Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. rechtliches Gehör. persönliches Erscheinen
Orientierungssatz
1. Art 103 Abs 1 GG und § 62 SGG verlangen nicht, dass der Beteiligte selbst gehört wird (vgl BSG vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B und vom 17.1.1994 - 9 BV 118/93). Das Gericht ist daher nicht verpflichtet, dafür Sorge zu tragen (etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrkosten), dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann (vgl BSG vom 21.8.2008 - B 13 R 109/08 B). Dies gilt insbesondere dann, wenn er im Verfahren durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist, durch den er sich - ua in der mündlichen Verhandlung - Gehör verschaffen kann (vgl BSG vom 21.8.2008 - B 13 R 109/08 B, vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B und vom 17.1.1994 - 9 RV 118/93).
2. Vielmehr steht die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten im Ermessen des Vorsitzenden des Berufungsgerichts (§§ 153 Abs 1, 111 Abs 1 S 1 SGG). Hierauf besteht kein Anspruch des Beteiligten.
Normenkette
SGG §§ 62, 111 Abs. 1 S. 1, § 153 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 20.05.2008; Aktenzeichen L 18 R 147/08) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 21.07.2006; Aktenzeichen S 22 RJ 160/04) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Mai 2008 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Mit Urteil vom 20.5.2008 hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung der von ihm geltend gemachten Beschäftigungen während seines Aufenthalts im Ghetto Kaunas von Juli 1941 bis Juli 1943 verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Er rügt das Vorliegen von Verfahrensfehlern iS von § 160 Abs 2 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung vom 7.10.2008 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substanziiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Der Kläger rügt, die Zurückweisung seines Antrags, sein persönliches Erscheinen anzuordnen und ihn persönlich anzuhören, durch das LSG verstoße gegen die Grundsätze des rechtlichen Gehörs, eines fairen Verfahrens sowie der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens. Auch wenn das sozialgerichtliche Verfahren eine Parteivernehmung nicht kenne, sei dennoch anerkannt, dass das Beteiligtenvorbringen eine wichtige Erkenntnisquelle darstelle und richterlich umfassend zu würdigen sei. Der Antrag auf persönliche Anordnung besitze daher einen beweisantragsähnlichen Charakter, der vom LSG bei der Sachaufklärung im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG zu berücksichtigen sei.
Der Kläger hat eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫, § 62 SGG) dadurch, dass er vom LSG nicht persönlich zu seiner Tätigkeit auf dem Flugplatz Alexotas und den dortigen Arbeitsbedingungen angehört worden sei, nicht dargelegt. Mit dieser Rüge kann der Kläger schon deshalb nicht durchdringen, weil er nicht dargetan hat, selbst alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
Art 103 Abs 1 GG und § 62 SGG verlangen nicht, dass der Beteiligte selbst gehört wird (Senatsbeschluss vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B, Juris RdNr 8; BSG vom 17.1.1994 - 9 RV 118/93, Juris RdNr 2). Das Gericht ist daher nicht verpflichtet, dafür Sorge zu tragen (etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrkosten), dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann (Senatsbeschluss vom 21.8.2008 - B 13 R 109/08 B; Littmann in Lüdtke, Handkomm zum SGG, 2. Aufl 2006, § 62 RdNr 6). Dies gilt insbesondere dann, wenn er im Verfahren - wie vorliegend - durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist, durch den er sich - ua in der mündlichen Verhandlung - Gehör verschaffen kann (vgl Senatsbeschlüsse vom 21.8.2008 und 14.11.2005, aaO; BSG vom 17.1.1994, aaO). Vielmehr steht die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten im Ermessen des Vorsitzenden des Berufungsgerichts (§§ 153 Abs 1, 111 Abs 1 Satz 1 SGG). Hierauf besteht kein Anspruch des Beteiligten (Roller in Lüdtke, Handkomm zum SGG, aaO, § 111 RdNr 3; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Komm, 9. Aufl. 2008, § 111 RdNr 2b). Es kann dahinstehen, ob und inwieweit dem Beschwerdegericht eine Überprüfung der dem Vorsitzenden eingeräumten Ermessensentscheidung zusteht. Der Kläger hat jedenfalls keine ausreichenden Gründe dargetan, denen entnommen werden könnte, dass durch die Nichtanordnung des persönlichen Erscheinens der dem Vorsitzenden zustehende Ermessensspielraum überschritten worden sei. Die Hinweise auf sein schweres Verfolgungsschicksal als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, den "entschädigungsrechtlichen Hintergrund des ZRBG", sein hohes Alter (85 Jahre) und seinen Wohnsitz im Ausland reichen nicht aus, um eine Ermessensreduzierung auf Null und einen Anspruch des Klägers auf persönliche Anhörung zu bejahen. Zwar mag die Anordnung des persönlichen Erscheinens geboten sein, um einem Beteiligten Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag von vornherein keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleisten kann (vgl BSG vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91, Juris RdNr 11). Solche besonderen Umstände hat der Kläger jedoch nicht dargelegt. Er hat nicht aufgezeigt, warum es ihm nicht möglich gewesen sei, durch schriftliche Erklärungen bzw Erläuterungen zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. Auch hat der Kläger nicht schlüssig dargetan, warum nur bei einer persönlichen Anhörung und nicht etwa auch bei einer erläuternden schriftlichen Darstellung der Arbeitsbedingungen auf dem Flugplatz Alexotas eine "freiwillig zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt" hätte glaubhaft gemacht werden können.
Sofern der Kläger vorträgt, das LSG habe durch die Ablehnung seines schriftsätzlich gestellten Antrags, ihn persönlich anzuhören, gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen, räumt er selbst ein, mit diesem Antrag kein im sozialgerichtlichen Verfahren zulässiges Beweismittel benannt zu haben.
Aber selbst wenn in eng begrenzten Ausnahmefällen eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht iS des § 103 SGG bei Unterlassen einer persönlichen Anhörung eines Beteiligten angenommen werden könnte, hätte unter Beachtung der Darlegungserfordernisse einer ordnungsgemäßen Sachaufklärungsrüge (vgl BSG vom 22.9.2008 - B 5 R 104/08 B) vorgetragen werden müssen, dass hier ein derartiger Sachverhalt vorliegt und aus welchen Gründen im Einzelnen das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den Kläger persönlich zu hören. An entsprechendem Vortrag fehlt es. Insbesondere hat der Kläger nicht aufgezeigt, warum nur seine persönliche Anhörung und nicht etwa auch (eingehende) schriftliche Erläuterungen oder Erklärungen im vorbereitenden Verfahren zur weiteren Sachaufklärung seiner damaligen Arbeitssituation auf dem Flugplatz Alexotas hätten beitragen können.
Sofern der Kläger weiter rügt, das LSG habe dadurch, dass er nicht persönlich angehört worden sei, gegen den "Grundsatz der Unmittelbarkeit sowie der Mündlichkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens" und das Gebot eines fairen Verfahrens verstoßen, hat er diese - vermeintlichen - Verfahrensfehler nicht schlüssig dargelegt. Denn das LSG hat nach seinen Vortrag weder ihn noch seine Prozessbevollmächtigte - etwa durch Ablehnung eines begründeten Vertagungsantrags - gehindert, sich durch Anwesenheit bei der Berufungsverhandlung Gehör zu verschaffen. Sofern er sinngemäß einen Verstoß des LSG gegen die in § 117 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG vorgeschriebene Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme rügt, wonach das Gericht in der mündlichen Verhandlung Beweis erhebt, trägt der Kläger nicht vor, dass das LSG einen Beweis erhoben habe, der auch in einer mündlichen Verhandlung hätte erhoben werden können.
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen