftlichen Stellungnahme aufbereitet würden. Dass das Strafverfahren den Kläger insb. in persönlicher und beruflicher Hinsicht unverhältnismäßig belastet hat, ist nicht ersichtlich. Wie das AG in dem die Eröffnung ablehnenden Beschluss ausgeführt hat, bestand der Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung zu Recht; das Gericht hatte lediglich Zweifel hinsichtlich der Verurteilungswahrscheinlichkeit i.S.v. § 203 StPO. Soweit der Kläger unter Hinweis auf die Berufsordnung für Ärzte den drohenden Verlust der ärztlichen Approbation geltend machte, beschränkten sich seine Ausführungen auf formelhafte und nichts sagende Wendungen.
Rz. 39
cc) Schließlich bleibt unerörtert, dass das AG ausweislich des vom OLG zitierten Vermerks den Ausgang des vorerwähnten Parallelverfahrens 5524 Js 46572/07 in nicht zu beanstandender Weise abgewartet hat, um die schriftlichen Gründe des Urteils des LG Hi. vom 15.2.2011, aus denen sich wesentliche Gesichtspunkte zugunsten des Kläger ergaben, in die eigene Beweiswürdigung einbeziehen zu können.
Rz. 40
4. Die Revision des Beklagten führt demnach zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit zum Nachteil des Beklagten entschieden worden ist. Im Umfang der Aufhebung ist die Sache an das OLG zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Mangels Entscheidungsreife ist eine eigene Entscheidung des Senats nicht möglich (§§ 563 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, 562 Abs. 1 ZPO).
Rz. 41
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Im Entschädigungsprozess gilt - wie auch sonst im Zivilprozess - der Beibringungsgrundsatz. Der Entschädigungskläger muss die Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, die nach seiner Auffassung eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens begründen. Unerheblich ist, ob es sich bei dem Ausgangsverfahren um einen Zivilprozess oder ein Strafverfahren handelt. Nicht anders als im Amtshaftungsprozess hat der Kläger die konkreten gerichtlichen Maßnahmen bzw. Unterlassungen zu benennen, die aus seiner Sicht eine vermeidbare Verzögerung des Rechtsstreits zur Folge hatten. Eine bloße Bezugnahme auf die Akten des Ausgangsverfahrens reicht für einen schlüssigen Klagevortrag nicht aus. Bei gerichtsorganisatorischen Mängeln und Defiziten sowie sonstigen Umständen, die im Bereich der Justiz liegen und dem Einblick des Klägers entzogen sind, wird demgegenüber seitens der Gerichtsverwaltung Erklärungsbedarf bestehen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, 25; Kissel/Mayer, a.a.O., § 198 Rz. 39; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 244; s. auch BGH, Urt. v. 11.1.2007 - III ZR 302/05, BGHZ 170, 260 Rz. 22).
IV. Die Revision des Klägers
Rz. 42
Das Rechtsmittel ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision stand.
Rz. 43
1. Soweit der Kläger rügt, das OLG hätte bei der Bewertung der unangemessenen Verfahrensdauer den Zeitraum von Ende April 2010 bis zum 1.9.2011 zugrunde legen müssen, zeigt die Revision keine Umstände auf, die zum Nachteil des beklagten Landes in die abschließende Gesamtabwägung zusätzlich einzustellen gewesen wären mit der Folge, dass das OLG über die bereits festgestellten sechs Monate hinaus zu einer Verfahrensverzögerung von weiteren zehn Monaten hätte gelangen müssen. Unabhängig davon, wie die Dauer des Ermittlungsverfahrens einzuschätzen ist, enthält die Würdigung des OLG nach Maßgabe der unter III. 3d dargestellten Gesichtspunkte keine Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers.
Rz. 44
Da der Beschluss des AG vom 23.6.2011 am 1.7.2011 formell rechtskräftig wurde, war der nachfolgende Zeitraum bis zum 1.9.2011 (Benachrichtigung des Klägers über den Eintritt der Rechtskraft) für die Entschädigungsfrage ohnehin bedeutungslos (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG).
Rz. 45
2. Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand des Klägers, das OLG hätte den Regelsatz für die Bemessung der Entschädigung für immaterielle Nachteile (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) gem. § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG um 50 % erhöhen müssen.
Rz. 46
§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG sieht zur Bemessung der Höhe der Entschädigung für immaterielle Nachteile einen Pauschalsatz i.H.v. 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung vor. Ist dieser Betrag nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG). Mit der Pauschalierung unter Verzicht auf einen einzelfallbezogenen Nachweis sollen Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung, die eine zusätzliche Belastung der Gerichte bedeuten würden, vermieden werden. Zugleich ermöglicht dies eine zügige Erledigung der Entschädigungsansprüche im Interesse der Betroffenen (Stahnecker, a.a.O., Rz. 146; vgl. auch BT-Drucks. 17/3802, 20). Im Hinblick auf den eine Verfahrensvereinfachung anstrebenden Gesetzeszweck ist der Tatrichter nur bei Vorliegen besonderer Umstände gehalten, von dem normierten Pauschalsatz aus Billigkeitserwägungen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) abzuweichen. Dabei ist insb. an Fälle zu denken, in denen die Verzögerung zur Fortdauer einer Freiheitsentziehung oder einer schwerwiegenden Persönlichkeitsverletzung geführt hat (vgl. Schenke, NVwZ 2012, 257, 262; Stahnecker, a.a.O., Rz. 148; s. auch Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 227 aE). Derartige Umstände macht die Revision nicht geltend. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Der drohende Verlust der ärztlichen Approbation wird vom Kläger ohne hinreichenden tatsächlichen Hintergrund in den Raum gestellt.
Rz. 47
Soweit der Kläger meint, schuldhafte Verfahrensverstöße der Strafverfolgungsbehörden (hier: im Zusammenhang mit seiner Vereidigung) würden eine Erhöhung des Regelbetrages rechtfertigen, vermag er einen Rechtsfehler nicht aufzuzeigen. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass § 198 GVG einen "staatshaftungsrechtlichen Anspruch sui generis" normiert, der einen Ausgleich für die Nachteile gewährt, die "durch die Verfahrensdauer" im Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers verursacht werden (BT-Drucks. 17/3802, 19). Haftungsgrund für den Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer ist allein die Verletzung des Rechts eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit (vgl. BSG, a.a.O., Rz. 25). Auf die Frage, ob der Richter oder ein sonstiger Angehöriger der Justizverwaltung pflichtwidrig oder schuldhaft gehandelt hat, kommt es - anders als bei der Amtshaftung - nicht an (vgl. BT-Drucks. 17/3802, 19; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 3, 95, 126). Dementsprechend ist im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG nicht schon deshalb ein Abweichen vom Regelsatz zugunsten des Betroffenen geboten, weil den zuständigen Behörden und Gerichten neben der Verfahrensverzögerung weitere Verfahrensfehler unterlaufen sind.
Rz. 48
Nach alledem ist die Entscheidung des OLG, von dem Regelbetrag des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nicht abzuweichen, rechtsfehlerfrei ergangen.
Rz. 49
3. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass das OLG dem Kläger einen Teil der Kosten entsprechend seiner Unterliegensquote nach § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO auferlegt hat.
Rz. 50
Die Kostenentscheidung ergeht im Entschädigungsprozess grundsätzlich nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. §§ 91 ff. ZPO. Wenn ein Entschädigungsanspruch allerdings nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe besteht, gleichwohl aber nach § 198 Abs. 4 GVG im Tenor des Urteils eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt wird, entscheidet das Entschädigungsgericht nach billigem Ermessen über die Kosten (vgl. Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 6; Ott, a.a.O., § 201 GVG Rz. 26 f.; Stahnecker, a.a.O., Rz. 180). Eine derartige Sonderkonstellation liegt hier nicht vor, da das OLG dem Kläger zwar eine geringere Entschädigung als beantragt zugesprochen, jedoch keine Feststellung nach § 198 Abs. 4 GVG ausgesprochen hat. Billigkeitserwägungen gem. § 201 Abs. 4 GVG, wie sie die Revision anstellt, waren somit nicht veranlasst.
Rz. 51
Die Revision des Klägers ist nach allem zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 6009359 |
BGHZ 2014, 87 |
BB 2013, 3009 |
HFR 2014, 375 |