Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörung, persönliche. Prozeßunfähigkeit. rechtliches Gehör. besonderer Vertreter
Leitsatz (amtlich)
Das Gericht darf die Prozeßunfähigkeit eines Beteiligten am sozialgerichtlichen Verfahren, für den ein gesetzlicher Vertreter nicht bestellt ist, nur feststellen, wenn es den Betroffenen zuvor persönlich angehört hat.
Normenkette
SGG §§ 71, 72 Abs. 1, §§ 62, 103; ZPO §§ 53, 57; FGG § 68 Abs. 1-2; GG Art. 103
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 29.10.1991; Aktenzeichen L 4 Vg 7/90) |
SG Speyer (Entscheidung vom 17.10.1990; Aktenzeichen S 4 Vg 1/89) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Oktober 1991 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Streitig ist unter den Beteiligten in der Sache der Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG), prozessual die Prozeßfähigkeit des Klägers seit Einlegung der Berufung.
Der 1932 geborene Kläger ist aufgrund verschiedener – auch psychischer – Gesundheitsstörungen und Funktionsausfälle schwerbehindert mit einem GdB von 100. Im September 1976 beantragte er erstmals bei den Versorgungsbehörden Entschädigung wegen Gesundheitsstörungen, die er im August 1976 als Opfer eines Raubüberfalles erlitten haben will. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. Mai 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 1977 ab. Der Bescheid erlangte Bestandskraft. Im März 1988 stellte der Kläger einen (zweiten) Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheides. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 22. November 1988 ab. Für die hiergegen verspätet erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage bewilligte das Sozialgericht (SG) Speyer dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; außerdem wurde ihm Prozeßkostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet. Als sich herausstellte, daß der Kläger zugleich mit der Klageschrift eine gefälschte Zeugenerklärung vorgelegt hatte, hob das SG mit Beschlüssen vom 2. April und 6. Juli 1990 die Beiordnung des Rechtsanwalts und die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe auf. Es ließ den Kläger, der sich damals im Rahmen einer Maßregel nach § 64 des Strafgesetzbuches (StGB) vom 16. November 1989 bis August 1990 zur Alkoholentziehung in der P.… L.… befand, durch einen der Klinikärzte schriftlich zur Frage seiner Prozeßfähigkeit begutachten. Aufgrund des im wesentlichen nach Aktenlage erstatteten Gutachtens bestellte es einen besonderen Vertreter nach § 72 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), ohne dem Gesuch des Klägers auf “persönliche Ladung” und Anordnung des Ruhens des Verfahrens bis zu seiner Entlassung aus der psychiatrischen Klinik entsprochen zu haben. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 17. Oktober 1990, zu dem nur der besondere Vertreter des Klägers geladen und erschienen war, wies das SG die Klage als unbegründet ab. Gegen dieses Urteil legte der Kläger persönlich Berufung ein und beantragte Prozeßkostenhilfe sowie Beiordnung eines Rechtsanwalts. Zur Begründung rügte er unter anderem Verletzung rechtlichen Gehörs, weil er zum Termin vor dem SG nicht geladen worden sei. Er sei nicht prozeßunfähig und verlange seine persönliche Anhörung. Den Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 29. Oktober 1991 teilte das Landessozialgericht (LSG) sowohl dem Kläger als auch seinem “besonderen Vertreter” mit. Als nach Aufruf der Sache (12.00 Uhr) kein Beteiligter erschien, wurde beschlossen, nach Aktenlage zu entscheiden. Kurz nach Schluß der mündlichen Verhandlung (um 12.15 Uhr) erschien der Kläger und rügte erneut die Versagung rechtlichen Gehörs. Das LSG sah von einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ab und verwarf die Berufung als unzulässig. Der Kläger sei, wie das vom SG eingeholte Sachverständigengutachten zeige, dauernd prozeßunfähig und die von ihm eigenhändig eingelegte Berufung daher “nichtig”.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Das LSG hätte ihn vor Feststellung seiner Prozeßunfähigkeit “anhören” müssen. Dazu sei es auch ohne ausdrückliche entsprechende Verfahrensvorschrift verpflichtet gewesen.
Er beantragt,
den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Urteile und Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, Versorgung nach dem OEG ab 1. Januar 1984 wegen der Folgen der am 1. August 1976 erlittenen Schädigung zu gewähren,
hilfsweise
die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Der Kläger habe Gelegenheit gehabt, in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG sein Anliegen vorzutragen, sei aber nicht erschienen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig. Insbesondere gilt der Kläger, soweit er mit diesem Rechtsmittel seine Prozeßfähigkeit geltend macht, als prozeßfähig (Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl Anm 8a zu § 71 SGG; BSGE 5, 176). Die Revision ist iS einer Zurückverweisung der Streitsache an das LSG auch begründet.
Das LSG hat die Berufung des Klägers verworfen, weil es den Kläger für prozeßunfähig gehalten hat. Diese Feststellung, die das Urteil trägt, ist verfahrensfehlerhaft getroffen worden (§§ 62, 103 SGG). Der Kläger hätte zuvor persönlich angehört werden müssen, wie er es in beiden Instanzen beantragt hatte. Es reicht nicht aus, daß der Kläger zur Frage seiner Prozeßfähigkeit schriftlich Stellung nehmen konnte und von der mündlichen Verhandlung am 29. Oktober 1991 benachrichtigt war. Dieser Terminsmitteilung hat das LSG ersichtlich selbst keine Bedeutung beigemessen. Im Protokoll ist lediglich die Feststellung enthalten, daß der besondere Vertreter des Klägers eine Terminsmitteilung erhalten hat. Das etwas verspätete Erscheinen des Klägers hat das LSG nicht zu einem Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung veranlaßt, obwohl es seine Entscheidung darauf gründen wollte, daß der Kläger prozeßunfähig sei. Da bei einer persönlichen Anhörung seine Prozeßfähigkeit möglicherweise bejaht worden wäre, läßt sich nicht entscheiden, ob das LSG zu Recht ein Prozeßurteil erlassen hat und ob nicht gegebenenfalls ein Sachurteil hätte ergehen müssen.
Die Feststellung der Prozeßunfähigkeit war nicht etwa schon aus formalen Gründen entbehrlich, solange der besondere Vertreter bestellt war. Der nach § 71 Abs 6 SGG entsprechend anwendbare § 53 Zivilprozeßordnung (ZPO) bestimmt zwar, daß auch eine prozeßfähige Person, die durch einen Pfleger vertreten wird, einer nicht prozeßfähigen Person gleichsteht. Der ” besondere Vertreter” iS des § 72 Abs 1 SGG – wie auch der besondere Vertreter nach § 57 ZPO – gilt aber nicht als “Pfleger” (oder seit 1. Januar 1992 auch “Betreuer”) iS des § 53 ZPO. Vielmehr kann neben diesem der von ihm vertretene angeblich Prozeßunfähige jederzeit selbständig geltend machen, er sei prozeßfähig (vgl Thomas/Putzo ZPO mit Gerichtsverfassungsgesetz 14. Auflage, § 57 Anm 3c zu § 57; BGH NJW 1966 S 2210). Tut er dies, wie im vorliegenden Fall, so muß er in dem Verfahren, in welchem seine Prozeßfähigkeit bezweifelt wird oder ihm abgesprochen werden soll, wenigstens einmal richterlich persönlich angehört werden.
Will ein Gericht dem Bürger das Recht absprechen, seine eigenen Angelegenheiten selbst zu ordnen, hat in aller Regel die persönliche Anhörung des Betroffenen vorauszugehen. Das gilt auch für die Feststellung der Prozeßunfähigkeit für ein einzelnes Gerichtsverfahren. Denn bereits diese Feststellung bedeutet einen erheblichen Eingriff in das Persönlichkeitsrechts des Verfahrensbeteiligten. Sie führt dazu, daß die von ihm persönlich vorgenommenen Prozeßhandlungen zumindest im laufenden Verfahren als unwirksam zu behandeln sind und der Beteiligte mithin faktisch die Möglichkeit verliert, den gegebenenfalls für seine Existenz entscheidenden Rechtsstreit überhaupt oder jedenfalls in der Weise zu führen, die er für richtig hält. Insbesondere verliert der Beteiligte die Möglichkeit, einen Prozeßbevollmächtigten seiner Wahl zu bestellen, und muß sich ggf die Vertretung durch einen vom Gericht ausgesuchten besonderen Vertreter (§ 72 Abs 1 SGG vgl auch § 57 ZPO) gefallen lassen. Bei dieser Bestellung handelt es sich um eine vorläufige Regelung innerhalb des Verfahrens, deren Voraussetzungen nach dem Wortlaut der Vorschrift die Bestellung eines Vormundes oder Betreuers rechtfertigen würden. Denn sie ist für den Fall vorgesehen, daß der Beteiligte prozeßunfähig ist, dh sich nicht mehr durch Verträge verpflichten kann (§ 71 Abs 1 SGG), weil er sich in einem nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (§ 104 Nr 2 BGB). Die Bestellung eines besonderen Vertreters strahlt wegen ihrer Voraussetzungen auch auf die Teilnahme des Verfahrensbeteiligten am bürgerlichen Rechtsverkehr aus, weil nicht auszuschließen ist, daß aus der Verneinung seiner Prozeßfähigkeit und den entsprechenden prozessualen Folgen Schlußfolgerungen auf seine Geschäftsfähigkeit im bürgerlichen Rechtsverkehr gezogen werden. Aber schon wegen der schwerwiegenden Auswirkungen im einzelnen anhängigen Verfahren rechtfertigt sich das Erfordernis der persönlichen Anhörung des Betroffenen vor Feststellung seiner Prozeßunfähigkeit (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S 234k I und Bundesverwaltungsgericht, DVBl 1963, 249) ähnlich wie bei der Vorbereitung einer Entmündigung nach dem bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Recht (vgl dazu § 654 ZPO aF und Albers in Baumbach/Lauterbach, Albers/Hartmann Zivilprozeßordnung 49. Aufl Anm 1 zu § 654, auch § 64a FGG aF für die Unterbringung nach § 1800 BGB aF).
Inzwischen wird diese Auffassung bekräftigt durch die zum Schutz der volljährigen Personen erlassenen Vorschriften, für die ein Betreuer iS der ab 1. Januar 1992 geltenden §§ 1896 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nF idF des Betreuungsgesetzes vom 2 September 1990 (BtG – BGBl I S 2002) zu bestellen ist. Ein Betreuer darf nach diesen Vorschriften – auch für einen begrenzten Aufgabenkreis (§ 1896 Abs 2 BGB nF) – nur bestellt werden, wenn der Betroffene zuvor persönlich angehört wurde (§ 68 Abs 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ≪FGG≫ idF des BtG). Dies gilt nur dann nicht, wenn nach ärztlichem Gutachten von der persönlichen Anhörung erhebliche Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen zu besorgen sind oder der Betroffene nach dem unmittelbaren Eindruck des Gerichts offenbar nicht in der Lage ist, seinen Willen kundzutun (§ 68 Abs 2 FGG nF). Auf seinen Wunsch soll der Betroffene im Verfahren nach § 68 FGG sogar in seiner üblichen Umgebung angehört werden (§ 68 Abs 1 Satz 2 FGG nF), woraus sich ein Hinweis darauf ergibt, daß der Gesetzgeber bei der Prüfung der Prozeßfähigkeit auch den Wünschen des Betroffenen Bedeutung beimißt. Die Anhörung wird dabei vom Gesetzgeber als Voraussetzung dafür angesehen, daß sich das Gericht den gebotenen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen verschaffen kann. Sie verbindet das rechtliche Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) mit der Sachaufklärung (§ 12 FGG; § 103 SGG – vgl Knittel, Betreuungsgesetz Anm 3 zu § 68 FGG). Ihre Unverzichtbarkeit soll nicht nur das Verfassungsgebot des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) konkretisieren, sondern vor allem sicherstellen, daß das Gericht den für seine Entscheidung bedeutsamen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen erhält (Einzelbegründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks 11/4528 S 172 ff). Zudem dient sie dem Schutz des Betroffenen vor etwaigen unlauteren Machenschaften (vgl Albers aaO).
Das LSG hat diese Verfahrenserfordernisse nicht beachtet. Es hat den Kläger selbst nicht angehört. Es konnte sich auch nicht auf das Ergebnis einer Anhörung durch das erstinstanzliche Gericht stützen. Denn auch das SG hat den Kläger nicht angehört. Der Rechtsstreit muß daher an das LSG zurückverwiesen werden, damit dieses Gelegenheit erhält, die entsprechenden Feststellungen in verfahrensfehlerfreier Weise zu treffen oder ggf ein Sachurteil zu erlassen.
Die Kostenentscheidung ist der Endentscheidung vorzubehalten.
Fundstellen
NJW 1994, 215 |
Breith. 1994, 168 |