Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung. Vergleichsberechnung einer gezahlten zwischenstaatlichen Rente
Leitsatz (amtlich)
Bei der innerstaatlichen Berechnung der Rente nach dem europäischen Koordinationsrecht beginnt der belegungsfähige Gesamtzeitraum für die Gesamtleistungsbewertung bereits mit Vollendung des 17. Lebensjahrs, selbst wenn der Versicherte erst danach nach Deutschland gekommen ist.
Orientierungssatz
Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 13.12.2012 - 1 BvR 2323/12).
Normenkette
SGB 6 § 71; SGB 6 § 72; EWGV 1408/71 Art. 46; EGV 883/2004 Art. 52; SGG § 160a
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. Juni 2011 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Im Streit steht die Höhe der dem Kläger bewilligten Regelaltersrente.
Der 1940 geborene Kläger ist portugiesischer Staatsangehöriger; er hat zunächst in seinem Heimatland und seit Mai 1973 in Deutschland Versicherungszeiten zur Rentenversicherung erworben. Ab Oktober 2000 gewährte ihm die Beklagte auf seinen Rentenantrag eine - ausschließlich nach innerstaatlichem Recht berechnete - Altersrente wegen Arbeitslosigkeit als vorläufige Leistung.
Nachdem der Kläger eine Bescheinigung des portugiesischen Versicherungsträgers vom 15.11.2001 über Beitragszeiten von 1964 bis 1966 vorgelegt hatte, stellte die Beklagte die Regelaltersrente des Klägers neu und endgültig in Höhe von monatlich € 417,84 fest (Bescheid vom 2.1.2002 und Widerspruchsbescheid vom 29.4.2002). Dem lag die - im Vergleich zur innerstaatlichen höhere - zwischenstaatliche Berechnung nach Art 46 Abs 2 EWGV 1408/71 zugrunde. Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos (Urteile des SG Hamburg vom 29.1.2004 und des LSG Hamburg vom 21.9.2005). Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 12.12.2006 das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückverwiesen. Das LSG hat eine vom portugiesischen Rentenversicherungsträger ausgestellte Bescheinigung E 205 PT vom 10.2.2010 (in der neben den bereits berücksichtigten 27 Monaten Beitragszeiten weitere 27 Monate sowie eine Ergänzungszeit von 20 Monaten bestätigt worden waren) beigezogen; auf dieser Grundlage stellte die Beklagte die Rente des Klägers neu in Höhe von monatlich € 452,54 ab dem 1.5.2010 fest sowie eine Nachzahlung von € 663,87 für die Zeit vom 1.1.2006 bis zum 30.4.2010 (Bescheid vom 1.4.2010). Auch dieser Neuberechnung lag die (höhere) zwischenstaatliche Berechnung nach Art 46 Abs 2 EWGV 1408/71 zugrunde. Bei der rein innerstaatlichen Vergleichsberechnung nach Art 46 Abs 1 Buchst a Ziff i EWGV 1408/71 ging die Beklagte im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung nach § 72 Abs 2 S 1 SGB VI von einem belegungsfähigen Gesamtzeitraum ab dem vollendeten 17. Lebensjahr des Klägers aus.
Das LSG hat die Berufung gegen das Urteil des SG Hamburg vom 29.1.2004 erneut zurückgewiesen (Urteil vom 21.6.2011): Der Bescheid vom 1.4.2010 sei nach § 96 SGG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden. Eine höhere als die mit diesem Bescheid zuerkannte Rente stehe dem Kläger nicht zu. Die Beklagte habe alle mitgeteilten portugiesischen Versicherungszeiten berücksichtigt. Weitere Beitragszeiten seien nicht ersichtlich und ergäben sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers. Die Berechnung der Beklagten sei zutreffend. Dies gelte sowohl für den eigentlichen Rechenvorgang als auch für die Grundannahme, dass bei der Vergleichsberechnung nach innerstaatlichem Recht der belegungsfähige Gesamtzeitraum nach § 72 Abs 2 SGB VI die Zeit vom vollendeten 17. Lebensjahr bis zum Kalendermonat vor Beginn der zu berechnenden Rente unabhängig davon umfasse, wo diese zurückgelegt worden sei. Aus Art 46 Abs 1 EWGV 1408/71 folge nicht, dass für die rein innerstaatliche Rentenberechnung lediglich die Zeiträume als belegungsfähig herangezogen werden dürften, die der Versicherte im Inland zurückgelegt habe (Hinweis auf LSG Rheinland-Pfalz vom 8.9.2004 - L 6 RJ 15/03). Auch die zwischenstaatliche Berechnung habe die Beklagte zutreffend durchgeführt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil richtet sich die Beschwerde des Klägers. Er beruft sich auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
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1. Sie ist unbegründet, soweit der Kläger folgende Rechtsfrage als grundsätzlich bedeutsam bezeichnet: |
"Sind bei der innerstaatlichen Berechnung gemäß Art 52 Abs 1 Buchst a EGV 883/2004 bzw Art 46 Abs 1 EWGV 1408/71 Zeiten im EU-Ausland gemäß § 72 SGB VI nicht belegungsfähig?" |
Hierzu trägt der Kläger vor, zu diesem Problem liege keine Entscheidung des BSG vor. Lediglich das LSG Rheinland-Pfalz habe im Urteil vom 8.9.2004 (L 6 RJ 15/03) die Problematik behandelt und angenommen, es sei nicht zu beanstanden, dass in die Berechnung des belegungsfähigen Gesamtzeitraums nach § 72 SGB VI auch die im EU-Ausland zurückgelegten Zeiten des Versicherten einbezogen würden. Im Rahmen der bei der innerstaatlichen Berechnung durchzuführenden Gesamtleistungsbewertung umfasse der belegungsfähige Gesamtzeitraum nach § 72 Abs 2 SGB VI die Zeit vom vollendeten 17. Lebensjahr des Rentenantragstellers bis zum Kalendermonat vor Beginn der zu berechnenden Rente. Nicht belegungsfähig nach § 72 Abs 3 SGB VI seien Kalendermonate mit beitragsfreien Zeiten, die nicht auch Berücksichtigungszeiten seien sowie Bezugszeiten einer Rente. Beitragsfreie Zeiten würden umso höher bewertet, je geringer der belegungsfähige Gesamtzeitraum sei. Würde daher bei der Bewertung der beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten lediglich auf den Zeitraum ab dem Beginn der Beschäftigung des Klägers in Deutschland (Mai 1973) abgestellt (und nicht auf die Zeit ab dem 17. Lebensjahr), wären die beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten höher zu bewerten; denn dann wäre der belegungsfähige Gesamtzeitraum kürzer. Es stelle sich die Frage, ob die Regelung in § 72 SGB VI in der Auslegung des LSG nicht zu einer unzulässigen Kürzungsklausel werde.
Aus dieser Argumentation ergibt sich jedoch kein revisionsgerichtlicher Klärungsbedarf:
Selbst wenn die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde in Bezug auf die Bemessung des belegungsfähigen Gesamtzeitraums bei der innerstaatlichen Berechnung den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) genügen sollte (§ 160a Abs 2 S 3 SGG), ist die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zu verneinen.
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a) Denn die Antwort auf die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage ergibt sich zweifelsfrei aus dem Gesetz: |
Bei der (im Rahmen der Vergleichsberechnung nach Art 46 EWGV 1408/71 als Zwischenschritt durchzuführenden) rein innerstaatlichen Berechnung nach Art 46 Abs 1 Buchst a Ziff i EWGV 1408/71 erfolgt die Berechnung allein nach den für die Rentenberechnung maßgeblichen innerstaatlichen, dh im vorliegenden Fall deutschen Rechtsvorschriften. Hieran zweifelt auch der Kläger nicht. Im deutschen Recht sind bei der Rentenberechnung - soweit für die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage von Belang - die Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung nach den §§ 71 ff SGB VI festzustellen. Hierbei umfasst (im Fall einer Altersrente) nach § 72 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB VI der belegungsfähige Gesamtzeitraum die Zeit vom vollendeten 17. Lebensjahr bis zum Kalendermonat vor Beginn der Rente. Der Wortlaut des Gesetzes knüpft mithin für die Bestimmung des Beginns des belegungsfähigen Gesamtzeitraums an ein bestimmtes Alter des Versicherten an und nicht an seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Versicherung oder an seinen Aufenthaltsort. |
Bei der Berechnung der Rentenhöhe für beitragsfreie Zeiten (Gesamtleistungsbewertung nach §§ 71 ff SGB VI) entfallen auf die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten keine Beiträge (§ 71 Abs 1 S 1 SGB VI); sie sind infolgedessen versicherungsrechtliche Lücken und mindern als solche den Gesamtleistungswert (vgl Bokeloh in juris-PraxisKomm SGB I, 2. Aufl 2011, Art 57 VO ≪EG≫ 883/2004 RdNr 15). Vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum als nicht belegungsfähig abzuziehen sind nach § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI lediglich Kalendermonate mit beitragsfreien Zeiten (§ 54 Abs 4 SGB VI), die nicht auch Berücksichtigungszeiten sind (§ 57 SGB VI), und nach Nr 2 Zeiten, in denen eine Rente aus eigener Versicherung bezogen worden ist, die nicht auch Beitragszeiten oder Berücksichtigungszeiten sind. Ein Auslandsaufenthalt und dort ggf absolvierte rentenversicherungsrechtliche Zeiten sind hingegen weder für Deutsche noch für ausländische Staatsangehörige vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum ausgenommen. Eine gesetzliche Grundlage für eine Einschränkung dieses Zeitraums auf Zeiten, in denen sich der Versicherte im Inland aufgehalten hat, ist nicht ersichtlich und wird auch vom Kläger nicht dargelegt.
Hierin liegt - entgegen der Meinung des Klägers - keine europarechtlich bedenkliche "Kürzungsklausel". Bei der rein innerstaatlichen Berechnung handelt es sich lediglich um einen Zwischenschritt bei der Feststellung der konkreten Rentenhöhe. Sinn und Zweck der innerstaatlichen Vergleichsberechnung ist es, zu verhindern, dass das Gemeinschaftsrecht dem Versicherten eine Rente entzieht, die ihm bereits nach nationalem Recht zusteht (sog Petroni-Prinzip, vgl hierzu EuGH Urteil vom 21.10.1975 - C-24/75 - EuGHE 1975, 1149). Führt die unter Berücksichtigung der ausländischen Versicherungszeiten durchzuführende zwischenstaatliche Berechnung - wie in den Bescheiden vom 2.1.2002 und 1.4.2010 beim Kläger - zu einem höheren Rentenbetrag, ist dieser maßgeblich. Die EGV 883/2004 hat hieran in der Sache nichts geändert (vgl nunmehr Art 52 EGV 883/2004).
b) Diese Antwort auf die Rechtsfrage 1 entspricht auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung: Denn zum Ende des belegungsfähigen Gesamtzeitraums hat der 5. Senat des BSG bereits entschieden, dass der Aufenthalt im Ausland einer Einbeziehung in den belegungsfähigen Gesamtzeitraum nach § 72 Abs 2 S 1 SGB VI nicht entgegen steht (BSG SozR 4-2600 § 72 Nr 2 RdNr 15 ff). Für den Beginn dieses Zeitraums gilt nichts Abweichendes.
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2. Der Kläger hat zur zwischenstaatlichen Berechnung die Fragen aufgeworfen, ob gemäß § 54 SGB VI die in Portugal zuerkannten |
(a) Zeiten "für die Erlangung des Anspruchs" oder die "für die Errechnung der Leistung" als Beitragszeiten |
(b) Ergänzungszeiträume nach den og Zeiten als "gleichgestellte Zeiten" zu berücksichtigen seien. |
Insoweit ist jedoch die Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig, weil sie die Darlegungserfordernisse (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) nicht erfüllt.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (stRspr; vgl zum Ganzen BSG vom 25.9.2002, SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen, letzteres jedoch nur, soweit sich nicht bereits aus der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit die behauptete Breitenwirkung ergibt.
Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung hinsichtlich der og Frage (b) schon deshalb nicht, weil sie deren Klärungsbedürftigkeit in keinerlei Hinsicht erläutert. Ebenso wenig kann ausreichen, dass der Kläger zur Frage (a) lediglich ausführt, das LSG habe ohne Begründung lediglich die Zeiten "für die Erlangung des Anspruchs" zugrunde gelegt; vom BSG sei die Frage noch nicht entschieden worden. Es fehlt an jeglicher Darlegung, welche Rechtsvorschriften einschlägig sind und ob sich nicht schon anhand derer die gestellte Frage beantwortet. Damit kann noch nicht einmal beurteilt werden, ob die Rechtsfrage Bundesrecht oder europäisches Recht, also gemäß § 162 SGG revisibles Recht (zum Europarecht vgl BVerfG vom 31.5.1990, BVerfGE 82, 159, 196 unter Hinweis auf BVerwG vom 12.6.1970, BVerwGE 35, 277 Leits 2) betrifft oder nicht revisibles ausländisches (portugiesisches) Recht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2973841 |
ZfSH/SGB 2013, 569 |