Leitsatz (amtlich)
1. Der im RVO § 1303 Abs 1 vorgesehene Antrag ist eine materiellrechtliche Voraussetzung des Anspruchs auf Beitragserstattung.
2. Der Anspruch auf Beitragserstattung nach RVO § 1303 Abs 1 setzt nicht voraus, daß die Versicherungspflicht in allen Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung erst mit oder nach dem Inkrafttreten des ArVNG entfällt; der Anspruch besteht - bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen - vielmehr auch dann, wenn die Versicherungspflicht bereits vorher entfallen ist.
Normenkette
RVO § 1233 Fassung: 1957-02-23, § 1303 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Oktober 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Für die 1932 geborene Klägerin sind während ihrer Tätigkeit als Platzanweiserin von 1952 bis zum Juli 1954 insgesamt 28 Monate Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden. Im März 1957 beantragte die Klägerin die Erstattung des Arbeitnehmeranteils dieser Beiträge von insgesamt 165,28 DM; die Beklagte lehnte diese Erstattung ab, weil die Versicherungspflicht der Klägerin schon vor dem 1. Januar 1957 entfallen sei.
Das Sozialgericht (SG.) Berlin verurteilte die Beklagte am 4. Oktober 1957 kostenpflichtig zur Erstattung des genannten Betrages. Es ist der Ansicht, daß § 1303 der Reichsversicherungsordnung n.F. (RVO) auch dann anzuwenden sei, wenn die Versicherungspflicht schon vor dem 1. Januar 1957 entfallen sei. Nach Auffassung des SG. ist die Erstattung nur dann ausgeschlossen, wenn eine Weiterversicherung des Versicherten über den 1. Januar 1957 hinaus nach § 1233 Abs. 1 RVO n. F. zulässig ist; das entfalle hier, weil die Klägerin nicht 60 Pflichtbeiträge entrichtet habe. Die Anwendbarkeit des § 1303 Abs. 1 RVO auch auf die Fälle, bei denen die Versicherungspflicht schon vor dem 1. Januar 1957 beendet gewesen sei, schließt das SG. aus Sinn und Zweck der Vorschrift, denen der Wortlaut nicht entgegenstehe. Es bestehe kein Anlaß, Versicherte, die nach dem bisherigen Recht zur Aufrechterhaltung des Versicherungsverhältnisses durch Zahlung freiwilliger Beiträge in der Lage gewesen seien und diese Möglichkeit nach neuem Recht infolge zu geringer Anzahl von Pflichtbeiträgen nicht mehr besäßen, verschieden zu behandeln, je nach dem, ob ihre Pflichtmitgliedschaft vor oder nach dem Inkrafttreten der Neuregelung ihr Ende gefunden habe. In beiden Fällen solle gleichermaßen der Verlust dieses Anwartschaftsrechts entschädigt werden. Anders könne es - worüber das SG. nicht zu entscheiden habe - nur bei denjenigen Versicherten liegen, die schon nach dem bisherigen Recht nicht weiterversicherungsberechtigt gewesen seien, weil sie weniger als 26 Wochenbeiträge entrichtet hätten.
Das SG hat gegen sein am 23. November 1957 zugestelltes Urteil vom 4. Oktober 1957 die Berufung nach § 150 Abs. 1 SGG zugelassen.
Die Beklagte hat - unter Beifügung einer schriftlichen Einwilligungserklärung der Klägerin vom 6. Dezember 1957 - am 18. Dezember 1957 Sprungrevision gegen dieses Urteil des SG. eingelegt und diese Revision gleichzeitig begründet.
Sie rügt § 1303 RVO n. F. als verletzt. Sie vertritt unter Bezugnahme auf eine Reihe von Entscheidungen (SG. Lübeck vom 4.9.1957, SG. Detmold vom 28.11.1957, SG. Schleswig vom 27.9.1957, SG. Braunschweig vom 10.1.1958, LSG. Schleswig vom 18.1.1958, LSG. Celle vom 19.3.1958) weiterhin die Auffassung, der Erstattungsanspruch des § 1303 RVO sei nur in den Fällen gegeben, in denen die Versicherungspflicht erst nach Inkrafttreten des ArVNG entfallen sei. Der Wortlaut des § 1303 setze voraus, daß in jenem Zeitpunkt des Entfallens der Versicherungspflicht bereits kein Recht zur Weiterversicherung nach § 1233 RVO bestehe; von einem solchen Weiterversicherungsrecht könne aber überhaupt erst nach Inkrafttreten des ArVNG die Rede sein. Eine rückwirkende Anwendung hätte ausdrücklich vorgesehen sein müssen; daß demgegenüber die §§ 1302 und 1304 RVO n. F. ausdrücklich die Rückwirkung ausschlössen, reiche nicht aus, im Umkehrschluß daraus für § 1303 eine Rückwirkung anzunehmen, da die Tatbestände der drei Paragraphen durchaus unterschiedlich seien. Bei vorherigem Entfallen der Versicherungspflicht habe, wenn - wie hier - mehr als 26 Pflichtbeiträge entrichtet seien, die Möglichkeit zur Weiterversicherung nach § 1244 RVO a. F. bestanden; hätte die Klägerin davon Gebrauch gemacht, so würde sie über Art. 2 § 2 ArVNG die Aufrechterhaltung der Versicherung auch über den 13. Dezember 1956 aufrechterhalten haben können. Ein Ausgleich sei daher nicht erforderlich; wenn die Klägerin von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht habe, so müsse sie den nunmehr eingetretenen Rechtsverlust ebenso hinnehmen wie die sonstigen Folgen verspäteter Beitragsentrichtung. Da ein Versicherter, der sich freiwillig bis zum Inkrafttreten der Neuregelung weiterversichert habe, keinen Anspruch auf Erstattung geltend machen könne, weil er zur freiwilligen Weiterversicherung: berechtigt sei, würde in Fällen wie dem vorliegenden eine Besserstellung für diejenigen, die ihre alte Pflichtversicherung hätten verfallen lassen, eintreten können, da wirtschaftlich vielen die Beitragserstattung lieber sei als die Möglichkeit einer Weiterversicherung.
Die Beklagte beantragt,
die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.
Die Klägerin beantragt demgegenüber
kostenpflichtige Abweisung der Revision.
Sie ist der Ansicht, sowohl der Wortlaut des Gesetzes, insbesondere die Wahl des Wortes "entfallen" bei der Versicherungspflicht, wie der Umkehrschluß aus den §§ 1303 und 1304 wie schließlich der Sinn der Bestimmung rechtfertigten die Beitragserstattung.
Entscheidungsgründe
I
Die Sprungrevision ist frist- und formgerecht unter Beifügung der in § 161 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgeschriebenen schriftlichen Einwilligungserklärung der Revisionsbeklagten eingelegt worden. Das SG. hat, da es davon ausgeht, daß im vorliegenden Fall nach § 144 SGG die Berufung ausgeschlossen ist, die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Auffassung zutrifft, oder ob die Berufung nach § 149 SGG zulässig ist; denn jedenfalls wäre auch im letzteren Falle die Sprungrevision nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes (vgl. BSG. 1 S. 135, 140 ff.) statthaft.
II
Die Revision ist jedoch nicht begründet.
Die Entscheidung hängt, da alle übrigen Voraussetzungen mit dem angefochtenen Urteil ohne Bedenken als gegeben angesehen werden können, einzig von der Frage ab, ob das SG. zu Recht davon ausgegangen ist, daß § 1303 RVO n. F. auch auf Fälle anzuwenden ist, in denen im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung - am 1. Januar 1957 - die Versicherungspflicht des Versicherten bereits entfallen war.
§ 1303 RVO n.F. ist erst am 1. Januar 1957 in Kraft getreten; er ist daher, da in den Übergangsvorschriften nichts besonderes bestimmt wird, auch nur anwendbar auf einen Sachverhalt, der erst nach jenem Zeitpunkt eingetreten ist. Der Gesetzgeber hat mit jener Bestimmung den Infrage kommenden Versicherten ein echtes Wahlrecht eingeräumt, ob sie von ihrem Erstattungsrecht Gebrauch machen wollen oder ob sie mit Rücksicht auf etwaige spätere erneute Zugehörigkeit zur Rentenversicherung mit ihren bereits gezahlten Beiträgen weiter der Versicherungsgemeinschaft angehören wollen. Dieses Wahlrecht wird ausgeübt durch die entsprechende Antragstellung. Es ergibt sich daraus, daß im Falle des § 1303 Abs. 1 - anders als § 1303 Abs. 2 und 3 RVO - der Antrag nicht nur verfahrensmäßig auslösende Bedeutung hat, sondern daß er einen wesentlichen materiell-rechtlichen Bestandteil der Anspruchsvoraussetzungen darstellt. Wird daher entsprechend der erst durch § 1303 Abs. 1 RVO eröffneten Wahlmöglichkeit vom einem Versicherten nach Inkrafttreten der Neuregelung ein entsprechender Antrag gestellt, so kann es sich dabei niemals um einen Fall rückwirkender Anwendung der neuen Vorschriften auf bereits zurückliegende Sachverhalte, sondern stets nur um einen von vornherein den neuen Vorschriften unterliegenden Sachverhalt handeln. Für die Frage, ob ein Anspruch nach 1303 Abs. 1 RVO vorliegt, kann es daher auch nur darauf ankommen, ob die außer jenem Antrag erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind. Diese liegen dann vor, wenn im Zeitpunkt des Antrags die Versicherungspflicht entfallen ist und keine Weiterversicherungsberechtigung nach § 1233 RVO besteht. Darüber, wann diese weiteren Voraussetzungen eingetreten sein müssen, besagt die gesetzliche Bestimmung ausdrücklich nichts. Während aber frühestens von dem Inkrafttreten des Gesetzes an von einer Weiterversicherungsberechtigung nach § 1233 RVO die Rede sein kann, fehlt hinsichtlich des zulässigen Zeitpunktes des Entfallens der Versicherungspflicht jede aus der Vorschrift unmittelbar zu entnehmende zeitliche Begrenzung.
Der Umstand, daß der Gesetzgeber bei den unmittelbar benachbarten verwandten Vorschriften der §§ 1302 und 1304 RVO in Art. 2 §§ 27 und 28 ArVNG eine nur die Zeit nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung erfassende Abgrenzung vorgenommen hat, spricht dafür, daß bei § 1303 Abs. 1 RVO nicht an eine derartige Einschränkung gedacht war. Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man berücksichtigt, daß auch das Recht auf die Weiterversicherung selbst nach § 1233 RVO allen Versicherten eingeräumt ist, soweit sie innerhalb der letzten 10 Jahre 60 Pflichtbeiträge entrichtet haben, völlig unabhängig davon, ob diese Beitragsleistungen schon vor oder erst nach Inkrafttreten der Neuregelung ihr Ende fanden. Da § 1303 RVO denselben Versichertenkreis für den Fall erfaßt, daß die Zeiten vorheriger Pflichtversicherung die in § 1233 RVO genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, wird man auch hinsichtlich der Frage, wann die Versicherungspflicht entfallen sein muß, beide Vorschriften übereinstimmend behandeln müssen. Schließlich spricht auch der Zweck der Bestimmung für die Auffassung des erkennenden Senats, da kein hinreichender Grund ersichtlich ist, Versicherte, denen durch die Neuregelung die Möglichkeit der Weiterversicherung genommen wird, je nach dem Zeitpunkt des letztgeleisteten Pflichtbeitrages unterschiedlich zu behandeln.
Diese Gründe werden weder durch eine Berufung auf die grammatikalische Fassung der Vorschrift (Gegenwartsform: "entfällt") noch durch einen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des § 1303 RVO wirksam entkräftet; sprachliche Ungenauigkeiten begegnen in der Gesetzgebung nicht ganz selten, und die ursprünglich beabsichtigte Regelung mit Übergangsvorschriften ganz anderer Art läßt rückschauend keine eindeutigen Schlüsse auf den Sinn der später in davon völlig abweichender Fassung in Kraft getretenen Vorschriften zu.
Die Sprungrevision erweist sich daher als unbegründet und war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1779871 |
BSGE, 127 |