Entscheidungsstichwort (Thema)
Einverständnis des Beteiligten mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Hinweispflicht des Gerichts bei Durchführung der mündlichen Verhandlung
Leitsatz (amtlich)
Teilt ein nicht rechtskundig vertretener Beteiligter mit seiner Erklärung, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden, zugleich mit, es sei somit davon auszugehen, dass der angesetzte Verhandlungstermin entfalle, so hat ihn das Gericht auf den Irrtum hinzuweisen, bevor es die mündliche Verhandlung durchführt; anderenfalls verletzt es dessen Anspruch auf rechtliches Gehör.
Leitsatz (redaktionell)
Der Anspruch eines nicht rechtskundig vertretenen Klägers auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Gericht diesen nicht darauf hingewiesen hat, eine mündliche Verhandlung werde trotz seines Einverständnisses mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durchgeführt. Der Kläger wird dadurch nämlich in seinem Irrtum belassen, dass wegen seines Einverständnisses der angesetzte Termin entfalle. Infolgedessen hat er praktisch keine Gelegenheit, an der mündlichen Verhandlung, also dem Kernstück des gerichtlichen Verfahrens teilzunehmen.
Normenkette
SGG §§ 62, 106 Abs. 1, § 124 Abs. 1-2
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 13.03.2008; Aktenzeichen L 6 VS 4103/06) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 27.06.2006; Aktenzeichen S 6 VS 2781/04) |
Tatbestand
Im vorinstanzlichen Verfahren lud das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg den Kläger am 26.2.2008 mit Zustellungsurkunde zur mündlichen Verhandlung am 13.3.2008. Zugleich bat es diesen mitzuteilen, ob er mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei. Mit einem am 9.3.2008 per Telefax beim LSG eingegangenen Schriftsatz äußerte sich der Kläger daraufhin ua wie folgt: |
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"Mit Entscheidungen des Gerichts ohne mündliche Verhandlung erkläre ich mich einverstanden. Es ist somit davon auszugehen, dass der angesetzte Verhandlungstermin am 13.3.2008 entfällt." |
Ohne weitere Mitteilung an den Kläger führte das LSG am 13.3.2008 eine mündliche Verhandlung durch, zu der der Kläger nicht erschien. Im Anschluss daran verkündete es nach geheimer Beratung das die Berufung des Klägers zurückweisende Urteil. Darin ist die Auffassung der Beklagten und der Erstinstanz bestätigt worden, dass dem Kläger kein Anspruch auf Ausgleich nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung zustehe. Soweit der Kläger die Gewährung von Unfallruhegehalt nach § 27 SVG begehrt, ist seine Berufung als unzulässig angesehen worden. |
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Er beruft sich auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Außerdem macht er als Verfahrensmängel Verletzungen der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) sowie seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) geltend . Einen Gehörsverstoß sieht er darin, dass er als nicht anwaltlich Vertretener vom LSG nicht gemäß § 106 Abs 1 SGG darauf hingewiesen worden sei, dass trotz seiner Einverständniserklärung eine mündliche Verhandlung durchgeführt werde. Wäre das LSG seiner Mitteilungspflicht nachgekommen, wäre es ihm, dem Kläger, im Rahmen der mündlichen Verhandlung möglich gewesen, aus eigener sachkundiger Sicht die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen der Dienstverrichtung und der Schädigung darzulegen und ggf zu beweisen.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Dieser hat zutreffend eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 SGG iVm § 106 Abs 1 SGG) geltend gemacht.
Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) verletzt, indem es diesen nicht darauf hingewiesen hat, eine mündliche Verhandlung werde trotz seines Einverständnisses mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durchgeführt. Der nicht rechtskundig vertretene Kläger wurde dadurch in seinem Irrtum belassen, dass wegen seines Einverständnisses der angesetzte Termin entfalle. Infolgedessen hatte er praktisch keine Gelegenheit, an der mündlichen Verhandlung, dem Kernstück des gerichtlichen Verfahrens (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57; BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6; BSG SozR 4-1500 § 112 Nr 2 RdNr 11), teilzunehmen.
Nach § 124 Abs 1 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung. Die Beteiligten haben ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und dort mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG; danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Es steht demnach bei Vorliegen eines solchen Einverständnisses im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es tatsächlich ein Urteil ohne mündliche Verhandlung erlässt. Es ist also durch den Verzicht der Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung nicht gezwungen, von dieser Abstand zu nehmen (so schon BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 2).
Eine diesbezügliche Einverständnis- bzw Verzichtserklärung hat der Kläger hier zwar mit dem am 9.3.2008 bei Gericht eingegangenen Schreiben abgegeben. Er hat in diesem Schreiben jedoch zugleich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er davon ausgehe, dass damit der angesetzte Verhandlungstermin am 13.3.2008 entfalle. Die sich aus dem Grundrecht auf ein faires Verfahren (vgl hierzu etwa BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6 mwN) ergebende Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber rechtlich nicht bewanderten Beteiligten hätte es jedenfalls im vorliegenden Fall geboten, dass das LSG den Kläger entsprechend § 106 Abs 1 SGG auf seinen Irrtum und das Bestehenbleiben des Termins hinwies, damit er das ihm weiterhin zustehende Recht, in der durchgeführten mündlichen Verhandlung mit seinen Ausführungen gehört zu werden, auch in Anspruch nehmen konnte.
Auf dem gerügten Verfahrensfehler kann das angegriffene Berufungsurteil auch beruhen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das LSG bei Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu einem für ihn günstigeren Ergebnis gekommen wäre (hierzu schon BSGE 17, 44, 47; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Komm, 9. Aufl, § 62 RdNr 11c, mwN). Insbesondere hätte der Kläger in der mündlichen Verhandlung noch einen den Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechenden Beweisantrag stellen können, mit dem er dem Gericht einen weiteren Aufklärungsbedarf aufgezeigt hätte, etwa zu Fragen, die mit der Kausalität zwischen einer dem Wehrdienst zuzuordnenden schädigenden Einwirkung (hier ionisierende Strahlen) und den vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen zusammenhängen. Das LSG wäre möglicherweise auch zu einer anderen Entscheidung betreffend einen Anspruch des Klägers nach § 27 SVG gelangt, wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung insoweit die Verweisung an das zuständige Gericht beantragt hätte.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, denn es ist nicht zu erkennen, dass die vom Kläger für rechtsgrundsätzlich bedeutsam gehaltenen Fragen einer weiteren Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bedürfen. So lässt sich etwa die vom Kläger angesprochene Frage, ob der Abschlussbericht der Radarkommission vom 2.7.2003 als sogenanntes antizipiertes Sachverständigengutachten der Prüfung der Wehrdienstbeschädigung zu Grunde gelegt werden konnte, bereits anhand der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Regelwerken beantworten, die auf Erkenntnissen und Erfahrungen von Fachleuten verschiedener Fachgebiete beruhen und bei gleichen Sachverhalten einheitliche Antworten auf Gutachterfragen ermöglichen (vgl etwa zur TA Luft: BVerwGE 55, 250, 256 f; BVerwG, NVwZ 1988, 824; zu den Anhaltpunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht: BSGE 67, 204, 208 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 1 S 5 f; zu den Empfehlungen für die Einschätzung der MdE bei Berufskrankheiten: BSGE 82, 212, 214 f = SozR 3-2200 § 581 Nr 5 S 16 f; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 8 S 40 f). Auch mit den vom Kläger weiter angesprochenen Fragen zu Beweiserleichterungen (bis hin zur Beweislastumkehr) im sozialen Entschädigungsrecht hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits mehrfach befasst (hierzu BSG SozR 3-1750 § 444 Nr 1; BSGE 83, 279, 281 = SozR 3-3700 § 15 Nr 2 und zuletzt BSG SozR 4-3100 § 1 Nr 3 RdNr 22).
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 2084571 |
NZS 2009, 472 |