Entscheidungsstichwort (Thema)
Arzneimittelzulassung. Maßgeblichkeit der Roten Liste. keine gerichtliche Überprüfung. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Nichtberücksichtigung vorgelegter Studien- und Forschungsergebnisse zur Arzneianwendung von AIDS-Patienten. Bedeutung der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit einer Behandlungsmethode durch den Arzt. Kostenerstattung durch die Krankenkasse bei medizinisch-fachlich umstrittenen Off-Label-Use
Orientierungssatz
1. Für den Umfang der Arzneimittelzulassung ist die Rote Liste nicht maßgeblich, sondern der Inhalt des Zulassungsbescheids.
2. Die Arzneimittelzulassung kann nicht sozialgerichtlich überprüft werden.
3. Es ergeben sich keine genügenden Anhaltspunkte für ausreichende Studien und/oder für Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Konsens zur Anwendung von Immunglobulinen bei erwachsenen AIDS-Patienten, sodass der Vorhalt an das Berufungsgericht nicht durchgreift, es hätte sich in seinem Urteil näher mit ihnen befassen müssen.
4. Der Einschätzung des einzelnen Arztes kann eine ausschlaggebende Bedeutung nicht beigemessen werden, wenn die wissenschaftliche Diskussion und die Durchführung von Studien bereits in vollem Gange sind, sich schon zahlreiche Sachverständige geäußert haben sowie bereits Vergleiche mit anderen, in gleicher Weise Erkrankten möglich sind (siehe hierzu BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = NJW 2006, 891 RdNr 66) und auch schon Ergebnisse vorliegen, die - sei es mangels Aussicht auf Heilung oder wegen unzuträglicher Nebenwirkungen - gegen die Anwendung einer Methode bzw eines Arzneimittels sprechen.
5. Im Falle eines Off-Label-Use kann der Vertragsarzt für die Verordnung von Arzneimitteln, die von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen sind - dem Patienten ein Privatrezept ausstellen und es diesem überlassen, sich bei der Krankenkasse um Erstattung der Kosten zu bemühen. In dem besonderen Fall eines medizinisch-fachlich umstrittenen Off-Label-Use kann er auch zunächst selbst bei der Krankenkasse deren Auffassung als Kostenträger einholen und im Ablehnungsfall dem Patienten ein Privatrezept ausstellen. Ermöglicht der Vertragsarzt indessen nicht auf diese Weise eine Vorab-Prüfung durch die Krankenkasse, sondern stellt er ohne vorherige Rückfrage bei dieser eine vertragsärztliche Verordnung aus und löst der Patient diese in der Apotheke ein, so sind damit die Arzneikosten angefallen, und die Krankenkasse kann nur noch im Regresswege geltend machen, ihre Leistungspflicht habe nach den maßgeblichen rechtlichen Vorschriften nicht bestanden. Verhindert ein Vertragsarzt durch diesen Weg der vertragsärztlichen Verordnung bei einem medizinisch umstrittenen Off-Label-Use eine Vorab-Prüfung durch die Krankenkasse und übernimmt er damit das Risiko, dass später die Leistungspflicht der Krankenkasse verneint wird, so kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet werden.
6. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 28.11.2006 - 1 BvR 2020/06).
Normenkette
BMV-Ä § 29 Abs. 1, 8; EKV-Ä § 15 Abs. 1, 7; SGB 5 § 27 Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 1, § 135 Abs. 1 S. 1; SGG §§ 62, 160 Abs. 2 Nrn. 2-3, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen einen Arzneikostenregress wegen eines unzulässigen Off-Label-Use bei der Behandlung erwachsener AIDS-Patienten.
Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Auf der Grundlage verschiedener Auskünfte und Stellungnahmen, die zum Teil die Vorinstanzen selbst eingeholt und zum Teil die Beteiligten eingereicht haben (Paul-Ehrlich-Institut, Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen - Arbeitsausschuss "Arzneimittel" -, Kassenärztliche Bundesvereinigung ≪KÄBV≫, Medizinischer Dienst der Krankenkassen, II. Medizinische Klinik und Poliklinik der Technischen Universität München, Empfehlungen der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e.V. ≪DAGNÄ≫, Prof. Dr. Dietrich und Privatdozent Dr. Rockstroh), haben das Sozial- und das Landessozialgericht (LSG) die Klage und die Berufung zurückgewiesen.
Im Urteil des LSG ist ausgeführt, das verfahrensmäßige Vorgehen des Beklagten sei nicht zu beanstanden. Dieser habe eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der Methode der eingeschränkten Einzelfallprüfung durchführen dürfen, ungeachtet dessen, dass auch ein Verfahren auf Feststellung eines sonstigen Schadens mit der Voraussetzung einer schuldhaften Pflichtverletzung denkbar gewesen wäre. Der Arzneikostenregress in Höhe von ca 127.000 DM für das Quartal III/1997 sei berechtigt. Der Kläger habe für erwachsene AIDS-Patienten Immunglobuline verordnet, die bei diesen nur bei bestimmten Indikationen und lediglich bei AIDS-kranken Kindern umfassend anwendbar seien, wie die Prüfgremien zu Recht ermittelt sowie das Paul-Ehrlich-Institut und der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in ihren sachverständigen Stellungnahmen bestätigt hätten. Unerheblich sei das Vorbringen des Klägers, die in der sog "Roten Liste" enthaltene Beschreibung der Zulassung der Immunglobulinpräparate bzw der dafür maßgebenden Fachinformation ergebe diese Beschränkungen nicht. Denn die Ärzte dürften sich nicht nur an der "Roten Liste" orientieren; diese könne Inhalt und Umfang der Zulassung des Arzneimittels nicht ändern und enthalte nur kurz gehaltene Angaben. Die Diagnosen hätten in den beanstandeten Fällen bei keinem der Patienten auf eine Indikation gelautet, die in der Zulassung für die Verordnung der Immunglobuline bei Erwachsenen angegeben sei. Ein zulässiger Off-Label-Use liege nicht vor, weil von dessen drei Voraussetzungen (schwerwiegende bzw lebensbedrohliche Erkrankung/keine andere Therapiemöglichkeit/begründete Aussicht auf Behandlungserfolg) jedenfalls die dritte fehle. Ein Beleg für eine Erfolgsaussicht liege nicht vor. Für die Anwendung bei Erwachsenen gebe es bisher weder Ergebnisse von Studien über einen entsprechenden Nutzen bei vertretbaren Risiken, noch hätten Veröffentlichungen Qualität und Wirksamkeit der vom Kläger eingesetzten Immunglobuline bei Erwachsenen zuverlässig und wissenschaftlich nachprüfbar belegt und zu einem Konsens über deren Nutzen in den einschlägigen Fachkreisen geführt.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger Abweichungen von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sowie Mängel des Verfahrens des LSG geltend.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
1. Die vom Kläger erhobenen Rügen, es lägen Rechtsprechungsabweichungen vor (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) , sind unzulässig. Für eine solche Divergenzrüge sind Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer höchstrichterlichen Entscheidung einander gegenüberzustellen und ist auszuführen, dass bzw inwiefern das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (Darlegungspflicht gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) . Diesen Darlegungsanforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Der Kläger hat keinen höchstrichterlichen Rechtssatz angeführt, von dem die von ihm herangezogenen Rechtssätze des LSG abweichen könnten.
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a) Der Kläger entnimmt dem angefochtenen Urteil des LSG den Rechtssatz, dass zur Ermittlung der Anwendungsgebiete, die in der Zulassung der Immunglobulinpräparate ausgewiesen sind, nicht auf die Information abgestellt werden kann, die sich aus der sog "Roten Liste" ergibt, vielmehr der vom Paul-Ehrlich-Institut sowie vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen ermittelte Zulassungsinhalt zu Grunde zu legen ist (s LSG-Urteil S 29 ff und Beschwerdebegründung S 9 ff) . Ein davon abweichender höchstrichterlicher Rechtssatz - etwa derart, dass der Inhalt der Zulassung sich der Roten Liste entnehmen lasse - kann den vom Kläger angeführten Entscheidungen von BSG und BVerfG jedoch nicht entnommen werden: |
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In der vom Kläger angeführten Passage des BSG-Urteils vom 19. März 2002 heißt es: "Fachinformation des Herstellers ... , vgl auch "Rote Liste" ...(BSGE 89, 184, 186 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 30) . Diese Verknüpfung mit "vgl auch" zeigt, dass das BSG gerade nicht den Rechtssatz aufstellt, für den Inhalt der Zulassung sei die Rote Liste maßgeblich, sondern zwischen der eigentlichen Fachinformation und den Angaben der Roten Liste unterscheidet. Es berücksichtigt, dass die Rote Liste die Anwendungsvorgaben der Zulassung nicht abschließend wiedergibt, wie auch im dortigen Vorwort klargestellt wird (s Rote Liste 1997, S 4: "Da die Texte nicht wortwörtlich die Fachinformationen wiedergeben, sondern knapp formuliert sind...wird empfohlen, immer auch die aktuelle Fachinformation zu Rate zu ziehen.") . |
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Ebenso wenig lässt sich eine Abweichung des LSG von dem ferner vom Kläger angeführten BSG-Urteil vom 8. März 1995 feststellen, wonach die Arzneimittelzulassung nicht gerichtlich überprüft werden kann (BSG SozR 3-2500 § 31 Nr 3 S 10) . Das LSG hat nicht die Zulassung überprüft, sondern nur deren Inhalt ermittelt. |
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In den vom Kläger benannten Beschlüssen des BVerfG vom 5. März 1997 heißt es lediglich allgemein, mit der arzneimittelrechtlichen Zulassung liege ein eindeutiges und zugängliches sowie auch zuverlässiges Kriterium für die Verordnungsfähigkeit pharmazeutischer Produkte vor (BVerfG ≪Kammer≫, NJW 1997, 3085 und MedR 1997, 318, 319) . Darin ist kein Rechtssatz enthalten, dass die in der Zulassung genannten Anwendungsgebiete aus der Roten Liste zu ermitteln seien. |
Mithin hat der Kläger keinen Rechtssatz aus einer höchstrichterlichen Entscheidung benannt, von dem das Urteil des LSG abgewichen sein könnte. |
b) Eine Rechtsprechungsabweichung ist auch nicht daraus zu entnehmen, dass das LSG den Inhalt der Zulassung mit Hilfe von Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen aus den Jahren 2002 und 2003 - also aus späteren Jahren - festgestellt hat. Die Ansicht des Klägers, dies sei unvereinbar mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur maßgebenden Sach- und Rechtslage bei Anfechtungsklagen (Beschwerdebegründung S 12) , trifft nicht zu. Die berücksichtigten Stellungnahmen stammen zwar von einem erst späteren Zeitpunkt als dem Erlass des Verwaltungsaktes bzw des Widerspruchsbescheides, sie treffen aber Aussagen zum Inhalt der Zulassung, wie dieser auch schon früher - 1997 - umschrieben war (s Schreiben des Paul-Ehrlich-Instituts vom 30. Oktober 2002: "Die genannten Produktewaren und sindin dieser Indikation zugelassen...") .
Ebenso wenig zeigt der Kläger eine Abweichung des LSG von dem in der Rechtsprechung anerkannten Rechtssatz auf, für die Wirksamkeit normativer Regelungen müssten die von ihnen Betroffenen die Möglichkeit haben, sie zur Kenntnis zu nehmen (Beschwerdebegründung S 12 f) . Denn dieser Rechtssatz betrifft nur Rechtsnormen, wie auch dessen Wiedergabe durch den Kläger selbst belegt (aaO S 12) . Arzneimittelzulassungen sind indessen Verwaltungsakte und keine Rechtsnormen (so auch Beschwerdebegründung S 15) .
2. Ebenfalls erfolglos ist das Vorbringen des Klägers, dem LSG seien Verfahrensmängel anzulasten (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) , weil es seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe, indem es vorgelegte Studien und Forschungsergebnisse zur Arzneianwendung bei erwachsenen AIDS-Patienten - und sogar nahezu sein gesamtes Vorbringen - nicht berücksichtigt habe (Beschwerdebegründung S 19, 20) . Diese Rüge ist zwar zulässig, weil die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde insoweit den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG Rechnung trägt. Sie ist aber unbegründet.
Für den Vorhalt, ein Gericht habe ein Vorbringen unberücksichtigt gelassen, bestehen besondere Anforderungen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung erwägt, auch wenn sich dies nicht ausdrücklich aus dem Urteil ergibt. Die gegenteilige Annahme - des Versäumnisses eines Gerichts, auf eine bestimmte Argumentation der Beteiligten einzugehen - bedarf greifbarer Anhaltspunkte, die der Beschwerdeführer aufzuzeigen hat (vgl dazu zB BSGE 88, 193, 204 = SozR 3-2500 § 79a Nr 1 S 13; BVerfGE 79, 51, 61 mwN; 86, 133, 145 f mwN; 87, 1, 33 = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 4; BVerfGE 96, 205, 216 f; BVerfG ≪Kammer≫, NJW-RR 2002, 68, 69) . Dabei ist die materiell-rechtliche Beurteilung, von der das LSG ausgegangen ist, zu Grunde zu legen (s zB BSG, Beschluss vom 28. April 2004 - B 6 KA 75/03 B - mwN - juris; vgl auch BVerfGE 86, 133, 146; 105, 279, 312) . Denn nur auf dieser Grundlage könnte in Betracht kommen, dass eine ausführlichere Erörterung des LSG, wie der Kläger sie vermisst, zu einem anderen Urteilsspruch hätte führen können (vgl hierzu zB BVerfGE aaO und BSGE 69, 280, 284 = SozR 3-4100 § 128a Nr 5 S 35 mwN) .
Dem vorliegend angefochtenen LSG-Urteil liegt materiell-rechtlich die Beurteilung der beanstandeten Verordnungen des Klägers nach den Maßstäben für einen sog Off-Label-Use zu Grunde, weil sie außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete für die Immunglobuline lagen, da bei keinem der Patienten die Diagnose auf eine Indikation lautete, die in der Zulassung als Anwendungsgebiet für Erwachsene angegeben war (worin eine das BSG bindende Tatsachenfeststellung iS des § 163 SGG liegt). Ein Off-Label-Use könne nur unter drei Voraussetzungen gebilligt werden (schwerwiegende bzw lebensbedrohliche Erkrankung/keine andere Therapiemöglichkeit/begründete Aussicht auf Behandlungserfolg). Von diesen fehle jedenfalls die dritte. Die Erfolgsaussicht sei entweder durch Ergebnisse von Studien über einen entsprechenden Nutzen bei vertretbaren Risiken zu belegen oder dadurch, dass Veröffentlichungen über Qualität und Wirksamkeit der vom Kläger eingesetzten Immunglobuline bei Erwachsenen vorlägen und zu einem Konsens über deren Nutzen in den einschlägigen Fachkreisen geführt hätten (vgl LSG-Urteil S 31-33) .
Klinische Prüfungen oder Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Konsens, wie sie nach dieser hier zu Grunde zu legenden materiell-rechtlichen Auffassung des LSG für einen zulässigen Off-Label-Use vorgelegen haben müssten, sind aus den Stellungnahmen, mit denen sich das LSG nach Ansicht des Klägers hätte näher auseinandersetzen müssen, nicht erkennbar. Dies gilt insbesondere für die vom Kläger beispielhaft angeführten Stellungnahmen der DAGNÄ und der KÄBV, für das Gutachten des Privatdozenten Dr. Rockstroh sowie für sein eigenes in Bezug genommenes Vorbringen im Schriftsatz vom 9. Juli 2004 (zu dieser Aufzählung s Beschwerdebegründung S 19) . Die Stellungnahmen der DAGNÄ und der KÄBV ergeben Aussagen und Beurteilungen bzw Anregungen zu Behandlungen mit Immunglobulinen; sie enthalten aber weder Angaben über klinische Prüfungen, noch benennen sie (weitere) wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Aussagen über Erfolge bei Behandlungen erwachsener AIDS-Patienten mit Immunglobulinen. Dies gilt ebenso für das Gutachten von Dr. Rockstroh und für die eigenen Ausführungen des Klägers, etwa in dem von ihm in Bezug genommenen Schriftsatz vom 9. Juli 2004.
Hinsichtlich der Studie von Kiehl et al. hat der Kläger bereits nicht dargelegt, dass sich daraus klinische Prüfungen oder wissenschaftliche Veröffentlichungen mit entsprechenden Aussagen für einen zulässigen Off-Label-Use entnehmen ließen. Wie er selbst vorträgt, waren die von Kiehl et al. geschilderten Patientenuntersuchungen nach verhältnismäßig kurzer Zeit von einer Ethikkommission gestoppt worden (wobei die Angaben des LSG und des Klägers über die Gründe hierfür divergieren); sie waren mithin nicht bis zur Erlangung statistisch relevanter Aussagen weiter geführt worden. Soweit der Kläger in der Studie von Kiehl et al. eine maßgebliche Rechtfertigung seiner Verordnungsweise sieht, hätte er auch berücksichtigen müssen, dass Kiehl et al. selbst ausdrücklich weitere Studien hinsichtlich HIV-infizierter Erwachsener mit wiederholten bakteriellen Infektionen als offensichtlich dringend erforderlich bezeichnet haben (s Archives of Internal Medicine, Vol 156 ≪1996≫ No 22, page 2545, 2549 u 2550) , also selbst klargestellt haben, dass ihre Untersuchungen noch kein statistisch ausreichend valides Studienergebnis erbracht hatten.
Nach alledem ergeben die vom LSG eingeholten bzw ihm vorgelegten Informationen usw keine genügenden Anhaltspunkte für ausreichende Studien und/oder für Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Konsens zur Anwendung von Immunglobulinen bei erwachsenen AIDS-Patienten, sodass der Vorhalt an das LSG nicht durchgreift, es hätte sich in seinem Urteil näher mit ihnen befassen müssen.
Das Urteil des LSG erweist sich im Übrigen auch nicht nachträglich angesichts der Entscheidung des BVerfG vom 6. Dezember 2005 als näher begründungsbedürftig. Dieses hat nicht die Gewährung jeder Behandlung und Verordnung für jede lebensbedrohliche Erkrankung gefordert. Es erachtet deren Gewährung vielmehr nur dann für erforderlich, wenn keine andere, dem medizinischen Standard näher stehende Behandlungsmethode zur Verfügung steht, und dies gilt auch nur für solche Methoden, die eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder jedenfalls auf spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall bieten (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 -, NJW 2006, 891) . Dabei soll auch der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit einer Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten Bedeutung zukommen, aber nur abgeschwächt im Sinne einer "weiteren Bedeutung" (BVerfG, aaO S 894 RdNr 66 aE) . Mithin kann der Einschätzung des einzelnen Arztes eine ausschlaggebende Bedeutung nicht beigemessen werden, zumal dann nicht, wenn - wie es vorliegend der Fall war - die wissenschaftliche Diskussion und die Durchführung von Studien bereits in vollem Gange sind, sich schon zahlreiche Sachverständige geäußert haben sowie bereits Vergleiche mit anderen, in gleicher Weise Erkrankten möglich sind (s hierzu BVerfG, aaO RdNr 66) und auch schon Ergebnisse vorliegen, die - sei es mangels Aussicht auf Heilung oder wegen unzuträglicher Nebenwirkungen - gegen die Anwendung einer Methode bzw eines Arzneimittels sprechen. Vor diesem Hintergrund kann in einem Fall wie dem vorliegenden nicht der Vorhalt durchgreifen, das LSG hätte sich mit der Einschätzung durch den behandelnden Arzt selbst - hier durch den Kläger - weitergehend als geschehen auseinandersetzen müssen.
Auch sonst weist das Berufungsurteil kein als Verfahrensmangel zu wertendes Begründungsdefizit auf. Aus den umfangreichen Darlegungen des Klägers zur medizinischen Rechtfertigung seiner Verordnungspraxis hat das LSG (auch) den Schluss ziehen dürfen, dass diesem klar war oder jedenfalls hätte klar sein müssen, dass seine Verordnungen für erwachsene AIDS-Patienten einen Off-Label-Use darstellten, der medizinisch-fachlich und damit zwangsläufig auch rechtlich umstritten war. In einem solchen Fall musste er nicht, wie es in § 29 Abs 1 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) und § 15 Abs 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen (EKV-Ä) als Grundsatz für den Normalfall nicht ausgeschlossener Verordnungen normiert ist, die vertragsärztliche Verordnung allein verantworten (zur geplanten Regelung des Off-Label-Use in den Arzneimittel-Richtlinien siehe den noch nicht in Kraft getretenen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses für einen neuen Abschnitt H vom 18. April 2006) . Im Falle eines Off-Label-Use kann er vielmehr - entsprechend der Regelung in § 29 Abs 8 BMV-Ä und § 15 Abs 7 EKV-Ä für die Verordnung von Arzneimitteln, die von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen sind - dem Patienten ein Privatrezept ausstellen und es diesem überlassen, sich bei der Krankenkasse um Erstattung der Kosten zu bemühen. In dem besonderen Fall eines medizinisch-fachlich umstrittenen Off-Label-Use kann er auch zunächst selbst bei der Krankenkasse deren Auffassung als Kostenträger einholen und im Ablehnungsfall dem Patienten ein Privatrezept ausstellen. Ermöglicht der Vertragsarzt indessen nicht auf diese Weise eine Vorab-Prüfung durch die Krankenkasse, sondern stellt er ohne vorherige Rückfrage bei dieser eine vertragsärztliche Verordnung aus und löst der Patient diese in der Apotheke ein, so sind damit die Arzneikosten angefallen und die Krankenkasse kann nur noch im Regresswege geltend machen, ihre Leistungspflicht habe nach den maßgeblichen rechtlichen Vorschriften nicht bestanden. Verhindert ein Vertragsarzt durch diesen Weg der vertragsärztlichen Verordnung bei einem medizinisch umstrittenen Off-Label-Use eine Vorab-Prüfung durch die Krankenkasse und übernimmt er damit das Risiko, dass später die Leistungspflicht der Krankenkasse verneint wird, so kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet werden.
3. Erfolglos sind schließlich auch die übrigen vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) . Diese sind unzulässig, denn insoweit fehlt es an den erforderlichen Darlegungen (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) .
Die Ansicht des Klägers, das LSG habe die Richtigkeit der Zulassung geprüft, obgleich es sachlich nicht zuständig sei (Beschwerdebegründung S 15 f) , lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Das LSG hat nach dem Kontext seines Urteils nur den Inhalt der Zulassung ermittelt - was seine Aufgabe ist -, nicht aber deren Richtigkeit überprüft.
Die Darlegung eines Verfahrensmangels lässt sich auch nicht seiner Rüge entnehmen, das LSG habe keine ausreichende Begründung für seine Schlussfolgerung gegeben, die Verordnung der Medikamente Intraglobin F, Octagam und Intrimun sei außerhalb deren arzneimittelrechtlicher Zulassung erfolgt (Beschwerdebegründung S 16) . Nach dem Kontext des LSG-Urteils stellt dessen Ergebnis, die Verordnungen seien außerhalb der Zulassung erfolgt, keine näher zu begründende beweismäßige Tatsachenwürdigung dar, sondern ist eine Schlussfolgerung aus dem gerichtlich ermittelten rechtlichen Inhalt der Zulassung (in diesem Sinne auch Beschwerdebegründung S 17 f) .
Die erforderlichen Darlegungen fehlen ferner bei der Rüge des Klägers, das LSG habe die Tatbestandswirkungen der Zulassung verkannt (Beschwerdebegründung S 17) . Das LSG hat nach dem Kontext seines Urteils die Rechtswirkungen der Zulassung im Gegenteil gerade respektiert und deshalb deren Inhalt ermittelt. Dieser Ermittlung liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass die Angaben der Roten Liste nicht allein ausreichen. Hierin liegt eine materiell- rechtliche Differenz zur Ansicht des Klägers. Inwiefern ein Verfahrens mangel vorliegen könnte, ist nicht ersichtlich.
Ebenso wenig dargelegt ist der Vorhalt unzulässiger Ausforschung (Beschwerdebegründung S 18: "Ausforschungsbeweis") . Denn, wie ausgeführt, hat das LSG lediglich Ermittlungen zur Feststellung des rechtlichen Inhalts der Zulassung betrieben. Anhaltspunkte für eine unzulässige Ausforschung sind nicht ersichtlich.
Ein Verfahrensmangel kommt schließlich auch nicht im Zusammenhang mit der Rüge in Betracht, die Zuordnung der Krankheiten zu primären oder sekundären Immunmangelkrankheiten bzw Immundefekt(erkrankung)en und auch die sonstige Charakterisierung einiger Erkrankungen seien nicht korrekt (Beschwerdebegründung S 18 unten) . Insoweit kann allenfalls ein inhaltlicher Fehler, aber nicht ein Verfahrensmangel vorliegen.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung) .
Fundstellen
Haufe-Index 1822377 |
MedR 2007, 557 |