Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Rüge eines Verfahrensmangels. Nichtberücksichtigung eines Antrags auf Anhörung eines Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Verstoß gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung. Gutachten nach § 109 SGG
Orientierungssatz
1. Grundsätzlich hat ein Beteiligter gemäß §§ 116 S 2, 118 Abs 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 ZPO das Recht auf Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Dies gilt auch dann, wenn dieser Sachverständige ein Gutachten auf Antrag eines Beteiligten gemäß § 109 SGG erstellt hat (vgl BSG vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R = SozR 3-1750 § 411 Nr 1).
2. Der Antrag auf Anhörung eines solchen Sachverständigen ist von dem Antrag nach § 109 SGG zu trennen. Er kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, das Antragsrecht nach § 109 SGG sei verbraucht. Insofern handelt es sich auch nicht um eine Frage des Rechts auf Ausgestaltung der Gutachtenerstattung gemäß § 109 SGG durch einen Beteiligten.
Normenkette
SGG §§ 109, 116 S. 2, § 118 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 3
Verfahrensgang
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw wegen voller Erwerbsminderung über den 30. Juni 2000 hinaus.
Das Sozialgericht Hamburg hat mit Urteil vom 13. Januar 2003 die auf Fortzahlung der bis 30. Juni 2000 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht Hamburg (LSG) nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf Antrag der Klägerin das Gutachten des Neurologen, Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. L. vom 13. September 2004 eingeholt. Dieses kommt zu dem Ergebnis, die Klägerin sei zu einer Arbeitsleistung nicht mehr in der Lage; sie leide an einem tiefgreifend ausgeprägten, vitalisierten depressiven Verstimmungszustand mit psychosomatischen Wechselbeziehungen und teilweise hysterischer Ausgestaltung auf dem Boden einer andauernden Persönlichkeitsveränderung; hierzu hat die Beklagte unter Vorlage einer Äußerung des Internisten und Sozialmediziners Dr. F. vom 11. November 2004 ablehnend Stellung genommen. Im Anhörungsverfahren nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG hat die Klägerin beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und Dr. L. persönlich anzuhören, insbesondere zu den von Dr. F. erhobenen Einwendungen.
Mit Beschluss vom 1. Februar 2005 nach § 153 Abs 4 SGG hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Es hat im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei nicht erwerbsunfähig. Es könne nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass eine zumindest vollschichtige leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließende Einschränkung des Leistungsvermögens vorliege. Weder von Seiten des orthopädischen noch des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets lasse sich eine wesentliche Leistungseinschränkung feststellen. Der Berufungssenat folge der Einschätzung von Dr. R. (neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 5. November 2001 und 20. Dezember 2002) und Dr. J. (internistisches Gutachten vom 18. Oktober 2000). Den neurologisch-psychiatrischen Gutachten von Dr. M. (vom 27. Juni 2002) und von Dr. L. (vom 13. September 2004) könne nicht gefolgt werden; für die dort diagnostizierten schweren psychischen Beeinträchtigungen fehle es an einem objektivierbaren Befund. Dem Antrag der Klägerin auf Anhörung von Dr. L. in der mündlichen Verhandlung habe der Berufungssenat nicht stattgegeben. Dr. L. habe sich im Rahmen des gemäß § 109 SGG erstatteten Gutachtens schriftlich geäußert. Damit sei der Senat dem Antrag auf Anhörung eines Arztes des Vertrauens nachgekommen. Es könne unentschieden bleiben, inwieweit ein Antragsteller überhaupt gestaltend auf die Art der Gutachtenerstattung - schriftlich oder mündlich oder in Kombination beider Varianten - Einfluss nehmen könne. Die Klägerin habe weder dargelegt, zu welchen Punkten der Sachverständige im Einzelnen gehört werden solle, noch warum es einer mündlichen Vernehmung bedürfe, also eine schriftliche Ergänzung des Gutachtens nicht ausreichen solle.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin einen Verstoß gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung geltend. Das LSG hätte, auch wenn in der ersten Instanz bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden habe, nicht allein aufgrund der Aktenlage entscheiden dürfen, da der Fall schwierig sei und tatsächliche Fragen von erheblicher Bedeutung habe. Des Weiteren sei zu rügen, dass trotz eines entsprechenden rechtzeitigen Antrags der Gutachter Dr. L. in der mündlichen Verhandlung nicht angehört worden sei. Zumindest sei zu erwarten gewesen, dass das LSG eine entsprechende schriftliche Stellungnahme von Dr. L. zu den Einwendungen von Dr. F. einholen werde. Sofern man davon ausgehen wollte, der Antrag sei nicht hinreichend konkret gewesen, so wäre das Berufungsgericht gehalten gewesen, auf eine entsprechende Konkretisierung hinzuwirken.
Die Beschwerde ist zulässig. Die Klägerin rügt zwar - abgesehen von Art 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschrechte und Grundfreiheiten - nicht ausdrücklich die Verletzung einer bestimmten Verfahrensvorschrift; aus ihren Ausführungen ist jedoch hinreichend zu entnehmen, dass sie sich durch die Entscheidung des LSG allein nach Aktenlage überrascht sieht, nachdem sie auf das Anhörungsschreiben des Berufungssenats im Hinblick auf die allein nach Aktenlage abgegebene Stellungnahme des Internisten Dr. F. ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die persönliche Anhörung des Gutachters Dr. L. beantragt habe. Sinngemäß rügt die Klägerin damit die Verletzung des § 153 Abs 4 SGG, weil das LSG ohne die beantragte Anhörung des Sachverständigen durch Beschluss entschieden habe. Die Beschwerde ist auch begründet. Der genannte Verfahrensmangel liegt vor. Das LSG hat § 153 Abs 4 SGG verletzt, und es ist nicht auszuschließen, dass das LSG nach dem beabsichtigten Vortrag der Klägerin bzw nach Durchführung einer Verhandlung zugunsten der Klägerin entschieden hätte.
Das LSG hätte im gegebenen Verfahrensstadium die Berufung nicht durch Beschluss zurückweisen dürfen. Wenn es nicht mündlich verhandeln wollte, hätte es auf den Antrag der Klägerin zumindest entweder eine schriftliche Stellungnahme des Dr. L. einholen oder sie (erneut) anhören müssen, dass trotz ihres Vorbringens weiter die Absicht bestehe, nach § 153 Abs 4 SGG zu verfahren.
Grundsätzlich ist die vom Gesetz eingeräumte Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, weil eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten wird, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden (Senatsbeschluss vom 20. November 2003 - B 13 RJ 38/03 B und Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 31. Juli 2002 - B 4 RA 28/02 R). Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung oder die erneute Anhörung zu einer beabsichtigten Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG ist daher dann erforderlich, wenn ein Beteiligter auf die Anhörungsmitteilung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG neue, nicht erkennbar unsubstantiierte Beweisanträge stellt (stRspr des BSG, vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4, 8; BSG, Beschluss vom 10. März 2004 - B 6 KA 118/03 B; Senatsbeschluss vom 9. Januar 2003 - B 13 RJ 199/02 B; BSG, Beschluss vom 1. September 1999 - B 9 SB 7/98 R).
So aber lag der Fall hier. Die Klägerin hatte im Anhörungsverfahren einen Beweisantrag gestellt, der weder die reine Wiederholung eines vorherigen Beweisantrages noch unsubstantiiert war.
Die Klägerin beantragte erstmals nach Erhalt der Anhörungsmitteilung die Vernehmung (Anhörung) des Sachverständigen Dr. L. im Termin zur mündlichen Verhandlung. Zwar hat sie - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - keine einzelnen, detaillierten Beweisfragen formuliert, die dem Sachverständigen gestellt werden sollten. Doch war der Beweisantrag jedenfalls nicht unsubstantiiert, denn die Klägerin hat die Notwendigkeit der Befragung nachvollziehbar dargelegt (vgl hierzu BSG, Beschluss vom 2. November 1989 - 2 BU 112/89). Aus der Formulierung des Beweisantrags ergab sich das Beweisziel mit hinreichender Deutlichkeit: Der Sachverständige Dr. L. sollte jedenfalls zu den Einwendungen des beratenden Arztes der Beklagten Dr. F. gegen sein Gutachten gehört werden. Welche Einwendungen dies nur sein konnten, ergab sich aus der, lediglich zwei Seiten umfassenden, Stellungnahme von Dr. F. vom 11. November 2004.
In dieser Situation durfte sich das LSG nicht allein auf die Begründung zurückziehen, einer Anhörung habe es nicht bedurft, weil die Klägerin weder die einzelnen Punkte dargelegt habe, zu denen Dr. L. gehört werden sollte, noch warum ihrer Ansicht nach eine schriftliche Ergänzung des Gutachtens nicht ausreichend sei. Die Widersprüche zwischen dem Gutachten von Dr. L. und der Stellungnahme von Dr. F. waren offenkundig. Wenn das LSG keine mündliche Verhandlung durchführen wollte und sich außerdem nicht gehalten sah, von Amts wegen zu versuchen, die genannten Widersprüche durch eine ergänzende Stellungnahme von Dr. L. zu klären, hätte es zumindest die Klägerin im Rahmen einer erneuten Anhörung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG hiervon in Kenntnis setzen müssen.
Der Berücksichtigung dieses Verfahrensfehlers im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass das von Dr. L. erstattete Gutachten gemäß § 109 SGG auf Antrag der Klägerin eingeholt worden war. Zwar ist nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die Rüge ausgeschlossen, § 109 SGG sei durch das Tatsachengericht verletzt worden. Dieser Ausschluss bezieht sich jedoch nicht auf das Recht des Beteiligten, den nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen zu befragen, und auch nicht auf die Pflicht des Gerichts, in begründeten Fällen diesen Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung anzuhören.
Grundsätzlich hat ein Beteiligter gemäß § 116 Satz 2, § 118 Abs 1 SGG iVm § 397, § 402, § 411 Abs 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) das Recht auf Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung. Dies gilt auch dann, wenn dieser Sachverständige ein Gutachten auf Antrag eines Beteiligten gemäß § 109 SGG erstellt hat (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 5 f; so auch Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl, § 118 RdNr 12h; Zeihe, SGG, § 160 RdNr 22). Der Antrag auf Anhörung eines solchen Sachverständigen ist von dem Antrag nach § 109 SGG zu trennen. Er kann daher nicht mit der Begründung abgelehnt werden, das Antragsrecht nach § 109 SGG sei verbraucht. Insofern handelt es sich auch nicht um eine Frage des Rechts auf Ausgestaltung der Gutachtenerstattung gemäß § 109 SGG durch einen Beteiligten, wie das LSG offenbar meint.
Offen bleiben kann, ob mit der Verletzung des § 153 Abs 4 SGG zugleich die Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichtern und damit ein absoluter Revisionsgrund nach § 202 SGG iVm § 551 Nr 1 ZPO gerügt wird, bei dem unwiderleglich zu vermuten wäre, dass die angegriffene Entscheidung auf der Gesetzesverletzung beruht (so BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; offen gelassen in BSG, Beschluss vom 9. April 2003 - B 5 RJ 140/02 B; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 7, 14). Der angefochtene Beschluss kann jedenfalls auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass entweder eine zusätzliche Stellungnahme durch Dr. L. oder aber ein Vortrag der Klägerin auf eine zweite Anhörungsmitteilung hin bzw in einer mündlichen Verhandlung, ggf nach weiterer Sachaufklärung, zu einem anderen Ergebnis des Berufungsverfahrens geführt hätte.
Zur Vermeidung einer weiteren Verfahrensverzögerung sowie weiterer Kosten macht der Senat von der durch § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die Sache im Beschlusswege zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen