Rn 7
Die Rechtswirkungen des § 335 erfassen alle insolvenzrechtlichen Bestimmungen, die nach dem Rechtsstatut des Eröffnungsstaats Anwendung finden. Problematisch dabei ist jedoch die Qualifikation der jeweiligen Vorschrift als eine Norm des Insolvenzrechts.
Rn 8
Maßgeblich für eine insolvenzrechtliche Qualifikation ist, ob die Norm auch außerhalb der Insolvenz gilt oder, ob sie eine spezielle Regelung für den Fall der Insolvenz darstellt. In letzterem Fall wäre sie dann als eine insolvenzrechtliche Norm zu qualifizieren. Im Gegenzug ist es nicht allein entscheidend, dass insolvenzrechtliche Regelungen ausschließlich in der Insolvenzordnung zu finden sind. Neben der InsVV oder dem EGInsO sind etwa im deutschen Recht auch weitere insolvenzrechtliche Normen zu finden; als insolvenzrechtliche Vorschriften sind z. B. die § 30 d ZVG und § 153 b ZVG anerkannt. Bei anderen Normen war dies weit umstrittener, so dass sich in der Vergangenheit um die Frage der Qualifikation der Norm zum Insolvenzrecht mehrere Problemfelder eröffneten.
2.1. "Insolvenzrecht" – Problem des Auseinanderfallens von Gesellschafts- und Insolvenzstatut bei "Scheinauslandsgesellschaften"
Rn 9
Gemäß § 335 richten sich nur die insolvenzrechtlichen Fragen bei einer internationalen Insolvenz nach der lex fori concursus. Für gesellschaftsrechtliche Fragestellungen ist seit dem "Inspire Art"-Urteil des EuGH das Gründungsstatut maßgeblich. Dies gilt nun zumindest innerhalb Europas.
Rn 10
Nach der "Inspire Art"-Entscheidung ist es jeder in Europa gegründeten Kapitalgesellschaft gestattet, aufgrund der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54, 55 AEUV) ihren Geschäftssitz und ihre Aktivitäten in jeden anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Die Verlegung des Sitzes darf selbst dann in den anderen Mitgliedstaat erfolgen, wenn dieser strengere Anforderungen an die Kapitalausstattung stellt als der Gründungsstaat. Jeder Mitgliedstaat muss EU-ausländische Gesellschaften mit beschränkter Haftung dulden, auch wenn die Auslandsgründung von vornherein nur bezweckte, das im Zuzugsland strengere Gründungsrecht zu umgehen.
Rn 11
Auch bei internationalen Insolvenzen werden i. d. R. Gesellschafts- und Insolvenzstatut identisch sein. Zu einem möglichen Auseinanderfallen von Gesellschafts- und Insolvenzstatut kann es aber insbesondere bei so genannten Scheinauslandsgesellschaften kommen, also z. B. bei Unternehmen, die zwar ihren Verwaltungssitz und damit den Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen Interessen in Deutschland (mit der Folge, dass deutsches Insolvenzrecht anwendbar ist), ihren satzungsmäßigen Sitz aber im Ausland haben (so dass nach "Inspire Art" ausländisches Gesellschaftsrecht zur Anwendung kommt).
Rn 12
Die Insolvenzfähigkeit einer europäischen Schuldnerin richtet sich gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 2 lit. a EuInsVO nach der lex fori concursus. Bei der Insolvenz einer Scheinauslandsgesellschaft in Deutschland ist mithin deutsches Recht maßgebend. §§ 11, 12 InsO bestimmen, welche Personen und Vermögensmassen insolvenzfähig sind. Die ausländische Kapitalgesellschaft ist hier nicht mit aufgezählt. Der II. Zivilsenat des BGH vertrat die Ansicht, dass eine ausländische Kapitalgesellschaft, die ihren Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt, in Deutschland als GbR oder als oHG anerkannt wird. Angesichts der Rechtsprechung des EuGH, die das Gründungsstatut bei gesellschaftsrechtlichen Fragen für maßgeblich erklärt, entschied der IX. Zivilsenat des BGH, dass das frühere Eigenkapitalersatzrecht auch auf EU-Auslandgesellschaften Anwendung findet, sodass eine nach ausländischem EU-Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung anzuerkennen ist und die Vorschriften zum Eigenkapitalersatzrecht als insolvenzrechtliche Regelungen auf diese Gesellschaften Anwendung finden.