Dr. Jürgen Blersch, Prof. Dr. Eberhard von Olshausen
Rn 9
Obwohl § 95 Abs. 1 nach seinem Wortlaut beide Forderungen erfasst, d.h. sowohl die aufzurechnende Gegenforderung des Insolvenzgläubigers als auch die Hauptforderung der Insolvenzmasse, ist das Regelungssystem der §§ 94–96 doch ausschließlich auf eine Aufrechnung durch den Insolvenzgläubiger zugeschnitten. Ausdrückliche Regelungen für eine Aufrechnung durch den Insolvenzverwalter enthält die Insolvenzordnung nicht. Vielmehr richtet sich eine solche in der verantwortlichen Entscheidungsbefugnis des Insolvenzverwalters liegende Aufrechnung nach den allgemeinen Vorschriften.
Rn 10
Bei seiner Entscheidung über die Erklärung einer solchen Aufrechnung wird der Insolvenzverwalter vor allem seine Pflichten im Insolvenzverfahren zu beachten haben. So wird er seinerseits eine Aufrechnung mit einer massezugehörigen Forderung gegenüber einem Insolvenzgläubiger zur Vermeidung einer insolvenzzweckwidrigen Ungleichbehandlung der Gläubiger nur erklären dürfen, wenn der Gläubiger selbst eine schutzwürdige Aufrechnungslage in Anspruch nehmen konnte. Rechnet dagegen der Insolvenzverwalter in Unkenntnis der Ausschlussfälle des § 96 beispielsweise mit einer nach Verfahrenseröffnung gegenüber einem Insolvenzgläubiger entstandenen Masseforderung gegen dessen Insolvenzforderung auf, so hat er pflichtwidrig die Insolvenzmasse verkürzt und ist den Insolvenzgläubigern nach § 60 zum Schadensersatz verpflichtet, der nach § 92 Satz 2 geltend gemacht wird.
Liegt dagegen eine schutzwürdige Aufrechnungslage für den Insolvenzgläubiger vor, kann eine Aufrechnung durch den Insolvenzverwalter sich empfehlen oder sogar geboten sein, um z.B. zu verhindern, dass der Insolvenzgläubiger zunächst die Quote auf seine volle Forderung erhält und dann erst aufrechnet, was ihn bei einer die massezugehörige Forderung übersteigenden Insolvenzforderung besser stellen würde, als er bei Aufrechnung vor Feststellung und Auszahlung der Quote stünde (s. schon oben § 94 Rn. 10). Auch bei fehlender Aufrechnungsbefugnis des Insolvenzgläubigers kann eine Aufrechnung seitens des Insolvenzverwalters ausnahmsweise empfehlenswert oder sogar geboten sein, insbesondere dann, wenn sich auch der Insolvenzgläubiger seinerseits in der Insolvenz befindet und die im dortigen Verfahren zu erwartende Quote niedriger ist als die im hiesigen Verfahren zu gewärtigende Quote. Die Aufrechnung seitens des Insolvenzverwalters gegen die ganze Insolvenzforderung ist – anders als die Aufrechnung gegen den Anspruch auf die Quote – unabhängig von einer Feststellung der Forderung des Insolvenzgläubigers im Prüfungsverfahren nach §§ 174 ff. Dies ist allerdings streitig. Nach Ansicht des BGH kann der Insolvenzverwalter gegen eine Insolvenzforderung vor ihrer Feststellung zur Tabelle (jetzt § 178 Abs. 3) nicht aufrechnen; der Insolvenzforderung fehle bis dahin die Erfüllbarkeit i.S. des § 387 BGB. Wäre dies richtig, so müsste vorher auch eine Aufrechnung seitens des Insolvenzgläubigers unzulässig sein, denn hierfür ist nach § 387 BGB mehr als Erfüllbarkeit der Insolvenzforderung, nämlich deren Fälligkeit, erforderlich. Wenn das Interesse der anderen Insolvenzgläubiger, einer Insolvenzforderung im Prüfungstermin widersprechen zu können, wie der BGH meint, deren Erfüllbarkeit und damit der Aufrechnung seitens des Insolvenzverwalters entgegenstünde, müsste sie auch deren Fälligkeit und damit der Aufrechnung durch den Insolvenzgläubiger entgegenstehen. Das aber widerspräche eindeutig dem ausdrücklichen Wortlaut des § 94, nach dem das Aufrechnungsrecht "durch das Verfahren nicht berührt" wird. Dies muss dann auch für die Aufrechnung seitens des Verwalters gelten. Nach einer anderen Auffassung soll – gerade umgekehrt zur Ansicht des BGH – der Insolvenzverwalter ab Feststellung der Insolvenzforderung zur Tabelle mit der zuvor zulässigen Aufrechnung bzw. mit der prozessualen Geltendmachung des Aufrechnungseinwands nach § 767 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 178 Abs. 3 ausgeschlossen sein (Rechtskraftwirkung der Tabelleneintragung). Aber das Feststellungsverfahren hat die Insolvenzforderung nur als Mittel für die Berechnung und Zuteilung der Quote, nicht als Voraussetzung für eine Aufrechnung auf der Aktiv- oder Passivseite zum Gegenstand. Deshalb kann das Ob und Wie einer Feststellung der Insolvenzforderung in diesem Verfahren keinen Einfluss auf die wechselseitigen Aufrechnungsmöglichkeiten haben, über die allein zwischen dem Insolvenzverwalter und dem betreffendem Insolvenzgläubiger, nicht mit den übrigen Insolvenzgläubigern zu streiten ist.
Unabhängig davon kann der Verwalter mit massezugehörigen Ansprüchen gegen Ansprüche eines Insolvenzgläubiges auf die Insolvenzquote aufrechnen, soweit diese bereits mit der erforderlichen Sicherheit feststehen. Dies ist jedenfalls nicht vor Beendigung des Prüfungsverfahrens (§ 178) der Fall (vgl. auch § 187 Abs. 1). Eine solche Aufrechnung kann deshalb niemals nach § 767 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 178 Abs. 3 präkludiert sein.