Dr. Jürgen Blersch, Prof. Dr. Eberhard von Olshausen
Rn 10
Des Weiteren besteht kein Vertrauensschutz, wenn ein Insolvenzgläubiger seine Forderung erst nach Eröffnung des Verfahrens von einem anderen Insolvenzgläubiger erworben hat und der Erwerber gleichzeitig Schuldner der Insolvenzmasse ist. In diesem Fall musste der Erwerber als Schuldner der Insolvenzmasse bei Verfahrenseröffnung davon ausgehen, dass er die von ihm geschuldete Leistung zur Masse erbringen muss. Die Forderung des früheren Insolvenzgläubigers unterlag dem Gleichbehandlungsgrundsatz und war lediglich mit einer Quotenerwartung versehen. Durch Herstellung einer Gegenseitigkeit nach Verfahrenseröffnung kann diese Insolvenzforderung der Gleichbehandlung nicht mehr entzogen werden. Dabei ist es gleichgültig, ob die Gegenseitigkeit durch einen rechtsgeschäftlichen Erwerb der Insolvenzforderung herbeigeführt wird oder der Erwerb durch den Schuldner der Insolvenzmasse kraft Gesetzes (z. B. im Wege des gesetzlichen Forderungsübergangs) oder im Wege der Sonder- bzw. Gesamtrechtsnachfolge erfolgt. Dies gilt auch für die Rückabwicklung einer vor Verfahrenseröffnung vorgenommenen Sicherungszession, weil eben zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung für den Insolvenzgläubiger als Sicherungsgeber keine Aufrechnungslage bestand. Erfolgen dagegen die Sicherungszession und anschließende Rückabtretung erst nach Verfahrenseröffnung, so ist § 96 Abs. 1 Nr. 2 nicht einschlägig.
Vorrangig soll durch die Vorschrift verhindert werden, dass der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung durch ein Zusammenwirken zwischen Insolvenzgläubiger und Schuldner der Insolvenzmasse beeinträchtigt wird.
Da sich auch bei § 96 Abs. 1 Nr. 2 gegenüber § 55 Nr. 2 KO keine inhaltlichen Änderungen ergeben haben, kann ergänzend auf die hierzu nach dem bisherigen Recht entwickelte Kasuistik zurückgegriffen werden. Streitig war und ist immer noch die Frage, ob die einem Sozialleistungsträger durch § 52 SGB I und § 28 Nr. 1 SGB IV eingeräumte Befugnis, mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers dessen Zahlungsansprüche (z. B. Beitragsansprüche) mit einer ihm selbst obliegenden Zahlungspflicht (z. B. Pflicht zur Gewährung von Sozialleistungen oder zur Erstattung von zu viel gezahlten Beiträgen) zu verrechnen, auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Sozialleistungsberechtigten noch besteht. In der Gesetzesbegründung wird dies für möglich gehalten, letztlich aber anheimgestellt.
In Rechtsprechung und Literatur fallen die Antworten vielstimmiger aus, als es gelegentlich wahrgenommen wird. Nach der Insolvenzrechtsreform haben sich mit dem jetzt besonders betonten Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung (§ 1 Satz 1) und mit der Abschaffung der früheren Konkursvorrechte zusätzliche Argumente dafür ergeben, die insolvenzrechtliche Aufrechnungsregelung als vorrangig gegenüber den sozialrechtlichen Vorschriften anzusehen. Dem hält Brandes zwar entgegen, wegen der den Beteiligten durch § 94 Fall 2 erteilten Erlaubnis, das Erfordernis der Gegenseitigkeit abzubedingen, seien "auch die Ermächtigungsbefugnisse des Sozialrechts im anderen Licht zu sehen" und gingen § 96 vor. Indessen: Zum einen erscheint es nicht dringend geboten, einer als verfehlt empfundenen Regelung wie der Anerkennung von Konzernverrechnungsklauseln (zur Kritik daran s. § 94 Rn. 8; dort auch zur Verneinung der Insolvenzfestigkeit von Konzernverrechnungsklauseln trotz des Wortlauts des § 94 durch den BGH) eine über ihren Wortlaut hinausgehende Geltung zu verschaffen. Zum anderen haben die sozialrechtlichen Ermächtigungen zwar den gleichen Effekt wie Konzernverrechnungsklauseln, nämlich den einer Sicherung des Gläubigers in der Insolvenz seines Schuldners, aber sie haben schwerlich diesen Zweck. Vielmehr dienen sie nur der engen Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger und der Verwaltungsvereinfachung, wie auch daraus erhellt, dass die Verrechnungsbefugnis nicht dem in der Gläubigerrolle, sondern dem in der Schuldnerrolle befindlichen Sozialleistungsträger zugesprochen wird (selbstredend nur nach Ermächtigung seitens des anderen Sozialleistungsträgers). Man sollte den sozialrechtlichen Ermächtigungen keine über diesen vergleichsweise "harmlosen" Zweck hinausreichende, bedenkliche, nämlich die Gesamtheit der Insolvenzgläubiger durch eine Vervielfältigung von Aufrechnungsmöglichkeiten benachteiligende Wirkung beimessen. Deshalb spricht einiges dafür, die Aufrechnungsverbote des § 96 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 analog auf die sozialrechtlichen Ermächtigungen anzuwenden.
Mit analoger Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 2 hat der BGH auch die Unwirksamkeit einer auf Konzernverrechnungsklauseln gestützten Aufrechnung begründet (s. o. bei § 94 Rn. 8).