Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückforderung erschlichener Versorgungsleistungen. Beginn/Berücksichtigung der Jahresfrist. Bekanntgabe eines Bescheides an Geschäftsunfähigen. Hemmung oder Unterbrechung der Jahresfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Ist ein Anerkenntnis wegen arglistiger Täuschung wirksam angefochten, richtet sich die Rückforderung der Leistungen auch dann nach § 50 Abs 2 SGB 10, wenn die Verwaltung Ausführungsbescheide erlassen hat (Fortführung von BSG vom 31.10.1991 – 7 RAr 60/89 = SozR 3-1300 § 45 Nr 10).
2. Die Rückforderung von erschlichenen Versorgungsleistungen aufgrund eines wirksam angefochtenen Anerkenntnisses richtet sich nach § 50 Abs 2 SGB 10.
3. Ein gegenüber einem Geschäftsunfähigen erlassener Verwaltungsakt wird (erst) mit der Bekanntgabe an den besonderen Vertreter nach § 15 Abs 1 SGB 10 wirksam.
4. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 ist auch im Rahmen des § 50 Abs 2 SGB 10 zu berücksichtigen.
5. Die Vorschriften des BGB über die Hemmung und Unterbrechung der Verjährung können nicht auf die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 entsprechend angewendet werden.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB X § 45 Abs. 4 S. 2, § 50 Abs. 1-2, § 15 Abs. 1 Nr. 4; BGB §§ 202, 205, 211ff; SGB X § 11 Abs. 1, § 39 Abs. 1-2; SGG § 72 Abs. 1; ZPO § 171 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Mai 1996 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als Alleinerbin verpflichtet ist, Leistungen zu erstatten, die ihr während des Revisionsverfahrens verstorbener Vater – der frühere Kläger (J.R.) – vom Beklagten erhalten hat.
Der im April 1919 in Rosa-Luxemburg/Rußland oder Schaba/Rumänien geborene J.R. stellte im September 1952 beim Versorgungsamt einen Antrag auf Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen einer angeblich im Jahre 1943 erlittenen Kriegsbeschädigung. Nach erfolglosem Verwaltungsverfahren gab der Beklagte im Verfahren vor dem Sozialgericht Ulm (SG) – S 11 V 2313/58 – aufgrund der Aussagen der Zeugen R. … und Sch., … sie hätten J.R. im Frühjahr/Sommer 1943 bei einer deutschen Panzereinheit bzw im Juni/Juli 1943 schwer verwundet in einem deutschen Feldlazarett bei Minsk/Weißrußland gesehen, ein Anerkenntnis ab, dem J.R. für die Schädigungsfolgen … ab September 1952 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH zu bewilligen. Dieses Anerkenntnis nahm der Prozeßbevollmächtigte des J.R. in der mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits am 13. Oktober 1961 an. Der Beklagte erteilte am 3. November 1961 einen entsprechenden Ausführungsbescheid und bewilligte mit Bescheid vom 13. März 1989 eine Erhöhung der Grundrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres des J.R. rückwirkend ab 1. Januar 1985 unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Verjährung.
Im März/April 1989 widerrief der Zeuge Sch. … seine im Jahre 1955 gegenüber dem Beklagten abgegebene eidesstattliche Versicherung und seine im Januar 1960 in einer mündlichen Verhandlung vor dem SG unter Eid abgegebene Aussage mit der Begründung, er und der zwischenzeitlich verstorbene Zeuge R. … hätten J.R. nie im Krieg gesehen. Sie seien von ihm gegen Zahlung eines Geldbetrages zu einer Falschaussage angestiftet worden. Im August 1989 erklärte der Beklagte gegenüber dem jetzt zuständigen SG Konstanz die Anfechtung des im Oktober 1961 abgegebenen Anerkenntnisses wegen arglistiger Täuschung durch J.R. Mit Beschluß vom 18. Oktober 1990 bestellte das SG die Klägerin zur besonderen Vertreterin des J.R, weil dieser wegen der Folgen einer Gehirnblutung ab Juli 1988 prozeßunfähig war. Mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 22. März 1991 (S 2 V 1085/89) wies das SG Konstanz die Klage ab, weil das Streitverfahren aufgrund wirksamer Anfechtung des Anerkenntnisses fortzusetzen und die behauptete Wehrdienstbeschädigung nicht zu beweisen sei.
Im Rahmen des von dem Beklagten im Juli 1991 durchgeführten Anhörungsverfahrens über die Erstattungspflicht regten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, die diese damals ebenfalls vertraten, an, für J.R. einen Prozeßpfleger bzw Vertreter nach § 15 Abs 1 Nr 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) zu bestellen. Ohne hierauf einzugehen, forderte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 30. Oktober 1991 von J.R. gemäß § 50 SGB X Beschädigtengrundrente in Höhe von 72.226,00 DM und Heilbehandlungsaufwendungen in noch unbezifferter Höhe zurück. Diesen Bescheid übersandte das Versorgungsamt dem J.R. per Einschreiben mit Rückschein am 4. November 1991. Der Rückschein wurde von der Klägerin quittiert. Mehrfertigungen dieses Bescheides ergingen zusätzlich an die Klägerin und ihre Prozeßbevollmächtigten jeweils zur Kenntnisnahme. Die Prozeßbevollmächtigten legten im November 1991 vorsorglich Widerspruch gegen den Rückforderungsbescheid ein und wiesen zudem auf ihre mangelnde Bevollmächtigung durch J.R. und die unwirksame Bekanntgabe des Bescheides an diesen hin. Aufgrund innerdienstlicher Ermittlungen im August 1992 ging der Beklagte nunmehr ebenfalls von der Geschäftsunfähigkeit des J.R. aus. Auf Antrag des Beklagten wurde der Schwiegersohn des J.R. – J. M. … – am 4. Dezember 1992 vom Vormundschaftsgericht zum besonderen Vertreter nach § 15 SGB X bestellt. Daraufhin übersandte der Beklagte den Bescheid vom 30. Oktober 1991 vorsorglich auch an den besonderen Vertreter, bei dem er am 21. Dezember 1992 einging. Dessen Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 23. April 1993). Am 2. August 1993 wurde der besondere Vertreter zum Betreuer von J.R. bestellt. Am 11. Mai 1994 genehmigte er die bisherige Prozeßführung in dem vor dem SG Konstanz seit 13. Mai 1993 anhängigen Verfahren. Mit Urteil vom 22. Juli 1994 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben (Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg ≪LSG≫ vom 14. Mai 1996). In den Entscheidungsgründen wird ua ausgeführt: Für die Rückforderung von Leistungen aufgrund eines wirksam angefochtenen Anerkenntnisses gelte § 50 Abs 2 SGB X. Die Rückforderung scheitere daran, daß der Beklagte die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X versäumt habe.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von §§ 45, 50 SGB X. Falls § 50 Abs 1 oder Abs 2 SGB X anzuwenden seien, komme es weder auf die 30-jährige Ausschlußfrist (§ 45 Abs 3 SGB X) noch auf die Jahresfrist (§ 45 Abs 4 Satz 2 SGB X) an, weil beide Vorschriften auf rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte (VA) mit Dauerwirkung zugeschnitten seien. Sei dennoch auf die Jahresfrist abzustellen, müßten §§ 203 ff, 211 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend angewendet werden. Im übrigen habe das Versorgungsamt innerhalb der Jahresfrist keine sichere Kenntnis von der Geschäftsunfähigkeit des J.R. gehabt. Bei der Bekanntgabe des Bescheides im November 1991 habe weder Pflegschaft noch Vormundschaft für J.R. bestanden. Deshalb sei von dessen Geschäftsfähigkeit auszugehen gewesen. Gehe man davon aus, daß J.R. geschäftsunfähig gewesen sei, könne eine Bevollmächtigung der Klägerin nach § 73 Abs 3 Satz 2 SGG unterstellt werden, weil sie bereits im Vorprozeß als besondere Vertreterin ihres Vaters tätig geworden sei.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Konstanz vom 22. Juli 1994 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Mai 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet. Der Beklagte kann die Rückzahlung der dem J.R. gewährten Leistungen nicht mehr verlangen.
Nach § 50 Abs 2 SGB X sind Leistungen, soweit sie ohne VA zu Unrecht erbracht worden sind, zu erstatten. §§ 45 und 48 SGB X gelten entsprechend (§ 50 Abs 2 Satz 2 SGB X). Diese Vorschriften finden hier, auch soweit es um die Erstattung von Leistungen für die Zeit vor ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 1981 geht, Anwendung (Art 2 § 40 SGB X). Ein Ausnahmefall nach Satz 3 der Vorschrift liegt nicht vor.
Die von dem Beklagten zurückgeforderten Leistungen sind ohne VA erbracht worden. Grundlage waren zunächst das im Verfahren S 11 (V) 2313/58 abgegebene Anerkenntnis und der Ausführungsbescheid vom 3. November 1961. Durch die wirksame Anfechtung des Anerkenntnisses fiel der Rechtsgrund für die Leistungen rückwirkend weg. Das gilt auch bezüglich erlassener Ausführungsbescheide. Sie teilten das rechtliche Schicksal des angefochtenen Anerkenntnisses (vgl für die Aufhebung eines Urteils BSG SozR 4100 § 152 Nr 11). Dies folgt aus § 39 Abs 2 SGB X. Nach dieser Vorschrift bleibt ein VA wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Letzteres trifft hier zu. Das SG Konstanz hat mit rechtskräftigem Urteil vom 22. März 1991 die wirksame Anfechtung des Anerkenntnisses festgestellt und die auf Versorgungsleistungen gerichtete Klage des J.R. abgewiesen. Dadurch haben sich die Bescheide vom 3. November 1961 und 13. März 1989 mit Wirkung für den gesamten Leistungszeitraum auf andere Weise iS der Vorschrift erledigt, denn ihre rechtliche Grundlage ist entfallen. § 50 Abs 2 SGB X ist daher hier ebenso anwendbar wie in den Fällen, in denen Leistungen aufgrund eines nicht rechtskräftigen, vorläufig vollstreckbaren, später wieder aufgehobenen Urteils und eines daraufhin ergangenen Ausführungsbescheides erbracht worden sind (vgl BSG SozR 1500 § 154 Nr 8; SozR 3-1300 § 45 Nr 10). Denn derjenige, der durch Täuschung ein Anerkenntnis herbeigeführt hat, das später wirksam angefochten worden ist, verdient keinen größeren Schutz als der Empfänger einer Urteilsrente. Dieser muß, solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, damit rechnen, daß ihm die Leistungen nicht zustehen und er zur Erstattung verpflichtet ist (vgl BSG SozR 4100 § 152 Nr 10 mwN; SozR 3-1300 § 45 Nr 10). Entgegen der Auffassung des Beklagten spielt es in diesem Zusammenhang deshalb keine Rolle, daß sich die Beteiligten in dem Verfahren, in dem das Anerkenntnis abgegeben und angenommen wurde, auf gleichgeordneter Ebene und nicht wie im Verwaltungsverfahren, für das §§ 50, 45 SGB X gelten, im Über- und Unterordnungsverhältnis gegenüberstehen.
Ob die Klägerin sich auf Vertrauensschutz (vgl § 45 Abs 2 und 3 SGB X) berufen kann, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Die Rückforderung der erbrachten Leistungen ist schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beklagte dem früheren Kläger J.R. nicht innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X den Rückforderungsbescheid vom 30. Oktober 1991 wirksam bekanntgegeben hat. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Jahresfrist auch im Rahmen des § 50 Abs 2 SGB X entsprechend zu berücksichtigen (vgl BSGE 60, 239, 240 = SozR 1300 § 45 Nr 26; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10 für Erstattung sog Urteilsleistungen; BSGE 75, 291, 293 = SozR 3-1300 § 50 Nr 17). Das ergibt sich schon aus der uneingeschränkten Verweisung des § 50 Abs 2 SGB X auf § 45 SGB X. Für die entsprechende Anwendung der Jahresfrist ist es rechtlich ohne Bedeutung, ob die Rückforderung nach Aufhebung eines Urteils oder aufgrund eines wirksam angefochtenen Anerkenntnisses erfolgt und ob die Vorschrift – wie der Beklagte meint – auf VA mit Dauerwirkung zugeschnitten ist. Die Jahresfrist bezweckt die Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Hinblick auf die Fälle des § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X. Sie gilt – anders als die Jahresfrist des § 48 Abs 4 Verwaltungsverfahrensgesetz – selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung und betrifft damit gerade Fallgestaltungen, in denen eine Verwirkung nur im Hinblick auf den Zeitablauf, nicht aber wegen des Verhaltens des Begünstigten in Betracht kommen kann (vgl BSGE 65, 221, 224, 227 = SozR 1300 § 45 Nr 45 und BSG SozR 1300 § 45 Nr 44).
Mit Wirkung für die Vergangenheit kann indessen ein begünstigender VA nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nur zurückgenommen werden, wenn die Behörde den Rücknahmebescheid innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen erläßt. Diese Frist beginnt zu laufen, sobald dem zuständigen Sachbearbeiter der Behörde oder des Leistungsträgers sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Dazu gehören alle Umstände, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden (BSGE 60, 239, 240 = SozR 1300 § 45 Nr 26, BSGE 65, 221, 223 ff = SozR 1300 § 45 Nr 45; BSGE 74, 20, 26 f = SozR 3-1300 § 48 Nr 32; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 27; vgl zur Problematik auch Wallerath in Sozialrechtshandbuch ≪SRH≫, 2. Aufl 1996, B 12 RdNr 232). Ob darüber hinaus mit dem Bundesverwaltungsgericht – BVerwG – (vgl BVerwGE 70, 356 ff; BVerwG, Urteil vom 5. August 1996 – 5 C 6.95, ZFSH/SGB 1997, 162) auch die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des zurückzunehmenden VA zu verlangen ist, kann der Senat offenlassen. Denn daß der Beklagte auch die Rechtswidrigkeit der dem J.R. bewilligten Leistungen kannte, ergibt sich aus den Feststellungen im angefochtenen Urteil. Danach kannte der Beklagte spätestens im Oktober 1991, als er die Rückforderung verfügt hat, alle für die Rückforderung erforderlichen Tatsachen, insbesondere auch die, aus denen sich ein Verschulden des J.R. ergab. Ob es für den Beginn der Jahresfrist auch erforderlich ist, daß dem Sachbearbeiter – wegen der notwendigen Bekanntgabe eines Rückforderungsbescheides – die Geschäftsunfähigkeit desjenigen bekannt ist, von dem Leistungen zurückgefordert werden sollen, kann hier ebenfalls offenbleiben. Denn auch diese war dem Beklagten bereits bei Erlaß des Rückforderungsbescheides bekannt. Im Verfahren S 2 V 1085/89 war ein ärztliches Gutachten vom 6. August 1990 eingeholt worden, aus dem sich die Geschäftsunfähigkeit des J.R. ergab, und daraufhin die Bestellung eines besonderen Vertreters für J.R. gemäß § 72 Abs 1 SGG erfolgt. Im übrigen hatten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin in ihrem als „Widerspruch” bezeichneten Schreiben an das Versorgungsamt Ravensburg vom 19. November 1991 ua auch auf die Geschäftsunfähigkeit des J.R. ausdrücklich hingewiesen.
Der Beklagte hat die zu Unrecht erfolgten Leistungen nicht innerhalb der Jahresfrist zurückgefordert, gleichgültig, ob diese Frist zum Zeitpunkt der Erstellung des Rückforderungsbescheides, also schon Ende Oktober 1991, oder erst im November 1991, nach Zugang des „Widerspruchs”, zu laufen begann. Dies ergibt sich aus §§ 37, 39 Abs 1 SGB X. Denn ein Bescheid wird erst mit seiner Bekanntgabe wirksam (vgl BSGE 15, 177, 180; BSG SozR 3-4150 Art 1 § 2 Nr 2). Dabei muß die Bekanntgabe, damit der VA Rechtswirkungen erzeugt (vgl § 39 SGB X, § 84 SGG), einem handlungsfähigen, also nach bürgerlichem Recht geschäftsfähigen Beteiligten (§ 11 Abs 1 Nr 1 SGB X) gegenüber erfolgen (vgl Krasney, Kasseler Komm, § 37 SGB X RdNr 4, mwN). Dies bedeutet: im Falle der Geschäftsunfähigkeit des Beteiligten wird der VA erst wirksam, wenn er seinem besonderen Vertreter oder Betreuer bekanntgegeben wird. Das ist hier aber erst am 21. Dezember 1992 mit der Bekanntgabe gegenüber dem gemäß § 15 Abs 1 Nr 4 SGB X bestellten besonderen Vertreter des J.R. – J. M. … – geschehen, und damit nach Ablauf der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGG.
Soweit der Beklagte meint, die Bekanntgabe sei schon früher erfolgt, ist dies unzutreffend. Der Bekanntgabeversuch vom 11. November 1991 gegenüber J.R. mußte schon deshalb scheitern, weil J.R. zu jenem Zeitpunkt iS des § 11 Abs 1 Nr 1 SGB X geschäftsunfähig war. Die Unwirksamkeit der Bekanntgabe ist auch nicht geheilt worden. Eine wirksame Ersatzzustellung an die jetzige Klägerin als Tochter des J.R. gemäß § 65 Abs 1 SGB X iVm §§ 3 Abs 3 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) und 181 Abs 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) ist nicht erfolgt, denn die Bekanntgabe des Erstattungsbescheides ist dem J.R. selbst per Einschreiben mit Rückschein (§ 37 Abs 1 und 2 SGB X, § 65 Abs 1 SGB X, § 4 Abs 1 VwZG) gegenüber versucht worden. Eine wirksame Ersatzzustellung scheidet hier vor allem aber deshalb aus, weil nach § 7 Abs 1 VwZG, ebenso wie nach § 171 Abs 1 ZPO, eine wirksame Bekanntgabe mittels Zustellung nur an den gesetzlichen Vertreter des prozeßunfähigen J.R. hätte erfolgen können. Zu diesem Zeitpunkt hatte J.R. aber keinen gesetzlichen Vertreter. Dieses Hindernis konnte auch nicht durch eine anderweitige Ersatzzustellung beseitigt werden (vgl Thomas/Putzo, ZPO 19. Aufl 1995, § 171 RdNr 3, 4).
Entgegen dem Revisionsvorbringen des Beklagten ist der Bescheid vom 30. Oktober 1991 dem J.R. am 4. November 1991 auch nicht deshalb wirksam bekanntgegeben worden, weil seine Tochter – die jetzige Klägerin – im Vorprozeß vor dem SG Konstanz gemäß § 72 Abs 1 SGG als besondere Vertreterin bestellt war oder nach § 73 Abs 2 Satz 2 SGG bei Verwandten gerader Linie die Bevollmächtigung auch im anschließenden Verwaltungsverfahren unterstellt werden kann. Die Bestellung nach § 72 Abs 1 SGG wirkt nur für den einzelnen Prozeß (vgl Hommel in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 72 Anm 1 – S 255 – 51. Nachtrag; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 72 RdNr 4). Sie war deshalb mit Abschluß des sozialgerichtlichen Verfahrens S 2 V 1085/89 beendet. Die Vertretungsbefugnis der Klägerin nach § 73 Abs 2 Satz 2 SGG (vgl dazu grundsätzlich Krasney, Kasseler Komm, § 13 SGB X, RdNr 5; BSGE 52, 245, 247 f = SozR 2200 § 1303 Nr 22) konnte schon deshalb nicht unterstellt werden, weil die Anwendung der genannten Vorschrift voraussetzt, daß eine rechtswirksame Bevollmächtigung durch den zu Vertretenden rechtlich möglich ist. Das war hier aber nicht der Fall, weil J.R. die Geschäftsfähigkeit fehlte.
Zu Unrecht macht der Beklagte schließlich geltend, die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X sei gehemmt oder unterbrochen worden. Dagegen spricht, daß in § 45 Abs 4 SGB X nicht – wie in § 50 Abs 4 Satz 2 und § 52 Abs 1 SGB X – auf die Bestimmungen des BGB über die Hemmung und Unterbrechung der Verjährung verwiesen wird. Es handelt sich insoweit um ein sog „beredtes” Schweigen des Gesetzgebers. Dh, nach dem Willen des Gesetzgebers sollen die BGB-Vorschriften auf die Ausschlußfrist weder unmittelbar noch analog Anwendung finden. Die Ausschlußregelung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGG hat abschließenden Charakter (vgl BSGE 65, 221, 224 = SozR 1300 § 45 Nr 45 sowie BSG, Urteil vom 31. Januar 1995 – 1 RK 6/94 = SozSich 1995, 355 f; BVerwG, Urteil vom 5. August 1996 – 5 C 6.95 – ZFSH/SGB 1997, 162, 164) und ist – jedenfalls insoweit – nicht ergänzungsbedürftig. Eine analoge Anwendung der BGB-Vorschriften würde im übrigen dem Zweck widersprechen, in relativ kurzer Zeit wieder einen Zustand der Rechtssicherheit zu schaffen. Die Behörde soll durch § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gezwungen werden, innerhalb der einjährigen Frist eine abschließende Entscheidung zu treffen, gleichgültig, ob der Betroffene Vertrauensschutz verdient oder nicht. Bei einer Unterbrechung der Rücknahmefrist durch den Erlaß des – ersten – Rücknahmebescheides gewönne die Behörde einen weiten Zeitrahmen für ersetzende weitere Bescheide. Hebt die Behörde (oder das Verwaltungsgericht) den ersten (rechtswidrigen) Rücknahmebescheid auf und erläßt sie binnen sechs Monaten einen neuen, ersetzenden VA, würde bei Anwendung der Unterbrechungsregeln gemäß § 212 Abs 2 Satz 1 BGB die Rücknahmefrist durch den ersten Rücknahmebescheid als unterbrochen gelten. Da dies für jede weitere Aufhebung des Rücknahmebescheides ebenfalls gelten würde, hätte die Behörde es in der Hand, den Ablauf der der Rechtssicherheit dienenden Jahresfrist unübersehbar weit hinauszuschieben (so mit Recht BVerwG, Urteil vom 5. August 1996, aaO).
Damit bedarf es keiner Erörterung der vom LSG und der Revision aufgeworfenen Fragen, ob § 45 Abs 3 SGB X hier entsprechend anzuwenden ist und im Hinblick auf das Urteil des Senats vom 24. März 1993 – 9/9a RV 38/91 (vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 16) eine Rückforderung der zu Unrecht erbrachten Leistungen aufgrund Anerkenntnisses wegen Ablauf der 30-Jahresfrist ausscheidet, auch wenn die Leistungen vom Betroffenen durch eine strafbare Handlung (Betrug, Bestechung) erwirkt wurden. Außerdem bedarf es hier keiner Ausführungen mehr zu der nach § 45 SGB X regelmäßig vorzunehmenden Ermessensausübung durch den Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174926 |
BSGE 80, 283 |
BSGE, 283 |
SozR 3-1300 § 50, Nr.19 |
SozSi 1998, 159 |
SozSi 1998, 276 |